EU-Freiheiten als Instrumente des Marktradikalismus: Muss der EuGH seine Sicht ändern?

24. Juni 2020

Seit Jahrzehnten behauptet der Europäische Gerichtshof (EuGH) immer wieder, nationale Regelungen würden gegen die EU-Marktfreiheiten (oft irreführend als „Grundfreiheiten“ bezeichnet) verstoßen und seien deswegen unanwendbar. Den marktradikalen Regierungen in Polen und Ungarn geht selbst das noch nicht weit genug: Sie wollen, dass die jüngsten Verbesserungen der Entsenderichtlinie, also vom Rat der EU und dem EU-Parlament beschlossenes europäisches Recht, als rechtswidrig aufgehoben wird, weil sie den Marktfreiheiten widersprächen. Zwingen sie dadurch – unbeabsichtigt – den EuGH, seine bisherige, rechtlich längst unhaltbare Linie zu überdenken?

Der EuGH macht die Marktfreiheiten zu Instrumenten des Marktradikalismus

Der EuGH hat schon vor Jahrzehnten die zum Schutz der Marktfreiheiten vereinbarten Dis­kri­mi­nierungsverbote zu „Beschränkungsverboten“ umgedeutet: Er prüft nicht nur, ob für EU-AusländerInnen schlechtere Regeln als für InländerInnen gelten, sondern darüber hinaus auch, ob eine nationale Maßnahme eine der Marktfrei­heiten lediglich „weniger attraktiv“ macht! Und zwar auch dann, wenn sie völlig gleich für inländische wie ausländische Unternehmen gilt! „Beschränkt“ sie eine Marktfreiheit, muss sie durch „zwingende Gründe des Allgemein­interesses“ gerechtfertigt werden. Dazu muss sie nicht nur geeignet sein, das in Betracht kommende Allgemein­interesse zu fördern, sondern auch die gelindeste Maßnahme zur Erreichung dieses Zieles darstellen; also jene Maßnahme, die am wenigsten in die heiligen Marktfreiheiten eingreift. 

Auf dieser Grundlage mischt sich der EuGH seit Langem auch in nationale Regeln ein, die laut den Ver­trägen die EU gar nichts angehen. So wurde Österreich kürzlich beschieden, die Strafen bei Unterentlohnung seien zu streng – obwohl es keinerlei europäische Regeln zum Verwaltungsstraf­recht gibt (außer in der Grundrechtecharta, aber auf die bezog sich der EuGH ausdrücklich nicht). So strenge Strafen könnten EU-Unternehmen abschrecken, in Österreich tätig zu werden, so der EuGH – obwohl sie ganz gleich auch für österreichische Unternehmen gelten und das EU-Recht ausdrücklich nur redliche Geschäftsleute schützen soll. Italien erfuhr, dass ein staatliches Monopol für die Aufbewahrung von Urnen (!) unzulässig in die Dienstleistungsfreiheit eingreife. Und aktuell versucht die EU-Kommission, faktisch eine Privatisierung der österreichischen Wasserkraftwerke auf diesem Weg zu erzwingen. Kurz: Der EuGH betätigt sich als ein zentraler Urheber und Motor einer radikal neoliberalen Politik, die in den EU-Verträgen niemals vereinbart worden war!

Das wird seit Langem scharf (und meiner Meinung nach sehr zu Recht) kritisiert. Denn die EU-Verträge differenzieren deutlich zwischen den einzelnen Marktfreiheiten: Ausschließlich beim Kapital- und Zahlungsverkehr sind im Grundsatz alle Beschränkungen aufgehoben. Beim Warenverkehr sind nur „Abgaben gleicher Wirkung“ wie Zölle untersagt. Beim Niederlassungsrecht und der Dienstleistungsfreiheit soll eine Liberalisierung schrittweise und im ordentlichen EU-Gesetzgebungsverfahren erfolgen. In diesen Bereichen gilt ausdrücklich nur ein Diskriminier­ungs­verbot, solange keine einheitliche europäische Regelung besteht. Schon der Wortlaut lässt eine Deutung dieser beiden Marktfreiheiten als Beschränkungsverbote keinesfalls zu.

Die EU hingegen entwickelt sich von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Union!

