Deregulierter Handel und internationale Solidarität

22. Oktober 2018

In den Diskussionen über CETA, TTIP und einen angeblich drohenden „Handelskrieg“ überschneiden sich Politik und Wirtschaftswissenschaft. Die traditionelle neoklassische Volkswirtschaftslehre betrachtet „freien Handel“ als „Einbahnstraßen-Mechanismus“, bei dem die Wohlfahrt aller Beteiligten direkt mit dem Handelsvolumen steigt. Die Realität sieht aber weltweit anders aus. Viele fortschrittliche ÖkonomInnen haben sich kritisch mit den Grundlagen auseinandergesetzt: eine notwendige Basis, um eine solidarische Alternative zu formulieren.

Internationaler Wandel

In den mächtigen Wirtschaftsräumen der EU und der USA scheint ein Umdenken bezüglich der internationalen Freihandelsabkommen eingesetzt zu haben. In Europa engagierte sich vor allem die Zivilgesellschaft gegen das vorgeschlagene CETA-Abkommen mit Kanada und TTIP mit den USA, insbesondere wegen der Entdemokratisierung durch private Schiedsgerichte und dem drohenden Abbau von Standards. In den USA ist es die Rechte um Präsident Trump, die ihr Land durch die internationalen Abkommen benachteiligt sieht, und – vor allem gegen die EU und China – Handelsbarrieren (wieder) aufbaut.

Die letzte Umwälzung in der internationalen Handelspolitik war die Gründung der Welthandelsorganisation WTO. Die steht für das sogenannte „regelbasierte Handelssystem“, eine Serie von Verträgen und politischen Vorhaben, die eng mit der Globalisierung verwoben sind. Die rechtliche Grundlage dieses Systems ist das Meistbegünstigungsprinzip, das besagt, dass Unternehmen aus allen teilnehmenden Ländern ein Anrecht auf die vorteilhafteste Regelung haben, die bereits besteht. Es dürfen also im Prinzip keine vorteilhafteren Regelungen für einzelne Akteure getroffen werden, seien es nun besonders sozial, gesund und ökologisch produzierende Unternehmen im Inland oder HandelspartnerInnen aus ökonomisch besonders schwachen Ländern. Die Strategie dahinter ist ein schrittweiser Abbau von allen scheinbaren oder tatsächlichen Barrieren für den grenzüberschreitenden Handel oder von Investitionen.

Daran gab es viel und berechtigte Kritik. Die Globalisierung war ein Türöffner für die Privatisierung und den Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten in vielen Ländern, vor allem im globalen Süden. 2016 kam sogar ein vom Internationalen Währungsfonds veröffentlichter Aufsatz zu folgendem Schluss: Das dadurch erzielte Wirtschaftswachstum war schwächer als erwartet, hat die Ungleichheit verschärft und dadurch ein nachhaltiges Wachstum gefährdet.

Sind sich linke GlobalisierungskritikerInnen und der nationalistische amerikanische Präsident also einig? Das Problem mit dieser Fragestellung ist nicht nur, dass sie eindeutig bestehende Unterschiede verwischt. Sie fällt auch auf eine Vereinfachungsfalle herein, an der die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft nicht unschuldig ist. Fragen des internationalen Handels sind aber weder eindeutig noch eindimensional.

Grundlagen und grundlegende Probleme in der Wirtschaftswissenschaft

Fragen von Handel und Warentausch sind im Kapitalismus so wichtig, dass sie schon in einer populären Bezeichnung für das Wirtschaftssystem enthalten sind: Marktwirtschaft. Schon bei klassischen AutorInnen ist dieser Gedanke zentral. Sein Handelsmodell vom komparativen Kostenvorteil wird oft als das Herzstück von David Ricardos Schaffen gesehen. Adam Smith baut fast sein ganzes Werk auf der Erkenntnis auf, dass zunehmende Arbeitsteilung für mehr Effizienz und mehr Wachstum sorgt. Das gilt auch für die internationale Arbeitsteilung.

