EU-Schuldenregeln: Kürzungswelle rollt auf den Euroraum zu

24. Mai 2024

Nach jahrelangen Debatten einigten sich Kommission, Rat und Parlament noch auf den letzten Drücker vor den EU-Wahlen auf eine Reform der sogenannten Fiskalregeln. Diese legen fest, wie stark sich die Mitgliedstaaten verschulden dürfen – und folglich, wie radikal sie Ausgaben kürzen oder Steuern erhöhen müssen. Aufgrund der nun geltenden Regeln ist bis 2028 mit einer Serie an milliardenschweren Konsolidierungspaketen zu rechnen, die sehr wahrscheinlich Wirtschaft, Sozialstaat und Klimaschutz bremsen werden.

Regeln für eine andere Zeit

Die Schranken für den maximalen Staatsschuldenstand bzw. die Neuverschuldung prägten den Euroraum seit seiner Gründung. Jedes Land, das dem Euro beitreten wollte, musste das Defizit zumindest auf unter 3 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) senken. Lag die Staatsschuldenquote über dem damaligen EU-Schnitt von 60 Prozent des BIP, musste sie sich diesem Wert zumindest annähern. 1997 wurden sie unter dem Stichwort „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ in europäisches Dauerrecht übernommen.

Während die Regeln seither mehrfach geändert wurden, blieben die Werte gleich, obwohl sich ihr Bezug deutlich geändert hat: Die langfristigen Zinsen und strukturellen Defizite sind deutlich niedriger; die Staatsschuldenquote ist zwar gestiegen, jedoch weit weniger rasch als in den anderen großen Volkswirtschaften wie USA, China oder Japan.

Noch vor Ausbruch der Pandemie wurde von der Kommission eine neuerliche Reform eingeleitet, um die Fehler der letzten Verschärfung im Nachgang der Finanz- und Wirtschaftskrise zu korrigieren, die in einigen Ländern zu sozialen Verwerfungen und einem beispiellosen Einbruch der öffentlichen Investitionen geführt hatte. Um den pandemiebedingten Wirtschaftseinbruch abfedern zu können, wurden die Regeln ausgesetzt. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ließen Defizite und Staatsschuldenquoten in die Höhe schnellen – und mit ihnen den Reformdruck.

Europäische Gewerkschaften, NGOs und einige Ökonom:innen warnten vor den Folgen nur unzureichend gelockerter Vorgaben oder gar einem Wiedereinsetzen der alten Regeln: Pensionskürzungen, Stellenabbau, Leistungskürzungen im Gesundheitswesen, Massensteuererhöhungen, Einbruch der Investitionen auch in den Klimaschutz usw., wie sie die Bevölkerung in Griechenland Anfang der 2010er-Jahre leidvoll erfahren musste, könnten zu einem neuerlichen Wirtschaftseinbruch, Massenarbeitslosigkeit und sozialer Misere führen – und damit auch zu einer noch höheren Staatsschuldenquote.

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Mittelfristige Budgetpläne und Probleme

Die Warnungen zeigten zum Teil Wirkung: In den nun beschlossenen Fiskalregeln wurden die zuletzt geltenden unrealistisch radikalen Vorgaben für den Schuldenabbau gestrichen. Mittelfristig könnte nun eine Stabilisierung der Staatsschuldenquote bzw. Annäherung an die 60 Prozent des BIP reichen. Das käme insbesondere künftigen Generationen zugute, weil so eher stärkere Verzögerungen bei den öffentlichen Investitionen in den Klimaschutz oder Kürzungen bei den Ausbauplänen für Bildung und Kinderbetreuung vermieden werden können.

Statt jährlich neu berechneter – und damit schwankender – konkreter Budgetziele sollen nun sogenannte Fiskalstrukturpläne bestimmend werden, die grundsätzlich vier Jahre gelten. Sie fokussieren auf Höchstgrenzen für das jährliche Wachstum der Staatsausgaben, deren Einhaltung in der Folge laufend überwacht wird. Wird ein Paket an Reformen und Investitionen geschnürt, bekommen die Mitgliedstaaten bis zu drei weitere Jahre Zeit, um die Budgetziele zu erreichen.

