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Aktuell besitzen 1,5 Millionen Menschen bzw. 17,7 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung keine österreichische Staatsbürgerschaft und damit kein Wahlrecht. In der Altersgruppe 27 bis 44 liegt der Wert der Nicht-Wahlberechtigten mittlerweile bei über 40 Prozent. Bei den Wiener Landtagswahlen 2020 war ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr wahlberechtigt, in einigen Bezirken durfte nur noch die Hälfte wählen.
Besonders betroffen sind Systemerhalterinnen
Problematisch ist die Lage insbesondere für (weibliche) Arbeiterinnen. Denn die Einbürgerung scheitert in erster Linie an den zu hohen Einkommenshürden. Daten des Dachverbands der Sozialversicherungsträger zeichnen die folgende Problematik: Von den aktuell knapp 1,5 Millionen Arbeiter*innen können sich österreichweit beinahe 39 Prozent nicht an Landtags- oder Nationalratswahlen beteiligen. In Wien sind nahezu 60 Prozent der Arbeiter*innen nicht wahlberechtigt. Bei Angestellten liegt dieser Wert bei vergleichsweise niedrigen 21 Prozent. Diese Zahlen zeigen eindrucksvoll, dass das strenge Einbürgerungsrecht vor allem geringer verdienende Arbeiter*innen – und in dieser Gruppe insbesondere Frauen – vom Wahlrecht und politischer Partizipation ausschließt. Frauen sind deshalb häufiger davon betroffen, weil sie verstärkt in systemrelevanten Berufen, die tendenziell schlechter bezahlt sind, arbeiten. Grund zur Besorgnis gibt außerdem folgende Entwicklung: 240.000 in Österreich geborene Menschen haben nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. Dieser Wert hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Jedes fünfte Kind kommt als Ausländer*in auf die Welt und verbringt zumeist auch die gesamte Schulzeit in Österreich: als Ausländer*in. Aus diesen Gründen müssen wir uns zwangsläufig folgende Frage stellen: Wie legitim können Wahlen sein, wenn sie so viele Menschen ausschließen?
Folgendes Beispiel veranschaulicht sehr gut, welch absurde Auswirkungen unser Einbürgerungsrecht auf unser Wahlrecht und unsere Demokratie hat:
Beispiel Auswander*innen: Martins Eltern haben beschlossen, Österreich zu verlassen und nach Kanada auszuwandern. Martin lebt und arbeitet seit seiner Geburt in Kanada. Die kanadische Staatsbürgerschaft hat er bei der Geburt bekommen. Mit Österreich hat er eigentlich gar nichts mehr zu tun. Weil er aber auch die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, darf er sowohl in Kanada als auch in Österreich bei jeder Wahl teilnehmen und mitbestimmen.
Beispiel Einwander*innen: Schon Dejans Eltern wurden in Österreich geboren. Aufgrund der strengen Voraussetzungen haben sie die österreichische Staatsbürgerschaft niemals beantragt. Dejan wurde ebenso bei uns in Österreich geboren, er ist hier in die Schule gegangen, hat hier studiert und arbeitet inzwischen. Er führt das gleiche Leben wie seine Schulkollegen Michael und Stefan. Mit einem Unterschied: Er darf nicht wählen und damit nicht mitbestimmen.
Für die Politik sind sie irrelevant, weil sie keine Stimmen bringen
Österreich ist ein Einwanderungsland. Ein Viertel der österreichischen Bevölkerung hat eine Migrationsbiografie, Tendenz steigend. Die Zahl der Einbürgerungen hingegen befindet sich im Tiefflug (siehe weiter unten). Das hat zur Folge, dass der Anteil jener, die nicht wählen dürfen, immer weiter steigt.
Politische Parteien müssen diese wachsende Gruppe nicht beachten, da sie keinen Einfluss auf das Wahlergebnis hat. Der politische Wahlkampf konzentriert sich somit nur auf jene Bevölkerungsgruppen, die sich ohnehin regelmäßig politisch beteiligen. Das ist überwiegend das oberste Einkommensdrittel.
Sich im politischen Prozess einzubringen erfordert in erster Linie sozioökonomische Ressourcen, die unsere Kolleg*innen mit anderer Staatsbürgerschaft aufgrund ihrer Situation oft nicht haben. Als Beispiel für viele andere müssen wir uns den Amazon-Auslieferer vorstellen, der nach einer 12-Stunden-Schicht spätabends einfach keine Kraft mehr für Politik hat. Mangels aufenthaltsrechtlicher Absicherung sind sie zudem verstärkt der Gefahr von Ausbeutung ausgesetzt. Wer einen unbefristeten Aufenthaltstitel will, darf seinen Job nicht verlieren! Gezwungenermaßen nehmen sie Arbeitsbedingungen in Kauf, die wir niemals akzeptieren würden. Die Kombination dieser Faktoren führt dazu, dass sich der Zustand verfestigt und weiter verschlechtert. Denn: „Wer das Gefühl hat, wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden, entwickelt nicht viel Vertrauen ins politische System“, so Martina Zandonella vom SORA-Institut.
Die Interessen unserer Kolleg*innen, die kein Wahlrecht haben, spielen in der politischen Auseinandersetzung nur eine untergeordnete Rolle. Das betrifft hunderttausende Arbeitnehmer*innen österreichweit. Aber genau diese Stimmen brauchen wir im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen – für uns alle.
