Arbeit(szeit), Leben und Freiheit

12. Januar 2022

Trotz rückläufigen Arbeitsvolumens in der Pandemie werden Millionen Überstunden geleistet. Bei der Arbeitszeit hat (nicht nur) Österreich Spielraum nach unten. Die Pandemie hat die Work-Life-Balance im Privaten wie in der Arbeit verschlechtert. Daher in Zukunft: kurze Vollzeit für alle, denn Arbeitszeit ist Lebenszeit.

Um ein Viertel produktiver – Arbeit als Quelle allen Reichtums

Schon der Philosoph John Locke wusste: Arbeit ist die Quelle allen Reichtums. Und diese Quelle sprudelt: 2020 wurde mit einer in Österreich geleisteten Arbeitsstunde ein um ein Viertel (+25 Prozent) höherer realer Wert geschaffen als zwei Jahrzehnte früher (eigene Berechnungen, Datenbasis Statistik Austria). Das WIFO-Radar der Wettbewerbsfähigkeit platziert Österreichs Arbeitsproduktivität im europäischen 30-Länder-Vergleich aktuell an neunter Stelle, rund drei Viertel der Länder sind weniger produktiv.

Gesamtwirtschaftlich haben wir also Spielraum, wenn die (vor und nach der Pandemie) gemachten Produktivitätsfortschritte adäquat in Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen umgesetzt werden. Doch während mithilfe der Gewerkschaften etwa für Apothekenhilfspersonal und pharmazeutische AssistentInnen eine steuerfreie Prämie von 2.000 Euro oder für Beschäftigte in der Sozialwirtschaft eine auf 37 Stunden verkürzte Wochenarbeitszeit erreicht wurde, wird vielen in anderen Branchen trotz außergewöhnlicher Arbeitsleistung Vergleichbares noch verwehrt. Dabei weiß doch jedes Kind, wie es der Vielfach-Gelehrte Karl Marx prägnant ausdrückte, dass „jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte“.

Knapp 1.730 Jahres-Arbeitsstunden – weniger geht auch

Mit 1.728 Stunden hat Österreich eine höhere durchschnittliche kollektivvertragliche (Voll-)Jahres-Arbeitszeit (Eurofound) als der EU-27-Schnitt und hat somit Verkürzungsspielraum nach unten. Beim EU-Ländervergleich rangiert Österreichs Haupthandelspartner Deutschland mit weniger als 1.600 Stunden am unteren Ende der Skala:

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Eine Viertelmilliarde nicht abgegoltene Überstunden

Österreichs lohnabhängig Beschäftigte haben 2020 insgesamt rund 6,5 Billionen Arbeitsstunden erbracht, krisenbedingt rund ein Zehntel weniger als 2019. Selbst im Pandemiejahr haben aber rund 592.800 ArbeitnehmerInnen, also etwa 16 Prozent, Woche für Woche Über- und Mehrstunden geleistet. Vom gesamten Überstundenvolumen in Höhe von rund 216 Millionen Stunden wurden 14 Prozent nicht bezahlt (weder durch Geld bzw. Zuschläge noch durch Zeitausgleich). Bewertet mit einem mittleren Stundensatz plus Überstundenzuschlag von 50 Prozent entsprach das 2020 zur Gänze unabgegoltene Überstunden-Jahresvolumen etwa einer Viertelmilliarde (rund 720 bis 760 Millionen) vorenthaltenen Euro Lohn. Allein die nicht bezahlten Überstunden entsprachen 2020 etwa 17.500 Vollzeit-Jobs (eigene Berechnungen; Datenbasis: Statistik Austria).

Arbeitszeit ist Lebenszeit – hohe Belastung in der Pandemie

Laut einer europaweit durchgeführten Eurofound-Erhebung hat sich die Work-Life-Balance der EuropäerInnen seit Pandemiebeginn deutlich verschlechtert. Im Frühjahr 2021 fühlten sich drei Viertel (72,3 Prozent) der in der EU Lebenden zu müde, um nach der Arbeit notwendige Haushaltsaufgaben zu erledigen, zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 waren es knapp 58 Prozent. Auch in Österreich kann von „Balance“ nicht die Rede sein: Im Frühjahr 2020 war fast jede/r Zweite (47,7 Prozent) der in Österreich Lebenden durch die Erwerbsarbeit zu geschafft für den Haushalt daheim. Im Jahr darauf waren es bereits zwei Drittel (66,3 Prozent):

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Die schwierige ökonomische, soziale, schulische und familiäre Lage (Homeschooling, Homeoffice, geschlossene Kinderbetreuung etc.) wirkt sich auch auf die Arbeit aus: Seit Pandemiebeginn kann sich jeder bzw. jede dritte EuropäerIn (33,6 Prozent Frühjahr 2020, 30,9 Prozent Sommer 2021, 31,6 Prozent Frühjahr 2021) wegen familiärer Verpflichtungen nicht auf die Arbeit konzentrieren! Ähnlich in Österreich, wo dies auf knapp 30 Prozent zutrifft:

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Drei Tage mehr Urlaub durch Kollektivverträge – Muße als Ziel der Arbeit

Eine ausgewogene Gestaltung von Arbeits- und Freizeit ist die Basis für ein gesundes, freudvolles Leben. Schon der altgriechische Philosoph Aristoteles wusste: „Das Ziel der Arbeit ist die Muße, die Muße ist die Schwester der Freiheit.“ Freiheit schaffen Kollektivverträge, indem sie im europäischen Schnitt drei Tage mehr Urlaub erreichen. Esther Lynch vom Gewerkschaftsverband ETUC kritisiert aber, dass zu viele ArbeitnehmerInnen wegen Austeritätspolitik, „Union busting“-Taktiken und mangelndem Tarifschutz ihren Sommerurlaub kürzer ausfallen lassen mussten.

Gender Time Gap – Verbesserungsbedarf!

Österreich hat viel Verbesserungsbedarf. Insbesondere im Gesundheitswesen mit häufig langen Arbeitstagen haben wir Bedarf für eine bessere Work-Life-Balance. Denn überlange Arbeitstage (zehn Stunden oder mehr) sind im Gesundheitswesen für rund ein Viertel der Beschäftigten (25 Prozent) ein- bis zweimal bzw. mehr als zweimal die Woche Realität. Gefolgt von der öffentlichen Verwaltung/Sozialversicherung mit 23 Prozent Betroffenen, Verkehr/Transport mit 22 Prozent sowie Bau mit 20 Prozent (Datenquelle: Arbeitsklima Index, IFES, AK OÖ, Juli 2019 bis September 2020).

Will Österreich wirtschaftlich erfolgreicher, sozial besser und auch geschlechtergerechter werden, muss es seine Arbeitszeit-Standards feintunen. Das ist auch ein Ergebnis im WIFO-Radar, wonach Österreich einen der höchsten Gender-Gaps bei der Beschäftigung aufweist (die um die Arbeitszeit bereinigte Beschäftigungsquote der Frauen im Haupterwerbsalter ist um 20 Prozentpunkte niedriger als jene der Männer) – rund drei Viertel der anderen europäischen Vergleichsländer sind hier besser.

Vorbild Island – das Reich der Freiheit beginnt

Eine generelle Arbeitszeitverkürzung hat viele positive Wirkungen. Sie erleichtert die Angleichung der Arbeitszeiten zwischen Männern und Frauen, bremst Arbeitslosigkeit und hat durch die höhere gesamtwirtschaftliche Produktivität hohe Selbstfinanzierungseffekte. Das zeigt das weltweit größte Experiment in Island mit seiner Reduktion der Wochen-Vollarbeitszeit um rund ein Zehntel bis ein Achtel von 40 auf 35 bzw. 36 Stunden für 1,3 Prozent seiner Erwerbsbevölkerung.

Wie Marx schon wusste, beginnt „das Reich der Freiheit da, wo Arbeit aufhört“. Das auf Druck von Gewerkschaften und Zivilbevölkerung gestartete Experiment wurde zum Katapult für mehr Freiheit, für eine nunmehrige kollektive Arbeitszeitverkürzung. Beginnend mit ein paar Dutzend, ausgeweitet auf bis zu rund 3.000 Beschäftigte während des vierjährigen Experiments, konnten die isländischen Gewerkschaften in der privaten und öffentlichen Wirtschaft danach bis dato für 170.000 Gewerkschaftsmitglieder (rund 86 Prozent der 197.000 starken Erwerbsbevölkerung) eine effektive Arbeitszeitverkürzung bzw. die Möglichkeit dazu ausverhandeln!

Liebe, Arbeit und Wissen – yes, we care!

Demokratisieren wir die ökonomischen Fragen der Arbeit, definieren wir den Arbeitstag neu. Gewerkschaften und Betriebsräte muss dabei mehr Gestaltungsmacht zukommen. Die Eckpunkte:

  • Kurze Vollzeit für alle – moderne Formen der Arbeitszeitverkürzung, Beispiele:
    • Recht auf regelmäßige 4-Tage-Woche (mit verkürzter Arbeitszeit)
    • „Familienarbeitszeit“ (Förderung, wenn beide Elternteile zwischen 28 und 32 Stunden arbeiten)
    • Leichtere Erreichbarkeit der 6. Urlaubswoche
  • Abbau und gerechte Bezahlung von Überstunden:
    • vom Unternehmen zu zahlender Euro pro Überstunde
    • Strafen bei Nichtbezahlung

Statt Ellenbogen, Arbeitslosigkeit und Online-Fake: „Liebe, Arbeit und Wissen sind die Quellen unseres Daseins. Sie sollen es auch regieren“ (Wilhelm Reich). Ja, wir kümmern uns – auch um unsere Angelegenheiten: Yes, we care! Denn Arbeitszeit ist Lebenszeit.

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