Sozialhilfe, (un)sicherer Boden und guter EU-Rat

20. Februar 2023

Die Bezeichnung Sozialhilfe würde nahelegen, dass diese auf soziale Weise Hilfe bietet. Sie sollte ein menschenwürdiges Leben sicherstellen und gewährleisten, dass man nicht ins Bodenlose fällt, wenn man von einem Schicksalsschlag getroffen wird. Aber mit dem Sozialhilfe-Grundsatzgesetz von Türkis-Blau wurde diese Zielsetzung ausgehöhlt und teilweise ins Gegenteil verkehrt. Teuerung und Klimakrise verschärfen die Lage noch. Jetzt kommen neue Impulse von der EU zum Thema, und Österreich wäre gut beraten, diese am heutigen „Welttag der sozialen Gerechtigkeit“ aufzunehmen.

Österreichische Sozialhilfe: Sicherer Boden oder freier Fall?

Die Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung stellt die letzte Ebene im System der sozialen Sicherung dar. Ihre Aufgabe wäre es, ein würdiges Leben für alle in Österreich lebenden Menschen zu bieten – egal, was das Leben bringt. Denn es kann jedem passieren: Unfall, Krankheit, einen geliebten Menschen verlieren, eine Partnerschaft zerbricht oder man verliert den Arbeitsplatz. Die Sozialhilfe sollte der letzte sichere Boden sein, auf dem wir dann trotz allem landen können. Das ist leider spätestens seit 2019 nicht der Fall.

Dabei hätte es ein sozialpolitischer Meilenstein sein können: Erstmals in der Zweiten Republik hatte der Bund seine verfassungsrechtliche Kompetenz genutzt und ein Sozialhilfe-Grundsatzgesetz verabschiedet, das mit 2019 in Kraft trat. Davor hatte es nur jeweils zeitlich befristete Bund-Länder-Vereinbarungen gegeben. Doch statt mit dem Grundsatzgesetz fortschrittliche und zukunftsorientierte Vorgaben zu machen, setzte die damalige ÖVP-FPÖ-Bundesregierung auf radikale sozialpolitische Verschlechterungen.

Ein Sozialhilfe-Grundsatzgesetz der Verschlechterungen

Eigentlich sollte das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz ein garantiertes Minimum für alle festlegen. Doch statt Mindestsätze für ein menschenwürdiges Leben wurden Höchstsätze definiert, die die Bundesländer nur mehr unterschreiten, aber nicht mehr übertreffen dürfen. Damit wurde die Zielsetzung einer bundesweiten „Mindestsicherung“ auf traurige Weise ins Gegenteil verkehrt.

Dabei war schon zuvor das Niveau der Sozialhilfe zu niedrig. Die Höhe der Sozialhilfe richtet sich nach dem sogenannten „Ausgleichszulagenrichtsatz“ in der Pensionsversicherung. Für 2023 beträgt der Richtsatz 1.053 Euro netto – dieser wird in der Sozialhilfe nur zwölfmal im Jahr ausbezahlt (in der Pension 14-mal). Die Armutsschwelle lag aber bereits 2021 – also vor der Teuerungswelle – schon bei 1.371 Euro für eine:n Erwachsene:n und damit deutlich höher.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Zwei massive Verschlechterungen im Gesetz hat der Verfassungsgerichtshof bereits 2019 als verfassungswidrig erkannt: Zum einen die Regelungen der mit jedem Kind stark abnehmenden Höchstsätze für Kinder sowie die Anforderung nach einem Mindestniveau an Sprachkenntnissen in Deutsch oder Englisch. Beide Vorgaben wurden durch das Erkenntnis des VfGH unwirksam.

Lange Liste von Problemen in der Sozialhilfe

Weiterhin stellen sich aber folgende Probleme in der Sozialhilfe:

  • Für Menschen, die im selben Haushalt leben, gibt es maximal 70 Prozent des Ausgleichszulagenrichtsatzes für ASVG-Pensionen statt wie früher 75 Prozent.
  • Der Anteil aus den Wohnkosten wurde von 25 auf 40 Prozent angehoben. Können Wohnkosten nicht nachgewiesen werden, was in den zum Teil informellen Wohnverhältnissen oft nicht möglich ist, kann die Leistung um bis zu 40 Prozent gekürzt werden.
  • Für EU-Bürger:innen und Drittstaatsangehörige gelten noch strengere Regeln. Subsidiär Schutzberechtigte erhalten nur eine „Kernleistung“, die ein Drittel unter dem ohnehin niedrigen Richtsatz liegt.
  • Im gleichen Haushalt hat der/die Lebenspartner:in keinen eigenständigen Anspruch, selbst wenn mangels Ehe keine Unterhaltsansprüche bestehen. Die Folge ist ein Abhängigkeitsverhältnis zulasten der Frauen.