Die problematische Rechtslage
Das österreichische Einbürgerungsrecht folgt dem Prinzip „ius sanguinis“: Die Staatsbürgerschaft leitet sich grundsätzlich von der Staatsbürgerschaft der Eltern ab. Erforderlich für die Einbürgerung ist ein ununterbrochener zehnjähriger, rechtmäßiger Aufenthalt in Österreich, wobei davon zumindest fünf Jahre Lebensmittelpunkt in Österreich nachzuweisen sind. Der Lebensmittelpunkt besteht bei aufrechtem Wohnsitz und nicht nur vorübergehender Erwerbstätigkeit. Für Ehegatt*innen von Österreicher*innen, im Inland geborene Personen und EWR-Staatsbürger*innen verkürzt sich die Dauer des geforderten Aufenthalts auf sechs Jahre.
Die hohen Einkommenshürden machen es einem beträchtlichen Anteil unserer Kolleg*innen unmöglich, die Staatsbürgerschaft zu bekommen: Das Gesetz verlangt feste und regelmäßige Einkünfte in Höhe des Ausgleichszulagen-Richtsatzes (2022: 1.030,49 Euro für Einzelpersonen und 1.625,71 Euro für Familien). Dieser Betrag muss nach Abzug von Wohnkosten und sonstigen regelmäßigen Aufwendungen wie Kreditrückzahlungen monatlich netto zur Verfügung stehen. Schätzungen von Expert*innen wie Rainer Bauböck zufolge könnten sich bis zu einem Drittel der autochthonen Österreicher*innen die österreichische Staatsbürgerschaft nicht leisten. Hinzu kommen erhebliche Bundes- und Landesgebühren, die bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft anfallen. Bei einer Familie betragen die Gesamtkosten schnell einige tausend Euro. Weiters zeigen Berichte aus der Praxis, dass die Verwaltungsverfahren sehr lange dauern und einen erheblichen bürokratischen Aufwand für die Antragsteller*innen darstellen. Diese strengen rechtlichen Rahmenbedingungen führen zu laufend sinkenden Einbürgerungszahlen. Im Vergleichszeitraum 1991 bis 2021 ist die Einbürgerungsquote österreichweit von ohnehin niedrigen 2,2 Prozent auf 0,6 Prozent gesunken. Aktuell werden nur noch sechs von 1.000 Personen eingebürgert.
Welche Konsequenz die strengen Voraussetzungen für unsere Kolleg*innen haben, veranschaulichen folgende Beispiele aus der Praxis sehr gut:
Beispiel 1: Amina ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und arbeitet Teilzeit im Handel, wo sie monatlich 1.190 Euro netto verdient. Zusätzlich zur Familienbeihilfe in Höhe von 287 Euro steht ihr ein Kindesunterhalt in Höhe von 300 Euro zur Verfügung. Die monatliche Miete für die Wohnung beträgt 700 Euro, die monatliche Kreditrate 100 Euro. Nach Abzug der Aufwendungen muss die Familie ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen in Höhe von 1.625,71 Euro nachweisen. Diese Familie hat keine Chance auf die österreichische Staatsbürgerschaft, denn ihr bleiben monatlich nur 1.192 Euro über.
Beispiel 2: Jasmina wurde in Österreich geboren, ist hier zur Schule gegangen und hat Rechtswissenschaften studiert. Nach dem Studium arbeitet sie in einem internationalen Unternehmen und wird in eine Niederlassung in die USA geschickt. Nach einigen Jahren kehrt sie zurück und beantragt die österreichische Staatsbürgerschaft. Da die Unterbrechung zu lange gedauert hat, fängt die sechsjährige Frist neu zu laufen an. Ihr Antrag wird abgelehnt, weil sie im Ausland gearbeitet hat.
Was muss sich ändern?
Auch wenn Integration nicht mit der Erteilung der Staatsbürgerschaft endet, ist die Staatsbürgerschaft ein zentraler Faktor, um Integration zu ermöglichen. Ein rascherer und gerechterer Zugang zur Staatsbürgerschaft wirkt wie ein – gesamtgesellschaftlicher – Integrationsmotor. Eine Reform des heimischen Staatsbürgerschaftsrechts ist meines Erachtens daher insbesondere in folgenden Punkten erforderlich:
- Senkung der Einkommenshürden: Eine Vielzahl unserer Kolleg*innen wird das geforderte Einkommen niemals erreichen. Die zu hohen Voraussetzungen müssen gesenkt bzw. ersatzlos gestrichen werden.
- Verfahrensbeschleunigung und -vereinfachung: Die Staatsbürgerschaftsverfahren dauern zu lange, die zuständigen Behörden sind überfordert. Es braucht eine Neuaufstellung der staatlichen Verwaltung.
- Senkung und Vereinheitlichung der Bundes- und Landesgebühren: Zu viele Menschen können sich mehrere tausend Euro für die Verleihung der Staatsbürgerschaft schlicht nicht leisten. Die zu hohen Gebühren müssen gesenkt und vereinheitlicht werden.
- Senkung der erforderlichen Aufenthaltsdauer: Mit zehn Jahren erforderlicher Aufenthaltsdauer ist Österreich im europäischen Vergleich Schlusslicht und verhindert gelingende Integration. Die Unterscheidung zwischen EU-Bürger*innen und Drittstaatsangehörigen ist sachlich nicht nachvollziehbar. Nach spätestens sechs Jahren Aufenthalt muss es für alle Menschen die Möglichkeit geben, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben.
- Staatsbürgerschaft für die zweite Generation („ius soli“-Elemente): 20 Prozent der im Inland geborenen Kinder haben nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. Der europäischen Richtung folgend sollen Kinder, deren Eltern sich zumindest fünf Jahre rechtmäßig in Österreich aufhalten, die Staatsbürgerschaft bei der Geburt bekommen. Dasselbe muss für Kinder, die ihre Schulpflicht hier absolviert haben, gelten.
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