Ein anderer Effekt wird aber dezidiert nicht auf die internationale Ebene umgelegt: Dass sich im Wettbewerb die Stärkeren gegen die Schwächeren durchsetzen. In Ricardos Modell wird das explizit angesprochen, die Preisbildung auf Grundlage von Produktionskosten gilt innerhalb nationaler Grenzen, aber nicht auf dem Weltmarkt. Die moderne, neoklassische Version dieser Theorie ist das Heckscher-Ohlin-Modell. Da gibt es von Anfang an keine Kostenunterschiede in der Produktion, aber auch die verbleibenden „normalen“ Folgen von verschärftem Wettbewerb verschwinden, sobald es um internationale Spezialisierung geht. Stattdessen führen unregulierter Wettbewerb und internationale Zahlungsbilanzen immer zu ausgeglichenen Handelsbilanzen. Das würde ein automatisches „Aufholen“ von Ländern bedeuten, die teurer oder weniger effizient produzieren.

ÖkonomInnen wie Anwar Shaikh heben nun die Unterscheidung zwischen nationalen und internationalen Märkten auf und argumentieren, dass auf dem Weltmarkt Firmen und nicht Nationen miteinander konkurrieren. Er betont, dass genauso wie innerhalb eines Landes unregulierter Wettbewerb dazu führt, dass stärkere Firmen größere Marktanteile haben, es sich auch international verhält. Wenn in einem Land Firmen in vielen Bereichen günstiger produzieren als in einem anderen, würden sie sich im direkten Wettbewerb durchsetzen. Das würde bedeuten, dass insgesamt mehr Waren aus dem ersten ins zweite Land fließen würden, ein anhaltendes Handelsdefizit.

Zahlungsbilanzen würden die Handelsbilanzen nicht ausgleichen, sondern Importländer müssten sich beständig Geld ausborgen. Anhaltend unausgeglichene Handelsbilanzen und Schuldenfallen sind die Folge. Diese Dynamiken können auch statistisch beobachtet werden – ein Ausgleich ist eher die Ausnahme. Der internationale Handel funktioniert nicht nach den automatisch harmonisierenden Gesetzen aus den Lehrbuchbeispielen.

Verteilungs- und Wachstumseffekte

Tatsächlich anfallende Gewinne müssen auch verteilt werden. Weniger Zölle oder Kapitalverkehrskontrollen machen es für Firmen einfacher, die Produktion ins Ausland zu verlegen und trotzdem auf heimischen Märkten zu verkaufen. Dafür werden von UnternehmerInnen oft zu hohe Lohn- und Lohnnebenkosten oder Steuern ins Feld geführt.

Zölle und Importregulierungen haben hier eine doppelte Rolle. Auf der einen Seite sind sie Steuerungsmechanismen des Staates gegenüber Unternehmen, so wie Steuern und rechtliche Standards im Inland. Mit zunehmendem Abbau fällt auch die Durchsetzungsfähigkeit in Bezug auf Unternehmen weg.

Auf der anderen Seite bedeutet ein weitgehend zollfreier Warenverkehr und Abbau von Kapitalkontrollen, dass die Produktion einfacher ins Ausland verlagert werden kann. Das kann zu einer Abwärtsspirale bei Steuern und Regulierungen führen, wenn einzelne Staaten gegeneinander ausgespielt werden. Dasselbe gilt für Löhne, wenn ArbeitnehmerInnen vor die Wahl zwischen geringerer Bezahlung oder Produktionsauslagerung gestellt werden. Auf jeden Fall verschiebt sich die Macht weg von den ArbeitnehmerInnen und hin zu den Unternehmen.

Das macht eine für ArbeitnehmerInnen wünschenswerte Verteilung der Gewinne, zum Beispiel durch ein starkes Sozialsystem oder höhere Löhne, unwahrscheinlicher. Der Hauptgrund dafür ist, dass Unternehmen einfach transnational agieren können, während sozialstaatliche und gesellschaftliche Regelungen fast immer an den Nationalstaat gebunden sind.

Das impliziert auch eine Verschiebung der Einkommensverteilung weg von Arbeits- und hin zu Kapitaleinkommen. Geringere Löhne bedeuten zunächst einmal höhere Unternehmensgewinne. Oft ist die Folge aber auch geringere Konsumnachfrage: ein Hindernis für nachhaltiges Wachstum. Auch deshalb werden in Studien zu Freihandelsabkommen oft sehr geringe oder sogar negative Wachstumseffekte festgestellt. Verteilung und Wachstum hängen eng zusammen.

