Die Vernachlässigung der sozialen Frage führt zu einer demokratischen Rezession. Demokratie droht funktionslos zu werden, wenn sie die Globalisierungsprozesse nicht unter Teilhabe der Bürger:innen bewältigt. Doch die Wahlbeteiligung sinkt, gleichzeitig werden die Regierungskoalitionen in den Mitgliedstaaten instabiler und diese befinden sich oft im Dauerwahlmodus. Eine „Zuschauerdemokratie“ ist jedoch nicht in der Lage, die großen Herausforderungen wie Klima-, Energie-, Pandemie- und Flüchtlingskrise zu bewältigen. Es bedarf einer Rückholung der Wähler:innen, Zukunftsperspektiven für die Beschäftigten und der Politisierung der europäischen Institutionen.
Herbst der Demokratie?
Das weltweite Demokratieniveau ist 2021 wieder auf demselben Stand wie 1989. Die letzten 30 Jahre der demokratischen Fortschritte sind somit ausgelöscht. Gegenüber dem Rückgang der Demokratien zeichnet sich ein Autokratisierungsprozess in 33 Ländern mit 36 Prozent der Weltbevölkerung ab. Dieser Prozess ist auch bei 20 Prozent der EU-Mitgliedsstaaten zu beobachten, als Beispiele werden vor allem Ungarn und Polen angeführt, gefolgt von Rumänien und Bulgarien, vor allem was die fehlende Balance der Institutionenkontrolle zwischen Judikative, Exekutive und Legislative betrifft. Gleichzeitig zeigt der EU-Stabilitätsindex, dass Viktor Orbán die stabilste Regierung Europas stellt, seit 2010 gab es keine Regierungskrise, er hat sein Land fest im Griff. In den übrigen Mitgliedstaaten ist der aktuelle Grad an Instabilität unerreicht: In 21 Staaten gab es mindestens einen Regierungswechsel, in Bulgarien vier, sechs in Österreich und sieben in Italien und Rumänien. In fünf EU-Staaten hat die Regierung keine Mehrheit im Parlament: Frankreich, Spanien, Schweden, Dänemark und Lettland. Die deutsch-französische Achse ist kein Motor mehr für große europäische Themen. Auch sonstige Bündnisse wie „Visegrád“ oder die „Frugalen Vier“ sind erlahmt. Durch diese Heterogenität im Gefüge des Europäischen Rates erscheint es vergleichsweise leicht, Entscheidungen zu blockieren, doch wehe dem, der eine Mehrheit zu bauen versucht.
Gewinner dieser Entwicklung ist ohne Zweifel die Europäische Kommission. Sie zieht noch stärker als bei den bisherigen Krisen – wie beispielsweise Troika, Europäisches Semester oder Defizitverfahren – neue Kompetenzen an sich bzw. wird damit vom Europäischen Rat betraut. Entlang der Blaupause der vergemeinschafteten Impfstoffbeschaffung wird dieses Modell auf weitere Sektoren und Produkte ausgeweitet – wie z. B. im Rahmen der Rohstoffstrategie, für Rüstungsgüter, Beschaffung von Energieträgern etc. Ein bedenklicher Wandel zur Expertokratie.
Die kommenden zwei Jahre werden ein noch größerer Stresstest für das System der EU. Denn die Welt befindet sich in einer „geopolitischen Depression“ durch eskalierende Rivalität von Wirtschafts- und Militärblöcken, die zu einer globalen Aufrüstung selbst von Ländern führt, die bisher eine Politik der Beschwichtigung übten, wie etwa Japan. So wie Russland schon in den US-Wahlen 2016 Einfluss ausgeübt hat, lässt sich vermuten, dass im Interesse des Krieges in der Ukraine auch in EU-Staaten russlandgenehme Parteien unterstützt werden. Im Hinblick auf die EU-Wahlen 2024 und infolge von hohen und volatilen Energiekosten und massiver Inflation ist ein Erstarken radikaler Kräfte zu Ungunsten der demokratischen Mitte nicht unrealistisch. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich im Hinblick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2024 die Frage, wie sich Europa als demokratische Einheit behaupten kann. Ausgehend von der Analyse des Wahlverhaltens in verschiedenen Mitgliedstaaten sollen hier Lösungsvorschläge präsentiert werden, die von den europäischen Gewerkschaften erarbeitet wurden.
Die Zuschauerdemokratie
Im Mai 2022 konnte sich Macron nach einer Stichwahl gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen in Frankreich durchsetzen. Der demokratische Rückhalt für sein Mandat ist mit einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent an einem Tiefpunkt, der zuletzt 1969 erreicht wurde. Macron war sich dessen bewusst, als er ausdrücklich auf die Nichtwähler:innen einging: „Ihr Schweigen zeugt von einer Weigerung, eine Entscheidung zu treffen, auf die auch wir eingehen müssen.“ In Deutschland konnte sich Bundeskanzler Scholz durchsetzen. Er sieht sich ebenfalls mit Kritik konfrontiert, weil seine demokratische Legitimation auf 25 Prozent der Wählenden aufbaut. Im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland wurde in Italien mit den Brüdern Italiens (Fratelli d’Italia) eine rechtspopulistische Partei in die Regierung gewählt – und das mit der niedrigsten Wahlbeteiligung in der Geschichte des Landes, die bei 64 Prozent lag. Die Entwicklung geht also mehr und mehr Richtung „exklusiver Demokratie“, in der nennenswerte Teile der Zivilgesellschaft ihr Wahlrecht nicht in Anspruch nehmen.
