Das Verhalten der europäischen Akteure und Akteurinnen in der Zeitumstellungsdebatte ist symptomatisch für tieferliegende Probleme der Union. Statt EU-BürgerInnen zu grundlegenden Richtungsentscheidungen zu konsultieren, schmückt sich die Kommission mit einer Bürgerbeteiligung zu eher zweitrangigen Inhalten wie der Zeitumstellung. So wird sie die Begeisterung der Menschen vor den EU-Wahlen jedoch nicht zurückgewinnen.
Richtige Prioritätensetzung für die Zielgerade der EU-Legislaturperiode?
Als wir Ende Oktober den Zeiger eine Stunde zurückdrehten, haben wir dies vielleicht zum letzten Mal getan. Denn die viel diskutierte EU-Konsultation zur Zeitumstellung hat – auf den ersten Blick – ein klares Ergebnis gebracht: Mehr als 80 Prozent der TeilnehmerInnen wünschen sich die Abschaffung der Zeitumstellung. Kommissionspräsident Juncker schließt daraus: „Die Menschen wollen das, wir machen das.“ Hurra, es lebe die europäische Demokratie und die Beteiligung der BürgerInnen! Doch es genügt ein zweiter Blick, um zu erkennen, dass die Sache womöglich gar nicht so klar ist, wie die Schlagzeilen verlauten lassen. Im Gegenteil: Die Debatte, die es nun sogar in die letzte Rede zur „Lage der Union“ von Kommissionspräsident Juncker geschafft hat, lässt bedenklich tief blicken in das Demokratieverständnis der Union.
Hintergrund dafür, dass die Debatte nun in der politischen Tagesordnung so weit nach oben gerückt ist, sind die Ergebnisse einer Online-Befragung der EU-Kommission, an der die gut 500 Millionen europäischen BürgerInnen vom 4. Juli bis zum 16. August 2018 teilnehmen konnten. Tatsächlich abgestimmt haben 4,6 Millionen von ihnen, nicht einmal 1 Prozent der EU-Bevölkerung also. Noch viel bezeichnender ist jedoch die disproportionale Verteilung der TeilnehmerInnen auf die einzelnen Mitgliedstaaten: Von den Abstimmenden waren rund 3 Millionen Deutsche – das sind mehr als 65 Prozent der abgegebenen Stimmen. In anderen EU-Ländern war die Beteiligung dementsprechend deutlich geringer: In Italien und Rumänien nahmen nur jeweils verschwindende 0,04 Prozent der Menschen teil, in Österreich waren es immerhin 2,89 Prozent. Dieses Ergebnis als breite Zustimmung der BürgerInnen aller EU-Mitgliedstaaten für eine Abschaffung der Zeitumstellung zu interpretieren, wäre also vorschnell.
Selbst wenn die EU-Kommission ihren Vorstoß zur Abschaffung der gemeinsamen Sommerzeitregelung im EU-Parlament nun durchbringen sollte, bedarf das Projekt noch der Zustimmung des Rates und damit der nationalen Regierungen. Diese wiederum sind teilweise sehr skeptisch: Zum einen droht ein äußerst straffer Zeitplan für die interne Abstimmung, da die EU-Kommission eine Entscheidung noch vor den Europawahlen im Mai 2019 anstrebt. In den wenigen verbleibenden Monaten will sie aber auch noch viele andere prioritäre Projekte durchbringen, u.a. das EU-Budget, die Europäische Arbeitsbehörde und das Unternehmensrechtspaket.
Zum anderen fürchten die Mitgliedstaaten chaotische Zustände für den Zug- und Luftverkehr. Denn die gemeinsame Zeitumstellung soll nicht durch eine neue einheitliche Lösung ersetzt werden, sondern jedes Land soll für sich selbst entscheiden, welche Zeit es beibehalten will. Das passt zum allgemeinen Trend in der EU: Anstatt harmonisierte Regelungen anzustreben, um bspw. Steuer- und Sozialdumping innerhalb der Union einzudämmen, werden neue Konkurrenzlinien zwischen den Mitgliedstaaten geschaffen.