Der EuGH lässt sich bislang auch nicht dadurch irritieren, dass sich die europäischen Verträge ganz gegenteilig entwickeln. Ursprünglich haben die Verträge über die einzelnen Gemeinschaften (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl [EGKS], Europäische Atomgemeinschaft [Euratom], Europäische Wirtschaftsgemeinschaft [EWG]) nur jeweils deren – naturgemäß begrenzte – „Aufgaben“ beschrieben. Generell wurde dabei (und auch bei späteren Änderungen der Verträge) die Formel verwendet, dass durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes eine günstige Wirtschafts­entwicklung und eine Hebung des Lebensstandards, später auch des sozialen Schutzes und der Umwelt erreicht werden sollte. So lange konnten die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und die dazu vereinbarten Marktfreiheiten als zentrale Inhalte der Verträge betrachtet werden. Denn diese waren der Kern der vertraglichen Übereinkünfte, die erhofften günstigen Folgen für die Wirtschaft und die BürgerInnen waren nur in zweiter Linie maßgeblich. Aber auch ein gemeinsamer Markt ist nicht notwendigerweise ein deregulierter oder nur minimal regulierter Markt, in dem nur sachlich zwingende Regelungen zulässig wären. Eine solche marktradikale Gestaltung ist möglich, müsste aber ausdrücklich vereinbart sein. Derartiges ist jedoch niemals in den Verträgen gestanden, auch nicht in ihrer Urfassung (Römische Verträge)!

Aber die Zeiten haben sich überdies geändert. Die „Wirtschaftsgemeinschaft“ hat sich zu einer politischen Union weiterentwickelt: Seit dem Vertrag von Amsterdam (1999) hat die EU so etwas wie Verfas­sungs­grundsätze, auf denen die Union beruht. Im Kern sind es Freiheit, Demokratie und die Achtung der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit (Art. 6 EU-Vertrag in der seinerzeitigen Fassung). Der gemeinsame Markt oder die Marktfreiheiten sind da nicht genannt! Diese Grundsätze – und nur sie – wurden mit einer besonderen Sanktion bewehrt: nämlich, dass die Rechte eines sie verletzenden Mitgliedstaates ausgesetzt werden können und dieser äußerstenfalls sogar aus der EU ausgeschlossen werden kann. Für die Auslegung der Verträge sind seither die genannten Grundsätze maßgeblich, keinesfalls (mehr) irgendwelche Marktfreiheiten. Die Schaffung des Binnenmarktes und die Freiheiten sind nur eine Aufgabe der Gemeinschaft unter vielen anderen, aber kein Grundsatz oder gar „Fundamentalgrund­satz“, wie einige Autoren immer noch behaupten. Nur die seinerzeit in Art. 6 EU-Vertrag, nun in Art. 2 EUV genannten oben erwähnten Prinzipien sind Grundsätze der Union, auf denen sie beruht und deren Verletzung speziell – im Extremfall eben bis hin zum Ausschluss aus ihr – „bestraft“ werden kann.

Endgültig kein Vorrang der Marktfreiheiten (mehr) – spätestens seit dem Vertrag von Lissabon

Mit dem Vertrag von Lissabon (2009) wurden dann auch noch die bisherigen „Aufgaben“ durch „Ziele“ der Union ersetzt. Aber diese sind wesentlich verändert! Ziel ist nämlich nicht mehr die Schaffung eines Binnenmarktes, von dessen günstigen Wirkungen man sich allerlei verspricht. Ziel der Union ist es nunmehr, den Frieden, die Grundsätze der Union und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. Darüber hinaus wird eine Reihe von weiteren Zielen genannt, vom „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ über den Binnenmarkt, den sozialen Fortschritt und soziale Sicherheit bis zu Umweltschutz, wissenschaftlichem Fortschritt, Zusammenhalt und Vielfalt.

Von einem Vorrang oder einer zentralen Bedeutung der Regeln zum Binnenmarkt und den Markt­freiheiten kann seither schon gar keine Rede mehr sein! Das Ziel des Binnenmarkts ist jetzt mit vielen anderen ­– auch sozialpolitischen – Zielen gleichrangig. Alle diese Ziele (Art. 3 EUV) sind gegenüber den Grundsätzen (nun: „Werten“) der Union (Art. 2 EUV) nachrangig. Die Illusion, ein gemeinsamer Markt werde automatisch soziale Fortschritte bewirken, ist aus den Verträgen gestrichen! Die Marktfreiheiten selbst sind überhaupt nur mehr ein Mittel unter vielen anderen zum Erreichen der Ziele einer politischen Gemeinschaft (sie werden in Art. 3 EUV nicht genannt). Das wird auch in der als Teil des Ver­trags von Lissabon beschlossenen EU-Grundrechtecharta (GRC) gut sichtbar: Drei Markt­freiheiten kommen dort in Art. 15 Abs. 2 als Teil der Berufsfreiheit vor und haben keinerlei anderen Status als etwa die dem Kapitel „Solidarität“ zugeordneten Rechte auf Unterrichtung und Anhörung der ArbeitnehmerInnen, Kollektiv­verhandlungen, soziale Unterstützung und dergleichen. Der Sonderstatus der Marktfreiheiten ist vorbei (so er je bestanden hat). Die „Wirtschaftsgemeinschaft“ hat sich auch vertraglich klar zu einer politischen Union entwickelt!