Dasselbe Bild zeigt Europa insgesamt. Waren es in Westeuropa 1975 noch durchschnittlich 82 Prozent, so gingen 2012 nur noch 75 Prozent der Wahlberechtigten zu den Wahlen. In Osteuropa ist der Rückgang der Wahlbeteiligung dramatischer: Sie sank von 72 Prozent im Jahr 1991 auf 57 Prozent im Jahr 2012. Die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen fiel von 62 Prozent im Jahr 1979 auf 51 Prozent im Jahr 2019.
Ist die Demokratie in Europa in der Krise?
Haltung zu Demokratie im Allgemeinen | |||
Wichtigkeit | Zufriedenheit | Diskrepanz | |
Nordeuropa | 9,2 | 7,0 | -2,2 |
Kontinentaleuropa | 8,5 | 5,9 | -2,6 |
Südeuropa | 8,6 | 4,2 | -4,4 |
Mittel- & Osteuropa | 8,1 | 4,4 | -3,7 |
hybride Demokratien | 7,3 | 3,6 | -3,7 |
gesamt | 8,4 | 5,1 | -3,3 |
Die Absenz von fast der Hälfte des Souveräns beim wichtigsten Legitimationsakt der repräsentativen Demokratie gibt einen Hinweis darauf, wie (un)wichtig die politische Beteiligung an der „res publica“ für die Mehrheit der Bürger:innen geworden ist.
Ursachen der Wahlenthaltung
In allen Wahlen fällt die Zunahme der Wahlenthaltungen sowie der Erfolg populistischer Parteien auf. Steht der Kollaps der Demokratien bevor, oder stehen die reifen Demokratien heute besser da als vor 50 Jahren? Einerseits hat sich die Situation von Frauen und Minderheiten verbessert und liberale Rechte wurden gestärkt. Andererseits haben sich die Privilegierten zu gut eingerichtet in ihrer Zweidritteldemokratie. Denn das untere Drittel wurde wirtschaftlich, sozial und kulturell abgehängt. Dies ist das gebrochene Versprechen der Demokratie, die neben der Freiheit immer auch auf der Gleichheit ruhen muss. Dieser Zustand wird treffend als defekte Demokratie bezeichnet.
Die Wahlenthaltung bzw. der Zuspruch für populistische Parteien stehen für eine Repräsentations- und Vertrauenskrise. Sie sind ein Ausdruck für die Unzufriedenheit mit dem politischen System. Dabei zeigt eine Umfrage, dass die Zustimmung für die Idee der Demokratie in Europa hoch ist. Im Gegensatz dazu ist die Zufriedenheit mit ihrer Funktionsweise deutlich niedriger. Menschen, die unzufrieden mit demokratischen Institutionen sind, sind demnach nicht zwangsläufig systemfeindlich, sondern enttäuscht von ihrer Leistungsfähigkeit. Das eigentliche Problem ist dabei nicht die Höhe der Wahlbeteiligung an sich, sondern die mit ihr einhergehende soziale Selektivität. Denn als empirisch gesicherte Faustregel kann gelten: Mit sinkender Wahlbeteiligung steigt die soziale Exklusion.
Die Kombination von Globalisierung und Deregulierung der Märkte hat in den entwickelten Gesellschaften die Spaltung der Gesellschaft befeuert: in Arm und Reich, Gebildet und Ungebildet, Mobil und Immobil. Die Verteilung der Lebenschancen basiert meist nicht primär auf eigener Leistung, sondern unterliegt vor allem der Zufallskuratel ungleicher Herkunft. Die unteren Schichten haben jeden Grund, dem Gleichheitsversprechen unserer Demokratie zu misstrauen. Die ökonomische Spaltung der Gesellschaft findet ihre Parallele im öffentlichen Diskurs. Dieser ist von den kosmopolitischen Meinungseliten und den gebildeten Mittelschichten unserer Gesellschaft geprägt. Sie treten für offene Grenzen ein; offen für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Menschen, seien sie Arbeitskräfte oder Geflüchtete. Sie sind bereit, nationalstaatliche Souveränitätsrechte aufzugeben, um auf europäischer oder globaler Ebene transnationale Probleme unter Umständen auch supranational zu lösen. In diesem für unselbstständig Beschäftigte unsicheren Umfeld steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese kommunitaristischen Positionen zuneigen. Diese beschreiben traditionelle Werte, die Verankerung in einer überschaubaren Gemeinschaft, das Vertrauen in den Nationalstaat bei gleichzeitigem Misstrauen gegenüber supranationalem Regieren wie in der EU. Rechtspopulistische Parteien eignen sich diese Konfliktlinie an, indem sie kulturelle Vorurteile darauf projizieren.