Machtverschiebungen und Entwicklungspolitik

Oft wird der Abbau von Handelsbarrieren als Weg zu einer ausgeglichenen internationalen Entwicklung und als Weg für Entwicklungsländer aus der Armutsfalle dargestellt. Wenn aber die Modellannahme von der einfachen Annahme, dass weniger Handelsbarrieren ausgeglichenes Wachstum und Wohlstand bedeuten würden, nicht hält, kann das Gegenteil der Fall sein. Anhaltende Abhängigkeiten und Verlust der eigenen Ressourcen sind Probleme, die in der Diskussion über die Globalisierung immer wieder genannt werden.

Die Geschichte zeigt, dass es die heute mächtigsten Länder nicht im ungehinderten Handel an die Spitze gebracht haben. Der Wirtschaftshistoriker Ha-Joon Chang weist darauf hin, dass sowohl England als auch die USA sich hinter hohen Zollbarrieren und gezieltem Protektionismus zur Wettbewerbsfähigkeit entwickelt haben. Das war auch eine gezielte und benannte Politik des Schutzes von sich noch entwickelnden Industrien. Gerade diese Länder „verschreiben“ Entwicklungsländern Deregulierung und internationale Öffnung. Chang bezeichnet das wahlweise als „Mach, was ich sage, nicht was ich tue“ oder „Die Leiter wegtreten, wenn man oben angekommen ist.“

Für eine effektive Entwicklungspolitik braucht es mehr als formelhafte Bekenntnisse zum Freihandel und die Hoffnung, dass der Markt Einkommensunterschiede ausgleichen würde. Dazu ist Handelspolitik gar nicht imstande, so einen Automatismus gibt es nicht. Dafür sind eine solidarische Wirtschaftspolitik mit Fokus auf ArbeitnehmerInnen und soziale Rechte, gezielte Industriepolitik und eine transnationale Zusammenarbeit der ArbeiterInnenbewegung notwendig.

Schlussfolgerungen

Die wirtschaftspolitischen Debatten zum internationalen Handel und den entsprechenden Abkommen werden oft auf Basis wirtschaftswissenschaftlicher Modelle geführt, die wichtige Aspekte außer Acht lassen. Tatsächlich sprechen weder statistische Untersuchungen noch wirtschaftsgeschichtliche Analyse dafür, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen unreguliertem Handel, Wachstum und Wohlstand gibt.

Eine fortschrittliche Alternative sollte darauf aufbauen, dass nicht nur Effizienzgewinne, sondern auch Wettbewerbsdynamiken auf die internationale Ebene umgelegt werden. Es ist außerdem wichtig, mehr Variablen als das sehr abstrakte Handelsvolumen zu betrachten: zum Beispiel Reallöhne, Beschäftigung und Einkommensverteilung. Das bietet die Grundlage für eine Analyse der negativen Auswirkungen der Globalisierung wie Schuldenfallen, anhaltende Ungleichheiten zwischen Ländern und zwischen Lohn- und Kapitaleinkommen.

Es ist wichtig anzuerkennen, was deregulierter Handel kann, und was nicht. Für Industrie-, Sozial-, Umwelt- und Verteilungspolitik braucht es zumindest zusätzliche Elemente. Im Eigeninteresse der ArbeitnehmerInnen muss diese Politik auf Basis internationaler Solidarität und transnationaler Zusammenarbeit gestaltet werden. Als Erfolgsmaß kann nicht das Handelsvolumen, sondern die Entwicklung der Reallöhne, der Ausbau des Sozialstaats, die Auswirkungen auf die Umwelt und der Aufbau von Gemeinschaftsgütern verwendet werden.

Das bedeutet auch, die im Raum stehenden Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP kritisch zu bewerten und in der vorgeschlagenen Form abzulehnen. Sich im Nachhinein um eine Abfederung der Auswirkungen zu kümmern, wird schwierig, wenn Machtverschiebung und Verteilung der Gewinne zugunsten der Unternehmen von Beginn an festgeschrieben ist.

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version des ausführlicheren Editorials der soeben erschienenen Ausgabe 3/2018 der Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“.