Im November 2017 präsentierten die SpitzenvertreterInnen der EU-Institutionen die Europäische Säule sozialer Rechte. Das Dokument sollte eine Basis für die Weiterentwicklung der sozialen Dimension der EU darstellen. Doch nicht zuletzt angesichts höchst bedenklicher Entwicklungen in Ungarn und fehlenden Konsenses für große sozialpolitische Projekte stellt sich die Frage, ob tatsächlich diesbezüglich alle an einem Strang ziehen. Oder endet das Soziale dort, wo auch die nationalen Sicherungssysteme für Beschäftigte enden: nämlich an den nationalen Grenzen?
Orbáns Ungarn: Sozialstaat im Ausverkauf
Im Februar 2020 veranstalteten die Botschaften Schwedens, Dänemarks und Frankreichs gemeinsam mit dem Institut Français und der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest eine Konferenz zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte. Budapest ist ein paradoxer Veranstaltungsort zu diesem Thema: Ministerpräsident Viktor Orbán hat zur Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) praktisch keine Beziehung. Er gilt als der Regierungschef, der die ESSR seinerzeit am heftigsten ablehnte. Seit 2017 tut er alles, um ihre tatsächliche Umsetzung in Ungarn zu torpedieren. Ungarn ist das einzige Land der EU ohne Arbeits- oder Sozialministerium. Dreigliedrige Sozialpartner-Konsultationen gibt es nicht mehr. Folge ist die zunehmende Lockerung des Kündigungsschutzes und ein extrem niedriges Leistungsniveau der sozialen Sicherheit: nur 90 Tage Arbeitslosengeld, das Kindergeld wurde acht Jahre in Folge nicht erhöht, ja nicht einmal der Inflation angepasst.
Die ungarischen Gewerkschaften hingegen setzen angesichts des Rückbaus sozialer Rechte und Leistungen durch ihre Regierung große Hoffnung in die ESSR. Sie sehen die EU in der Pflicht, die Regierung Orbán auf Basis der ESSR zu mehr Zugeständnissen zu bewegen, vor allem in den Bereichen sichere Arbeitsbedingungen, Mindestlöhne und Verbesserung der Rechte von Kindern und Jugendlichen.
Die Kommunalwahlen vom Oktober 2019 lassen dabei einen Hoffnungsschimmer aufkommen. Die Opposition hat das erste Mal seit 2010 eine Art „Wahlsieg“ eingefahren: Budapest sowie 10 von 23 ungarischen Großstädten konnten zurückerobert werden. Das gute Ergebnis relativiert sich aber, da es auf den urbanen Raum beschränkt blieb. Die Regierungspartei Fidesz kontrolliert weiterhin den ländlichen Raum mit einer absoluten Mehrheit. Die kommunale Oppositionspolitik will sich als sozialere und grünere Alternative zu Orbán profilieren und mehr Transparenz, BürgerInnenbeteiligung und Inklusion aller Gesellschaftsschichten einführen. Allerdings fehlen für all die schönen Projekte nach derzeitiger ungarischer Verfassung sowohl die Kompetenzen als auch die Mittel. Dabei wäre es gerade für Ungarn wichtig, bei Sozial- und Arbeitsrechtsstandards eine Annäherung an die EU herbeizuführen.
Wie steht es um das Kapital und das Soziale in Europa?
Aus Sicht der nordischen Mitgliedstaaten, insbesondere der anwesenden dänischen und schwedischen VertreterInnen, kann der Status quo in der EU wie folgt zusammengefasst werden: Die vier Marktfreiheiten lenken das Kapital dorthin, wo größerer Wohlstand herrscht. Daraus ergibt sich eine Aufspaltung des Arbeitsmarktes, die eine Fachkräfteabwanderung („Brain-Drain“) mit sich bringt. Sowohl in Dänemark als auch in Finnland werden das gut ausgebaute soziale Sicherheitssystem sowie das Bildungssystem gezielt für die Anwerbung junger, gut ausgebildeter Menschen eingesetzt.
Für die osteuropäischen Staaten ist eine europäische Aufwärtskonvergenz daher essenziell, um die volle wirtschaftliche Integration in den Binnenmarkt zu erreichen. So hat das ungarische BIP pro Kopf nicht einmal 50 Prozent des durchschnittlichen EU-28-BIP erreicht. Der Mindestlohn betrug lange Zeit 2,85 Euro. Er wurde nach Sozialpartnerverhandlungen 2019 auf 464 Euro pro Monat (um 8 Prozent) erhöht und soll 2020 um weitere 8 Prozent erhöht werden. Ungarn bleibt aber weiterhin in der Gruppe der vier Länder mit den niedrigsten Mindestlöhnen der EU.
Darf man den VertreterInnen Schwedens und Dänemarks glauben, so zieht sich außerdem ein neuer Riss durch Europa: zwischen den universalistisch angelegten Sozialversicherungssystemen des europäischen Nordens, die im arbeitsrechtlichen Bereich traditionell auf Kollektivverträge setzen, und den beitragsfinanzierten Systemen anderer Mitgliedstaaten, in denen es in der Regel gesetzlich festgelegte Mindestlöhne gibt. Dies spiegelt sich in der Nichteinigung über einen europäischen Rahmenwert für Mindestlöhne wider. Die Idee, die es ins Programm von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen geschafft hat: In einem bestimmten Zeitrahmen sollen alle Mitgliedstaaten existenzsichernde Mindestlöhne einführen. Aus Sicht von DGB und EGB müssen diese untersten Haltelinien bei mindestens 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns liegen, damit sie armutsfest sind. Die fehlende Bereitschaft zur Schaffung solcher unterster Haltelinien für sozialen Schutz in der EU wird zunehmend zum Hindernis für die Umsetzung der ESSR mit den Schwerpunkten „verbesserter Zugang zum und faire Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt“ und „soziale Absicherung“.