Kompliziertes, zu langwieriges Verfahren

Viele Anspruchsberechtigte scheitern bereits bei der Antragstellung. Die Europäische Kommission (EK) kritisiert in ihrer Analyse über die Wirksamkeit der Mindestsicherungssysteme in Europa, dass Österreich eines von wenigen EU-Ländern ist, in denen die maximale Wartezeit auf einen Entscheid länger als ein Monat ist. Tatsächlich sieht das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz hier gar keine Beschränkungen vor, womit die Frist von sechs Monaten aus dem Verwaltungsverfahren greift. Manche Bundesländer haben drei Monate vorgesehen.

Das Verfahren selbst ist oft kompliziert, die Antragsteller:innen müssen eine große Zahl von Nachweisen erbringen. Die oben genannte Analyse der EK weist darauf hin, dass Österreich zu den 16 EU-Mitgliedsstaaten gehört, wo zu viele Belege verlangt werden bzw. diese für die Antragesteller:innen teilweise zu schwierig oder zu kostspielig zu beschaffen sind.

Neben den bürokratischen Hürden schrecken auch aufgrund der häufig extrem negativen Berichterstattung in den Medien viele davor zurück, sich bitter benötigte Hilfe zu holen. Obwohl rund 1,5 Millionen Menschen in Österreich von Armut gefährdet sind, beziehen weniger als 200.000 Mindestsicherung oder Sozialhilfe.

Überraschende Verbesserungen – aber zu kleine Schritte

Im Frühjahr 2022 präsentierte der erst seit Kurzem im Amt befindliche Sozialminister Rauch Verbesserungen im Sozialhilfe-Grundsatzgesetz. Das umfasste, dass keine Anrechnung der Sozialhilfe bei pflegenden Angehörigen erfolgen darf und Einmalzahlungen (z. B. Covid-Härtefonds) nicht angerechnet werden dürfen. Vor allem die zweite Bestimmung hat vor dem Hintergrund der Teuerungsmaßnahmen stark an Bedeutung gewonnen.

Darüber hinaus gibt es optionale „Kann-Bestimmungen“, die den Bundesländern mehr Spielraum gewähren:

  • Wohngemeinschaften sollen nicht mehr wie Lebensgemeinschaften behandelt werden, womit höhere Richtsätze gelten.
  • Sonderzahlungen dürfen bei der Einkommensanrechnung von Aufstocker:innen unberücksichtigt bleiben.
  • Die Härtefallregelung kann auf subsidiär Schutzberechtigte mit humanitärem Bleiberecht ausgedehnt werden, damit sie auch in die Krankenversicherung kommen.

Wiewohl diese Verbesserungen erfreulich sind, sind sie keinesfalls ausreichend für eine zukunftstaugliche Ausgestaltung der letzten Ebene sozialer Absicherung. Restriktive Bundesländer wie Ober- oder Niederösterreich haben kaum Bedarf für Anpassungen.

Zu jung, zu alt, zu krank – warum das Potenzial für den Arbeitsmarkt gering ist

Entgegen dem öffentlich häufig gezeichneten Bild gibt es nur ein sehr eingeschränktes Potenzial, Sozialhilfe-Bezieher:innen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Mehr als die Hälfte der Bezieher:innen war nämlich einfach zu jung, also ein Kind oder Jugendliche:r; zu alt, also über dem Pensionsalter, oder hatte gesundheitlich so starke Einschränkungen, dass keine Arbeitsfähigkeit gegeben war. Eine weitere Gruppe konnte aufgrund von Pflege oder Betreuung in der Familie keine Beschäftigung aufnehmen.

Von jenen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, arbeitet jede:r Sechste. Auch sind die wenigsten Bezieher:innen ausschließlich auf die Mindestsicherung oder Sozialhilfe angewiesen: In 71 Prozent der Fälle war es nur eine Leistung zur Aufstockung eines anderen Einkommens (Arbeitseinkommen, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, …).

EU-Rat macht Sozialhilfe robust für Teuerung und Klimakrise

Die Teuerungskrise bestimmt schon jetzt das Leben vieler Menschen. Auch die Folgen der Klimakrise werden mit zunehmenden Hitzetagen, Dürren und Unwettern zunehmend spürbar. Zwar ist noch Zeit, den Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft zu bewältigen, aber die erforderlichen Umwälzungen sind gewaltig und gehen in alle Lebensbereiche. Für die anstehenden Herausforderungen ist es unabdingbar, auf der Ebene der grundlegenden Existenzsicherung einen sicheren Boden zu schaffen, auf dem alle den notwendigen Weg der Transformation gehen können. Dafür brauchen wir ein schlüssiges, transparentes und unbürokratisches System, in dem das Notwendige klar definiert wird. Die EU-Empfehlung des Rates für eine angemessene Mindestsicherung zur Gewährleistung einer aktiven Inklusion gibt in vielen Punkten die Richtung vor, in die es gehen müsste.

