Es braucht eine fundamental neue europäische Wirtschaftsordnung, die auf Solidarität aufbaut. Nur so kann zukünftigen Krisen besser begegnet und die steigende Vermögensungleichheit adressiert werden. Wichtige Bausteine dieser „Zukunftsstruktur“ sind eine dauerhafte Abkehr von restriktiven Fiskalregeln, der Ausbau von EU-Eigenmitteln und öffentliche Investitionen.
Das Leben ist kein Monopoly-Spiel
Das Brettspiel Monopoly schärft schon Kindern die Funktionslogik der kapitalistischen Wirtschaft ein: um zu gewinnen, muss man mehr haben als die anderen. Doch die wohlfeilste Regel, die Monopoly seinen Spieler*innen mitgibt, ist die: Wenn etwas schiefläuft, geht man einfach „zurück auf Los“ – und das alte Spiel fängt mit neuem Glück (und Geld) von vorne an. Doch die Möglichkeit, das Wohlstandsniveau der Menschen wieder auf das gleiche Ausgangsniveau zu setzen, existiert nur am Spielbrett. Ohne „zurück auf Los“ enden die Ungleichgewichte zwischen den Monopoly-Spieler*innen im Bankrott für die einen und einer Vermögensanhäufung bei den anderen. Tatsächlich steigen in Europa seit den 1980er-Jahren die Ungleichgewichte. Mehr als die Hälfte des Vermögens im Euroraum konzentriert sich in den Händen der reichsten 10 Prozent. In der Folge leiden Millionen Europäer*innen unter kaputtgesparten Gesundheits- und Sozialsystemen sowie Arbeitslosigkeit und Armut. Um die immer tiefer werdende Kluft innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten zu mildern, müssen wir die Spielregeln der europäischen Wirtschaftsordnung fundamental verändern.
Lehren aus Corona
Die COVID-19-Pandemie zeigt einmal mehr die mangelnde Krisenfestigkeit der Union. Die Krisen der Zukunft – seien es nun Wirtschafts-, Finanz- oder pandemische Krisen – werden europäische und globale Krisen sein. Auch wenn sie nicht alle Mitgliedstaaten gleich stark treffen, schwächen diese Krisen die EU in ihrer Gesamtheit. Europa braucht daher in erster Linie mehr Solidarität: Zwischen den Mitgliedstaaten muss endlich das Versprechen der sozialen Aufwärtskonvergenz eingelöst werden. Aber auch innerhalb der Mitgliedstaaten muss die Union gegen die bestehenden Ungleichheiten durch harmonisierte Mindeststandards für die sozialen Sicherungssysteme und eine Stärkung der staatlichen Einnahmenseite Vorsorge treffen. Die EU braucht nicht nur mehr Eigenmittel, auch ihre Mitgliedstaaten müssen sich primär über Steuereinnahmen finanzieren können, um sich aus der Abhängigkeit der Finanzmärkte zu lösen.
Die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion ist bis heute unvollendet. Während die währungspolitische Integration des Euroraums vollständig ist, verfolgen die Eurostaaten weiterhin eigene Fiskal- und Wirtschaftspolitiken. Diese bringen sie in einen Wettbewerb um niedrigere Steuern, geringeren Sozialschutz und günstigere Lohnkosten, um die Anreize für Unternehmensansiedlungen zu erhöhen. Statt wirtschaftlichem und sozialem Zusammenhalt, wie ihn Art. 3 des Vertrags über die Europäische Union fordert, erleben wir vor allem in der Eurozone, wie sich die vernachlässigte Verteilungsfrage innerhalb der Mitgliedstaaten in abnehmender Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten ausdrückt.
Eine „Zukunftsstruktur“ für die Wirtschafts- und Währungsunion
Um dieser gefährlichen Entwicklung entgegenzuwirken, müssen wir eine tragfähige, solidarische Zukunftsstruktur schaffen, die zwei Funktionen erfüllt: Sie muss die Union in Krisenzeiten stabilisieren, und sie muss die Systeme der sozialen Absicherung innerhalb der Mitgliedstaaten konsolidieren.
Diese Doppelfunktion könnte unter anderem eine europäische Arbeitslosenrückversicherung erfüllen, die nationale Arbeitslosenversicherungen im Fall eines Wirtschaftseinbruchs stützt und die Weiterzahlung von Leistungen sicherstellt. Gleichzeitig muss die Rückversicherung auch für eine nachhaltige Stärkung der mitgliedstaatlichen Systeme sorgen, indem sie ihre Zahlungen an die Bedingung knüpft, dass diese robust und solidarisch finanziert werden. Mit dem nun von Kommission und Rat beschlossenen SURE-Programm wird hier ein erster Schritt getan. Da SURE jedoch nur bestehende Arbeitsplätze schützt, indem es die Finanzierung von Kurzarbeitergeld und ähnlichen Maßnahmen durch Kredite unterstützt, jedoch keine volkswirtschaftliche Absicherung im Falle rapide steigender Arbeitslosigkeit bietet, kann es die Einführung einer Arbeitslosenrückversicherung nicht ersetzen.