Aus Sicht der nordischen Mitgliedstaaten fehlt das Wesentliche: eine klare Kursvorgabe, wie wirtschaftlich weniger entwickelte Mitgliedstaaten die Schwerpunkte der ESSR erreichen sollen. Denn die Finanzkrise hat gezeigt, dass Mitgliedstaaten mit ausgebauten Sozialsystemen Krisensituationen besser überstehen. Betrachtet man die Widerstandsfähigkeit der Staaten in der derzeitigen Corona-Krise, so scheint sich dieses Muster zu wiederholen.
Nordischer „Wohlfahrtschauvinismus“
Die ESSR ist für die nordischen Mitgliedstaaten ein zweischneidiges Schwert: Ihrer Ansicht nach ist sie ambitioniert ausgelegt und strebt eine sozialstaatliche Harmonisierung auf EU-Ebene an. Allerdings fehlen dazu zwei wesentliche Elemente: einerseits die Rechtsgrundlage, andererseits die Finanzierung. Auch bleibt die Frage offen, ob die europäischen Zielvorgaben geeignet sind, wo doch bereits die EU-2020-Strategie für Wachstum und Beschäftigung gescheitert ist. Solange die Mitgliedstaaten frei über die Interpretation von Standards und ausreichenden Leistungen entscheiden dürfen, werden diese die EU nicht zum Ziel führen. Auch bei der Festlegung armutsfester Mindestlöhne gibt es einiges zu tun: In vielen Ländern wäre der derzeit diskutierte Schwellenwert von 60 Prozent des Medianlohns nicht ausreichend.
Schweden und Dänemark sehen im Universalismus den Kern ihres Wohlfahrtsstaates. So waren in Dänemark die Leistungen schon immer bürgerbezogen und stehen damit laut dem dänischen Vertreter jedem offen. Vor der Finanz-, der Wirtschafts- und der sogenannten Flüchtlingskrise waren weder die EU noch der Zugang zum sozialen Sicherungssystem ein Thema in der öffentlichen Debatte. Das änderte sich seither drastisch: In Dänemark hat ein „Wohlfahrtschauvinismus“ Konjunktur, der in ausländischen Arbeitskräften – ob aus der EU oder aus Drittstaaten – eine wirtschaftliche Bedrohung dänischer Jobs sieht.
Dabei wird die Konkurrenz von EU-BürgerInnen als noch stärker empfunden, da diese ein Recht auf Zugang zu Sozialleistungen unabhängig von ihrem Beitrag zum System haben. Es wurde daher ein duales System entwickelt: einerseits maßgeschneiderte Leistungen nur für dänische StaatsbürgerInnen – insbesondere Sozialhilfe, Arbeitslosenunterstützung und Kindergeld –, andererseits ein System für nicht-dänische StaatsbürgerInnen. Im Moment würde jeder politische Vorschlag, der auf eine Ausweitung der europäischen Kompetenzen in diesem Bereich zielt, extrem negativ wahrgenommen, so die Einschätzung der dänischen RegierungsvertreterInnen.
Insgesamt zeigte die Konferenz, dass die VertreterInnen der nordischen Regierungen im Narrativ der Konvergenz das Risiko einer Abwärtskonvergenz sehen. Es ist klar abzusehen, wo die Gefahr für einen weiteren EU-Austritt liegt: bei einem Austritt der Vorreiter.
Positiver Ausblick
Das Szenario weiterer Austritte ist jedoch längst nicht die einzige Perspektive. Ganz im Gegenteil: Wird die ESSR mit politischem Geschick umgesetzt, so birgt sie großes Potenzial für eine nachhaltige Stärkung des europäischen Projekts. Dabei ist es wesentlich, auf die demokratische Legitimation zu achten: Je mehr die BürgerInnen hinter einer Maßnahme stehen, desto einfacher ist es, sie umzusetzen. In Bereichen, bei denen sich die europäische Ebene geradezu aufdrängt, ist eine Vergemeinschaftung leichter zu vermitteln: Es könnte beispielsweise die Unterstützung Geflüchteter aus einem gemeinsamen EU-Topf erfolgen.
Auch der DGB stellt dem relativ negativen nordischen Blick auf die Umsetzung der ESSR eine positive Vision entgegen: Zwar ist der Austritt des Vereinigten Königreichs ein sehr ernst zu nehmendes Warnsignal. Doch er hat auch den Zusammenhalt zwischen den verbliebenen Mitgliedstaaten gestärkt. Dieses Momentum muss jetzt genutzt werden, um mit einer Ausweitung von Mindeststandards bei Arbeits- und Sozialrecht ein Zusammenwachsen der EU zum Vorteil der EU-BürgerInnen zu bewirken. Die europäische Säule sozialer Rechte ist eine völkerrechtlich verbindliche Erklärung der drei beteiligten europäischen Institutionen und aller Mitgliedstaaten. Ihre erfolgreiche Umsetzung ist eine Chance, um die zentrifugalen Kräfte einzufangen. Sie kann zum Schutzschild gegen den radikalisierten Binnenmarkt werden.
Dieser Artikel ist in einer ähnlichen Form und auf Englisch am 27.4.2020 auf „Social Europe“ erschienen.