Die Einkommensunterstützung soll mit einer transparenten Methode festgelegt werden, wobei auch die Preisniveaus berücksichtigt werden sollen. Dieser Punkt ist zentral, denn die aktuellen Teuerungen verschärfen die sozial prekäre Lage vieler Menschen noch. Nach dem Konzept der „Einkommensarmut“ beträgt die Schwelle für einen Einpersonenhaushalt 1.371 Euro pro Monat für 2021. Laut Referenzbudget für 2022 sind jedoch 1.487 Euro nötig, um die lebensnotwendigen Ausgaben abdecken zu können – also 116 Euro mehr.

Geld ist nur die halbe Miete: Recht auf hochwertige soziale Dienste

Wichtig ist auch der Aspekt der Empfehlung, dass Sachleistungen Geldleistungen ergänzen sollen. Insbesondere soll der Zugang zu Leistungen wie Kindergärten, (Aus-)Bildung, Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege und Sozialwohnungen erleichtert werden. Darüber hinaus müssen „wesentliche“ Dienstleistungen wie Wasser-, Sanitär- und Energieversorgung, Verkehrsdienste, Finanzdienstleistungen und digitale Kommunikation in hoher Qualität sichergestellt werden.

Folgende weitere Punkte geben eine fortschrittliche Richtung für Mindestsicherungssysteme vor:

  • Zugang für alle Menschen in Not und ein Leben in Würde in allen Lebensabschnitten.
  • Schrittweise Anhebung der Einkommensunterstützung bis 2030 auf die nationale Armutsgefährdungsschwelle bzw. den Geldwert von notwendigen Gütern und Dienstleistungen. Die Höhe soll jährlich überprüft und ggf. angepasst werden.
  • Verringerung des Verwaltungsaufwands durch einfachere Antragsverfahren und schrittweise Anleitung für diejenigen, die eine solche benötigen.
  • Maximale Bearbeitungszeit für einen Antrag von 30 Tagen. Alternativ könnte ein Rechtsanspruch auf Spontanhilfe für die Dauer der Antragsbearbeitung vorgesehen werden.
  • Einfache, schnelle, unparteiische und kostenlose Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahren.
  • Eigenständige Möglichkeit zur Beantragung für (junge) Erwachsene und Menschen mit Behinderungen innerhalb eines Haushalts.
  • Unterstützung bei der Arbeitsaufnahme (durch Qualifizierung u.a.) mit dem Ziel hochwertiger Beschäftigung; Möglichkeit, befristet Einkommensunterstützung mit Arbeit zu kombinieren.
  • Einbindung der Sozialpartner, Organisationen der Zivilgesellschaft und Akteure der Sozialwirtschaft.

Armut europaweit abzuschaffen ist leistbar

Wie so oft in den letzten Jahren kommen Impulse für zukunftsorientierte Politikgestaltung von der EU. Österreich hat die gegenständliche Empfehlung im Rat mitverhandelt und beschlossen. Die Politik täte gut daran, diese auch umzusetzen, um der österreichischen Bevölkerung jenes Maß an sozialer Sicherheit zu geben, wie es für eines der reichsten Länder der Erde angemessen ist.

Auf EU-Ebene wäre der nächste Schritt, der unverbindlichen Ratsempfehlung eine verbindliche EU-Richtlinie folgen zu lassen. Das wäre auch dringend notwendig, um das Ziel, die Zahl der von Ausgrenzung bedrohten Menschen in der EU bis 2030 um 15 Millionen zu reduzieren, auch tatsächlich zu erreichen.

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Die EU – und damit auch Österreich – könnte es sich leicht leisten, Armut abzuschaffen. Laut Berechnung der EK würde das ambitionierteste Szenario ihrer Analyse – das der „Armutsbeseitigung“ – eine Erhöhung der Haushaltsausgaben um 133,3 Mrd. Euro oder 0,95 Prozentpunkte des EU-BIP erfordern. Demgegenüber sieht eine Studie über eine EU-weite Vermögenssteuer je nach Konzept ein Potenzial von 3 bis 11 Prozent des EU-BIP. Für Österreich ist die Finanzierbarkeit jedenfalls gegeben: Seit vielen Jahren betragen die Kosten für die Sozialhilfe nicht einmal ein Prozent der gesamten Sozialausgaben.

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