Jedes EU-Gesetz beginnt mit einem Vorschlag der Europäischen Kommission. Dieser Vorschlag wird in den meisten Fällen an die beiden Gesetzgeber, das Europäische Parlament und den Rat der EU, weitergeleitet, dort debattiert und verabschiedet. Was jedoch kaum jemandem bekannt ist: Mit dem sogenannten Regulatory Scrutiny Board (RSB) gibt es ein Gremium, das über Folgenabschätzungen einen weitreichenden Einfluss auf neue Rechtsvorschläge hat.
Was macht das RSB?
Im Rahmen der EU-Agenda zur besseren Rechtsetzung hat die Europäische Kommission (EK) das ‘Regulatory Scrutiny Board’ geschaffen. Das RSB bewertet die Qualität von Entwürfen zu Folgenabschätzungen, Eignungsprüfungen (‚fitness checks‘) und wichtigen Evaluierungen innerhalb der Kommission. Alle wichtigen EU-Rechtsvorschläge werden von solchen Berichten begleitet und das RSB gibt hierzu Stellungnahmen und Empfehlungen ab. Die Stellungnahmen des RSB haben einen potenziell weitreichenden Einfluss. Wenn das Gremium eine negative Stellungnahme zu einem Entwurf erstellt, muss dieser von den Diensten der Kommission überarbeitet und erneut dem RSB vorgelegt werden. Wenn das Gremium eine zweite negative Stellungnahme erstellt, kann nur der Vizepräsident der EU-Kommission und Kommissar für „Interinstitutionelle Beziehungen und Vorausschau“ die Initiative dem Kollegium der Kommissar:innen zur Entscheidung darüber vorlegen, ob der Vorschlag weiterverfolgt werden soll oder nicht. Folglich besitzt das RSB eine De-facto-Vetoposition im legislativen Prozess.
…und wer steckt dahinter?
Aktuell setzt sich das RSB aus sechs Expert:innen zusammen. Davon kommen der Vorsitzende und drei Mitglieder aus der Kommission und zwei der Expert:innen sind extern rekrutiert. Als unabhängig, wie sich das RSB gerne sieht, kann das Gremium damit keinesfalls bezeichnet werden. Die aktuelle Zusammensetzung des RSB benachteiligt zudem Frauen (nur zwei von sechs Mitgliedern sind weiblich, zeitweise war das Geschlechterverhältnis noch schlechter) und hat einen deutlichen Überhang an Mitgliedern mit einer ökonomischen Ausbildung. Die Mitglieder arbeiten Vollzeit für das Board für einen Zeitraum von drei Jahren, mit der Möglichkeit einer Verlängerung um ein weiteres Jahr.
Stellungnahmen verzögern und verwässern neue EU-Gesetze
Das RSB veröffentlicht Jahresberichte, die zeigen, dass das RSB von 2016 bis 2021 insgesamt 314 Entwürfe zur Folgenabschätzung überprüft hat. Die Anzahl der überprüften Entwürfe variierte von Jahr zu Jahr, wobei 2018 und 2021 die produktivsten Jahre waren. Im Jahr 2021 hat das RSB die meisten negativen Stellungnahmen erstellt, insgesamt 31. Im Durchschnitt sind 39 % der Stellungnahmen negativ. Bei den zweitnegativen Stellungnahmen des RSB von 2016 bis 2021 handelt es sich mehrheitlich um Umwelt- und Sozialgesetzgebung. Da es nach zwei negativen Stellungnahmen eine Entscheidung im Kollegium der Kommissar:innen benötigt, kann es zu Verzögerungen und Verwässerungen bei diesen Gesetzesvorschlägen kommen, wie die Beispiele unten zeigen.
Auswirkungen in der EU-Gesetzgebung
Kritiker:innen argumentieren, dass durch das RSB eine Beeinflussung der Gesetzgebung zugunsten großer Industrien durch die Hintertür stattfindet. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidungsfindung zur Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit, besser bekannt als das Lieferkettengesetz. Im Zuge der Entscheidungsfindung innerhalb der Kommission kam es zu Lobbykontakten zwischen den Unternehmensvertreter:innen und dem RSB. Ziel der Industrie war es dabei, freiwillige statt gesetzliche Maßnahmen bei der Umsetzung des Gesetzes sicherzustellen und damit potenziell ehrgeizige Sozial- und Umweltziele zu untergraben. Das Gesetz wurde am Ende sehr abgeschwächt angenommen, wodurch die meisten Unternehmen in Europa nun von dem Gesetz ausgenommen sind. Zur Rolle des RSB kann gesagt werden, dass es zur Politisierung beigetragen hat. Sowohl das Lieferkettengesetz als auch das Beispiel des Rechts auf Reparatur zeigen weiterhin auf, dass die Hauptarbeit und Tätigkeiten des RSB intransparent sind. Aufgrund der fehlenden Transparenz laufen derzeit auch zwei Untersuchungen bei der Europäischen Ombudsstelle.
Zwei weitere Beispiele zeigen die problematische Stellung des RSB auf. Bei der Initiative zur Stärkung der Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit durch Lohntransparenz und der Initiative zur Verhinderung geschlechtsbasierter Gewalt bemängelte das RSB, dass die Verhältnismäßigkeit nicht ausreichend dargelegt und eine unzureichende Kosten-Nutzen-Analyse gemacht worden sei. Nachdem die sogenannte ‚better regulation toolbox‘ – das Instrument für den RSB zur Bewertung einer Folgenabschätzung – mehrheitlich aus der Tradition der better regulation kommt und vorrangig ökonomische Kriterien beinhaltet, zeigt sich, dass diese Kriterien oft ungeeignet sind, um Sozial- und Umweltaspekte zu bewerten.
Forderung: Agenda für bessere Rechtsetzung und RSB grundlegend überarbeiten
Erstens sollte die Agenda für bessere Rechtssetzung und die RSB-Toolbox erneut im Lichte der derzeit hohen Nachhaltigkeitsziele der aktuellen Kommission unter Ursula von der Leyen evaluiert werden, um höhere Sozial- und Umweltstandards zu gewährleisten. Zweitens sollte nicht zwischen positiven und negativen Stellungnahmen unterschieden werden, um die Politisierung des EU-Gesetzgebungsprozesses zu reduzieren. Drittens soll die De-facto-Vetomacht des RSB abgeschafft werden, um den Gesetzgebungsprozess zu beschleunigen und die Polarisierung unter den politischen Entscheidungsträger:innen zu reduzieren. Viertens soll die EK größere Transparenz und erleichterten Zugang zu den RSB-Dokumenten gewährleisten, da das RSB die Politikgestaltung hinter verschlossenen Türen fördert und öffentliche Rechenschaftspflicht vermissen lässt.