Wem die neuen (Anti-)Bürokratie-Pläne in Österreich und der Europäischen Union nützen
Das Schlagwort „Bürokratie“ und seine Abwandlungen erfreuen sich bei vielen PolitikerInnen seit einigen Jahren zunehmender Beliebtheit. Gleich 19-mal findet sich dieser Begriff in der Regierungsübereinkunft der türkis-grünen Koalition. Auf EU-Ebene ist die Aufforderung, gegen „unnötige Verwaltungslasten“ vorzugehen, sogar im Kommissionsarbeitsprogramm festgehalten. Doch worum geht es der neuen Regierung und der Kommission eigentlich, wenn sie von Bürokratie reden?
Die „Gold Plating“-Initiative der türkis-blauen Regierung
Bereits 2018 sah die Koalition aus ÖVP und FPÖ Maßnahmen zur Bekämpfung vermeintlich übermäßiger Bürokratie vor und startete eine sogenannte „Gold Plating“-Initiative. Dabei geht es um nationale Gesetze, die EU-Recht ergänzen. Regelmäßig enthalten diese Schutzvorschriften für ArbeitnehmerInnen, KonsumentInnen und die Umwelt, die höhere Standards vorsehen, als sie das EU-Recht enthält. Mit der Streichung derartiger „Gold Plating“-Bestimmungen sollte laut Regierungsprogramm Bürokratie minimiert und die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden.
Nach dem Aufruf der Regierung lieferten insbesondere Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer Österreich eine Reihe von Überlegungen, welche nationalen Regelungen aus ihrer Sicht unter dem Titel „Gold Plating“ gestrichen werden könnten. Die Ideen: Reduktion des Jahresurlaubs auf 4 Wochen, Streichung der Überstundenzuschläge, Aushöhlung der Arbeitsschutzbestimmungen, Reduktion der Fahrgastrechte und Beseitigung des erhöhten Kündigungsschutzes für Schwangere und Behinderte.
Die Regierung musste schließlich zurückrudern, nachdem Arbeiterkammer und Gewerkschaften sowie Nichtregierungsorganisationen die Öffentlichkeit über die Gedankenspiele bezüglich „Gold Plating“ informierte. Der damalige Justizminister Josef Moser räumte schließlich ein, dass es keinen Abbau von Sozial- und Umweltstandards geben werde. Das Projekt fand schließlich mit dem „Ibiza-Skandal“ und dem darauffolgenden Ende der Regierungskoalition ein jähes Ende.
Die Pläne der türkis-grünen Koalition
Der Begriff des „Gold Plating“ findet sich auch im Regierungsübereinkommen der ÖVP mit den Grünen wieder – in dem 326 Seiten umfassenden Papier jedoch nur dreimal und in deutlich abgeschwächter Form. Demnach soll eine „nachteilige“ Übererfüllung von EU-Regeln bei der nationalen Umsetzung vermieden werden – allerdings unter Berücksichtigung von Schutznormen aus dem Sozial- und Umweltbereich, wobei ArbeitnehmerInnenschutzbestimmungen extra angeführt werden. Bezüglich der KonsumentInnenschutzstandards findet sich zwar die Erwähnung, dass die hohen österreichischen Standards beibehalten werden sollen, „unnötige Mehrausgaben für Unternehmen“ sollen jedoch vermieden werden.
Im Zentrum steht nun die Bekämpfung von Bürokratie. Dabei wird der Begriff eher weit ausgelegt: Es soll eine „Bürokratiebremse“ geben, „damit Regulierung keinen Selbstzweck“ darstelle (S. 14). Was damit genau gemeint ist, bleibt jedoch der Fantasie der LeserInnen überlassen. Erst bei einem näheren Blick in das Regierungsprogramm wird deutlich, was die Regierung unter Bürokratieabbau versteht: Konkret angesprochen werden Pflichten für Unternehmen wie die Reduzierung von Informations-, Melde- und Aushangpflichten, Vereinfachungen am Kapitalmarkt und im Lebensmittelsektor. Damit hat sich die Zielrichtung gegenüber der türkis-blauen Regierung nur wenig geändert. Verbesserungen für die Bevölkerung sind unter den Titeln „Gold Plating“ und Bürokratieabbau auf den ersten Blick nicht zu finden.
Alarmierend ist die Forderung von Türkis-Grün, für das EU-Recht eine sogenannte „Sunset Clause“ vorzusehen. Demnach sollen EU-Richtlinien und -Verordnungen mit einem Ablaufdatum versehen werden und ungültig werden, sofern keine Verlängerung der Regel beschlossen wird. Das würde beispielsweise im Falle des KonsumentInnenschutzes dazu führen, dass sich VerbraucherInnen nach Ablauf der Gültigkeit einer KonsumentInnenschutzregel nicht mehr auf ihre Rechte aus dieser EU-Regelung berufen könnten. Für Unternehmer in diesem Fall ein Vorteil, KonsumentInnen hingegen zahlen drauf.
Die Europäische Kommission und das „One in, one out“-Prinzip
Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits vor Beginn ihrer Amtszeit als nominierte Kommissionschefin über ihre Prioritäten informiert. In 26 Schreiben (Mission Letters) an die EU-KommissarInnen stellte sie die jeweiligen Aufgaben der (künftigen) VertreterInnen des Kollegiums dar. Eine Forderung stellte sie bei allen Aufgabenbeschreibungen ins Zentrum: Für einen neuen EU-Rechtsakt soll ein alter gestrichen werden. Gemäß diesem „One in, one out“-Prinzip sollen laut Kommission im Falle neuer gesetzlicher Belastungen im Gegenzug alte gesetzliche Belastungen im selben Politikfeld gestrichen werden. Das Prinzip wird auch im neuen EU-Kommissionsarbeitsprogramm, das Ende Januar 2020 veröffentlicht wurde, nochmals hervorgehoben.