Heute hat die Auslegung der Verträge daher, über deren Wortlaut hinaus, auch noch diese radikal veränderten Werte und Ziele zu beachten. Der Binnenmarkt ist nur mehr eines der Ziele unter vielen anderen, die mit ihm in zweiter Linie genannt werden. Die Werte und die in erster Linie genannten Ziele der Union – Frieden, Freiheit, Demokratie und Achtung der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit – stehen einer marktradikalen Sicht diametral entgegen!

Erzwingen Polen und Ungarn unbeabsichtigt ein Umdenken?

Der Gerichtshof hat die gerade dargestellte Entwicklung der Verträge niemals reflektiert. Er hat einfach immer wieder auf seine bisherige Rechtsprechung Bezug genommen; die aber wurde im Kern in den 1970er-Jahren entwickelt, lange vor der Änderung der Verträge! Alle diese älteren Entscheidungen betrafen nationale Regeln. Daher konnte man sich bei jedem neuen Verfahren um andere nationale Regelungen einfach immer wieder auf sie berufen – wenn man die Änderungen der Verträge schlicht ignoriert. Und das hat der EuGH getan.

Polen und Ungarn wollen nun aber europäisches Recht infrage stellen, nicht nationale Regelungen eines Mitgliedstaates: Es geht um die 2018 beschlossenen Änderungen der Entsenderichtlinie. Diese wurde nach langen Anstrengungen verbessert (vor allem bei Entsendungen mit einer Dauer von über 12 Monaten, der grenzüberschreitenden Überlassung von ArbeitnehmerInnen sowie hinsichtlich der Aufwandsentschädigungen [siehe im Detail in diesem Artikel]), aber gegen die Stimmen Polens und Ungarns. Ein Mehrheitsbeschluss war zulässig und wurde gefasst, nachdem alle anderen Mitgliedstaaten einig waren, auch das Europäische Parlament mit großer Mehrheit zugestimmt hatte und nur diese beiden Staaten auf einer vollkommen ablehnenden Haltung beharrten.

Die Regelungen der so beschlossenen Richtlinie (EU) 2018/957 bekämpfen die beiden Staaten nun vor dem EuGH. Sie argumentieren, dass durch die verbesserten Regelungen die Dienst­leistungs­freiheit weniger attraktiv wird, ohne dass dies durch „zwingende Gründe des Allgemein­interesses“ gerechtfertigt werde; somit liege eine verbotene Beschränkung der Dienst­leistungs­freiheit vor. Die Regelungen der EU-Verträge würden aber auch für europäische Richtlinien gelten.

Um die Frage beant­worten zu können, ob auch für eine korrekt beschlossene EU-Richtlinie selbst das – von ihm ja hinsichtlich der Dienst­leistungs­freiheit recht frei angenommene – „Beschränkungsver­bot“ gilt, muss der EuGH nun wohl zwangsläufig auf die Regelungen in den aktuell geltenden EU-Verträgen zurückgreifen. Ein Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung ist als Antwort schwerlich möglich, da diese sich mit dieser sehr speziellen Frage niemals beschäftigt hat. Damit muss eigentlich die gültige, insbesondere durch „Lissabon“ geänderte Fassung der Verträge in den Blickpunkt seiner Überlegungen rücken. Und dann ist es wohl schwer möglich, die Änderungen der Verträge gänzlich zu ignorieren.

Überwiegend wird erwartet, dass der EuGH die Klagen von Polen und Ungarn ablehnen wird. Dass er dabei so klare Worte wählt, dass eine generelle Judikaturwende eintritt, der EuGH also von seiner Theorie der „Beschränkungsverbote“ abrückt, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Aber er könnte zum Beispiel die grundsätzlichen Ziele der Verträge, etwa den sozialen Fortschritt, die soziale Sicherheit oder die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit, als Grundlage (oder auch nur als „Rechtfertigung“) der geänderten Richtlinie heranziehen, ohne auf seine Rechtsprechung zu nationalen Regeln überhaupt einzugehen. Auch das wäre schon eine wichtige Bresche in einer bisher unüberwindbar erscheinenden Judikaturlinie: Denn wenn diese Ziele eine die Dienstleistungsfreiheit – aus EuGH-Sicht – beschränkende Richtlinie „tragen“ – warum sollte das nicht auch für nationale Regeln gelten? Natürlich ist es aber auch möglich, dass der EuGH erneut jegliche Befassung mit der Entwicklung der europäischen Verträge vermeidet. Der Urteilsvorschlag (Schlussantrag) des Generalanwaltes deutet in diese Richtung.

Eine ausführliche Darstellung der juridischen Überlegungen des Autors zur Entwicklung der EU-Verträge und zu weiteren Einwänden gegen die dargestellte Rechtsprechung des EuGH erscheint in Heft 3/2020 von „Das Recht der Arbeit“.

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