Gut gedacht, schlecht gemacht: wie sich Juncker um die Politikverdrossenen bemüht
Die EU-Kommission muss sich für ihr Vorgehen einige Fragen gefallen lassen: Ist eine nicht in den EU-Verträgen vorgesehene Konsultation wirklich die richtige Grundlage für politisches Handeln? Sie begeht hier wieder genau dieselben Fehler, die der EU in der Vergangenheit bereits Vertrauen gekostet haben: Lobbypolitik und zu starker Einfluss einzelner Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschlands. Hinzu kommt, dass die EU-Kommission mit der Konsultation ein alternatives „Verfahren“ bemüht hat, anstatt die Sache in einem ordentlichen Gesetzgebungsprozess zu lösen, wie es das EU-Parlament schon im Februar 2018 gefordert hatte. Im Gegensatz zur Kommission sprach sich das Parlament seinerzeit dafür aus, die Zeitumstellung abzuschaffen, um sie durch eine neue einheitliche EU-Regelung zu ersetzen. Nationales Klein-Klein – auf das nun alles hinausläuft – hätte es so nicht gegeben.
Weitaus schlimmer ist jedoch, dass das Verhalten der europäischen Akteurinnen und Akteure in der Zeitumstellungsdebatte symptomatisch ist für tieferliegende Probleme der Union: Die EU befindet sich spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 in einer ernsten Legitimitätskrise, auf die sie immer weniger gemeinsame Antworten zu finden scheint.
Die Politikverdrossenheit der europäischen BürgerInnen ist hierbei allerdings nicht die Ursache, sondern vielmehr eine Folge verfehlter Prioritätensetzung: Dass sich die BürgerInnen immer weniger mit der EU identifizieren, liegt wohl kaum an der Uhrzeit, sondern daran, dass die Diskrepanz zwischen Einkommen und Vermögen stetig größer wird. Europa war als Solidargemeinschaft konzipiert, die auch für die Schwächsten bessere Chancen schaffen und Sicherheit bieten sollte.
Nur mit einem „sozialen Antlitz“ können diejenigen, die der verführerische Diskurs der populistischen Rechten ködert, wieder mit ins Boot und damit an die Wahlurne geholt werden. Wer glaubt, dass eine Abstimmung über die Sommerzeit die Menschen wieder für das europäische Projekt begeistern kann, liegt falsch. Und dennoch: Wenn die Europa-Wahlen im nächsten Jahr den Abwärtstrend bei der Wahlbeteiligung (2014: 43 Prozent) stoppen sollen, muss das Thema BürgerInnenpartizipation wieder ganz oben auf die Agenda gesetzt werden.
Mehr „echte“ Demokratie wagen!
Es ist also wichtig, dass die EU-Kommission neue Wege zur Beteiligung der Zivilgesellschaft an den politischen Prozessen des Kontinents sucht. Doch dabei kommt es, wie so oft, vor allem auf das „Wie“ an. Die EU-Kommission sollte sich nicht auf wenig repräsentative Konsultationen verlassen, sondern die in den EU-Verträgen vorgesehenen demokratischen Mittel bemühen, um tragfähige Antworten durch die BürgerInnen zu erhalten. Die Unterstützung einer europäischen BürgerInneninitiative könnte im Sinne der Legitimität durch mehr Beteiligung ein Schritt in die richtige Richtung sein – bei den Themen Glyphosat und Wasserversorgung hat dieses Instrument zu einer Änderung von zwei umstrittenen Legislativvorschlägen geführt.
Entscheidend ist aber auch die Sachebene, auf der neue Wege zu Demokratie und Partizipation erprobt werden. Denn nichts wäre in der aktuellen „Polykrise“, wie Juncker sie 2016 bezeichnete, gefährlicher, als aus richtigen Problemanalysen die falschen Schlüsse zu ziehen. Der Kommissionspräsident selbst sprach in seiner Rede zur „Lage der Union“ all die Themen an, bei denen die EU tatsächlich und dringend tätig werden muss: u.a. eine neue Migrationspolitik, eine tiefgreifende Reform der Eurozone, die Belebung der Investitionstätigkeit und eine zukunftsorientierte Klimapolitik. Warum werden die EU-BürgerInnen nicht in diesen so entscheidenden Fragen eingebunden, sondern sollen ihre Meinung über die Zeitumstellung abgeben?
Man sollte der Kommission hier nicht per se böse Absichten unterstellen – es könnte sich auch um bedenkliche Unbedarftheit handeln. Eines muss Brüssel jedoch bewusst sein: Bei jeder Maßnahme, mit der die EU das Vertrauen der Menschen in die europäische Einigung zurückzugewinnen versucht, steht ihre schiere Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. BürgerInnenbeteiligung zu solch zweitrangigen Inhalten wie der Zeitumstellung wird die Begeisterung der Menschen nicht zurückzugewinnen, wo sie am wichtigsten ist: für eine Union, die mehr schafft als Sonderrechte für privilegierte Kreise.