Die Kommission beteuert zwar, dass es um die Vermeidung zusätzlicher Belastungen für Menschen und Unternehmen gehe. Bei manchen EU-Rechtsakten wird sicher auch eine Entlastung von Menschen möglich sein; in der Praxis dürften es jedoch vor allem Pflichten für Unternehmen sein, die im Zentrum stehen und die mit dem neuen Prinzip wegfallen könnten. Diese Pflichten auf Unternehmerseite bedeuten wiederum Rechte, Erleichterungen oder Vorteile für Beschäftigte, KonsumentInnen oder die Umwelt. Das Wechselspiel von Rechten und Pflichten zwischen einzelnen Gruppierungen erwähnt die Kommission jedoch nicht.
In der Praxis heißt das „One in, one out“-Prinzip nichts anderes, als dass beispielsweise für eine neue Richtlinie zum ArbeitnehmerInnenschutz, die Pflichten für Unternehmen enthält, eine andere Richtlinie aus diesem Bereich gestrichen werden muss. Dadurch könnten andere wichtige Rechtsnormen im Bereich des ArbeitnehmerInnenschutzes in Gefahr geraten und für neue Richtlinien und Verordnungen „geopfert“ werden. Fortschrittliche Maßnahmen werden damit in vielen Bereichen maßgeblich erschwert beziehungsweise sogar unmöglich gemacht. Die Kommission zeigt damit wieder einmal, dass ihr das Wohl einiger Konzerne offenbar wichtiger ist als die Bedürfnisse der Bevölkerung.
Kommissionspräsidentin von der Leyen hat jedoch noch eine weitere Forderung gegenüber ihren KommissarInnen: Bei der Umsetzung von EU-Recht in die nationalen Rechtsordnungen soll sichergestellt werden, dass damit keine „unnötigen zusätzlichen Verwaltungslasten“ entstehen. Damit dürften das weiter oben angesprochene „Gold Plating“ gemeint sein und die Möglichkeit des nationalen Gesetzgebers, zusätzliche Anforderungen, beispielsweise im KonsumentInnenschutz, festzuschreiben.
Unnötige Hürden und Zeitfresser für die Bevölkerung im Alltag
Mit welchen Hürden hat die Bevölkerung aber tatsächlich regelmäßig zu tun? Mühsame Behördenwege wie die Ausstellung eines neuen Reisepasses, die Anmeldung des neuen Autos oder die ArbeitnehmerInnenveranlagung? Früher aufwendig, heute jedoch oft schnell erledigte Angelegenheiten. Zudem geht es nicht um Angelegenheiten, die ständig erledigt werden müssen, sondern nur einmal im Jahr oder wie beim Reisepass gar nur alle zehn Jahre.
Der Aufwand für Behördenwege hat sich bei vielen Angelegenheiten in den letzten Jahren deutlich verringert, nicht zuletzt aufgrund von Vereinfachungen bei Verfahrensabläufen sowie der Digitalisierung.
Einen anderen Eindruck bekommen KundInnen aber mitunter bei der Erledigung ihrer Alltagsgeschäfte: Wer persönliche Beratung bei der Bank oder beispielsweise bei einem Telekom-Anbieter benötigt und deswegen zu einer der Filialen geht, muss oft erst einmal eine Nummer ziehen. Dieses Nummernsystem kann positiv sein, weil damit sichergestellt ist, dass sich niemand vordrängt. Es kann aber auch zu einem zeitraubenden Vergnügen werden, wenn das System lediglich einen zu geringen Einsatz an Beratungspersonal kaschieren soll.
Auch bei telefonischen Auskunftsversuchen kann es kompliziert werden. Meist landet der Konsument bei einem Tonband, je nach Unternehmen kann dieser Vorgang zu einem Sisyphos-Akt werden, der zudem mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden ist.
Wer sich bei seinen Einkäufen ein paar Euro sparen will, muss häufig erst einmal zahlreiche Daten wie Adresse, Geburtsdatum, E-Mail- und Telefonkontaktdaten etc. preisgeben, um am jeweiligen Kundenbindungsprogramm teilnehmen zu können. Oft folgt eine Flut an Werbung, die einen animieren soll, Punkte oder Pickerl zu sammeln, um dann für ein Produkt oder für einen Einkauf eine Ermäßigung zu bekommen. Ein ziemlich hoher Zeitaufwand für eine Ersparnis von einigen wenigen Euro im Monat. Für manche ein informatives (Werbe-)Erlebnis, für andere jedoch nur eines: ein erheblicher unnötiger Mehraufwand bzw. Bürokratie der anderen Art im Privatsektor.
Fazit: Die Wünsche der UnternehmerInnen zählen, die der Menschen (leider) nicht so sehr
Sowohl beim österreichischen Regierungsprogramm als auch beim Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission lässt sich eines ablesen: Nach wie vor dürften die Wünsche der Unternehmen ein höheres Gewicht bei den zuständigen EntscheidungsträgerInnen haben. Die Bedürfnisse von ArbeitnehmerInnen, KonsumentInnen und anderen Bevölkerungsgruppen haben das Nachsehen. Im Alltag wird immer deutlicher: Bürokratische Verhaltensweisen sind im öffentlichen Bereich immer seltener anzutreffen, während sie bei Kontakten mit Privatunternehmen in einigen Branchen immer häufiger zu beobachten sind. Hier wäre also jedenfalls noch sehr viel Handlungsbedarf gegeben.