Stabilisierung und gute Konditionierung durch europäische Gelder können auch gemeinsame europäische Anleihen oder die von der spanischen Regierung vorgeschlagenen Ewigkeitsanleihen bieten. Faire Konditionalitäten könnten dabei die Brücke zu einem neuen, wichtigen Integrationsschritt schlagen, indem sie die europäische wirtschaftspolitische Steuerung um einnahmeseitige Kriterien, zum Beispiel im Bereich der Bekämpfung von Steuerbetrug und aggressiver Steuervermeidung, ergänzen.
Fiskalpolitischer Neustart
Eine besonders sensible Stellschraube der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung ist die Fiskalpolitik. Eine substanzielle Abkehr von den restriktiven Haushaltsregeln ist notwendig. Denn diese macht es den Mitgliedstaaten unmöglich, adäquat auf eine beginnende Rezession zu reagieren, und trägt so zur Vertiefung von Krisen bei. Der Einsatz der Notfallklausel aus den immer strenger gewordenen Haushaltsauflagen war die richtige Entscheidung. Statt einer Rückkehr zu den „alten“ Fiskalregeln braucht es zukünftig eine Neuausrichtung der wirtschaftspolitischen Steuerung mit einem Fokus auf nachhaltiges und inklusives Wachstum und ausgewogene Verteilung. Um dafür das Fundament zu schaffen, muss die bereits vor dem Ausbruch der Corona-Krise eingeleitete Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung entschieden fortgeführt werden.
Hinzu kommt, dass die oben beschriebenen Instrumente zur Abfederung von Krisen ihre stabilisierende Wirkung erst dann entfalten können, wenn sie die unterschiedlichen Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten überwinden. Das heißt: Sie müssen aus europäischen Töpfen finanziert werden. Wie diese Töpfe generiert werden – ob durch Corona-Recovery-Bonds, Ewigkeitsanleihen oder durch Rückgriff auf bestehende Mechanismen wie den ESM – ist Gegenstand der aktuellen Debatte. Vergessen wird dabei jedoch oft, wie entscheidend der Aufbau europäischer Eigenmittel bzw. europäischer Fiskalkapazitäten in diesem Zusammenhang ist. Die derzeit diskutierten Vorschläge zur Einführung von Finanztransaktionssteuern, Plastiksteuern, einem Carbon Border Adjustment Mechanism, Digitalsteuern, Vermögenssteuern oder auch einer gemeinsamen konsolidierten Bemessungsgrundlage für Körperschaftsteuern in Kombination mit einem Mindeststeuersatz würden nicht nur Steuerflucht und -vermeidung auf dem Binnenmarkt eindämmen, sondern auch erhebliche finanzielle Spielräume für die EU eröffnen.
Öffentliche Güter für Europa
Darüber hinaus braucht die europäische Wirtschaftsordnung eine neue Strategie für öffentliche Investitionen. Die Corona-Krise hat unsere Wirtschaft zwar vorübergehend in den Stillstand versetzt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Probleme, die wir vor Corona hatten, nach Ende der Pandemie verschwinden werden. Deshalb müssen die Investitionen zur Überwindung der Krise auch den Klimawandel, die Digitalisierung, die zunehmende Ungleichheit und die demografische Entwicklung mitdenken. Europa muss die aktuelle Krise zum Anlass nehmen, umfangreiche und transformative Investitionen zu tätigen. Das geht nur, wenn wir Zukunftsinvestitionen durch eine „goldene Investitionsregel“ („golden rule“) von den Fiskalregeln ausnehmen. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen muss die Bewahrung öffentlicher Güter für alle Europäer*innen stehen. Dazu gehört neben einer Stärkung der sozialen Infrastruktur, Erziehung, Bildung sowie Wissenschaft und Forschung auch eine europäische Agenda für Gesundheitsschutz und die Bekämpfung sanitärer Krisen.
Wer gestaltet Europas Zukunft?
Ob sich diese und andere Visionen für die Zukunft der EU und ihrer Wirtschafts- und Sozialordnung in einer Revision der Europäischen Wirtschaftsregierung, der Fiskalregeln und auch der Europäischen Verträge wiederfinden werden, wird maßgeblich davon abhängen, wer an den Entscheidungen beteiligt sein wird. Wir können in der Corona-Krise einmal mehr beobachten, dass den Preis für schwere Wirtschaftskrisen diejenigen bezahlen, die unter ihren Folgen am stärksten leiden: die Arbeitnehmer*innen, die junge Generation und diejenigen, die gerade Arbeit suchen. Ihre Stimme muss auch auf europäischer Ebene stärker gehört werden. Das bedeutet unter anderem eine deutlich stärkere Einbindung der Gewerkschaften in wirtschaftspolitische Entscheidungen. Die Konferenz zur Zukunft Europas kann ein Weg sein, um durch die Beteiligung der Bevölkerung zu einem solidarischeren, gerechteren und krisenfesteren Europa zu kommen. Änderungen der EU-Verträge dürfen dabei kein Tabu sein.