Nun gibt es aber drei wesentliche Probleme:

  1. In schlechten Zeiten benötigt die öffentliche Hand mehr Spielraum, um gegensteuern zu können. Innerhalb der Fiskalregeln gibt es dafür nur den voraussetzungsvollen Mechanismus ihrer Aussetzung – aber nichts, um beispielsweise in der aktuellen Wirtschaftsflaute gegen die steigende Arbeitslosigkeit regelkonform aktiv zu werden.
  2. Die EU-Kommission hat einen zu großen Spielraum, wenn es um die Beurteilung der Reform- und Investitionspakete geht. So besteht die Gefahr, dass sie neuerlich Pensionskürzungen, Einschränkung des Arbeitsrechts oder Ähnliches verlangt, um mehr Zeit und damit einen sanfteren Kürzungspfad zu genehmigen. Den Mitgliedstaaten bliebe dann nur die sprichwörtliche Wahl zwischen Pest und Cholera. Allerdings besteht auch die Chance auf sinnvolle Auflagen wie einen stärkeren Ausbau der Kinderbetreuung, mehr Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Beschleunigung des Klimaschutzes etc. Hier wird das Ergebnis der EU-Wahlen bzw. der Besetzung der neuen Kommission eine wichtige Rolle spielen.
  3. Die Neuregelung räumt der Kommission weitreichende Freiheit bei der Wahl der Methode ein, mit der sie beurteilt, ob die Staatsschuldenquote ausreichend schnell abgebaut wird. Die nun gewählte Methode führt zu weiteren Problemen.

Was steht uns bevor?

Erst nach Trilog-Einigung veröffentlichte die Kommission, wie die sogenannte Schuldentragfähigkeitsanalyse durchgeführt wird. Das Ergebnis ist ernüchternd: Zwar wird die EU-Kommission die genauen Zahlen erst veröffentlichen – vorsorglich erst knapp nach den EU-Wahlen; Basierend auf ihrer neuen Prognose hat das Bruegel-Institut aber erste Schätzungen berechnet (öffentliche Vorversion hier):

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Dem Euroraum drohen bis 2028 sukzessive mehr Ausgabenkürzungen, die sich am Ende auf über 360 Mrd. Euro belaufen (rund 2,1 Prozent der Wirtschaftsleistung), die dann – gemessen als Abweichung zu einem Szenario ohne Konsolidierung – pro Jahr weniger zur Verfügung stehen. Ohne abfedernde Steuererhöhungen wird das nicht ohne deutliche Abstriche bei Bildung, sozialer Sicherheit und Klimaschutz zu machen sein.

Besonders betroffen ist Italien: Die dortige Regierung müsste demnach in den nächsten vier Jahren mindestens 100 Mrd. Euro konsolidieren – mit dramatischen ökonomischen wie sozialen Folgen, die den Schuldenabbau erst recht wieder gefährden.

Absurde Annahmen bringen Verschärfung

Schaut man hinter die Kulisse der Methode, zeigt sich die Absurdität der Übung: Demnach reicht es nicht allein, die Staatsschuldenquote zu senken; es muss auch gewährleistet sein, dass die Quote in den zehn Jahren nach Planende weiter sinkt – selbst dann, wenn die Fiskalregeln in der Zukunft wieder gebrochen werden. Konkret rechnet die Kommission damit, dass die langfristig steigenden demografiebedingten öffentlichen Ausgaben nicht in den folgenden Fiskalstrukturplänen kompensiert, sondern ausschließlich mit höheren Schulden finanziert werden – obwohl die Fiskalregeln genau das ausschließen. Und um diesem Schuldenzuwachs vorzubeugen, muss die Konsolidierung folglich bereits im aktuellen Plan umso schärfer sein.

Naheliegender wäre es, davon auszugehen, dass Regeln, an die sich alle halten sollen, aktuell und künftig tatsächlich eingehalten werden. Allein ein Wechsel auf die letztere Annahme würde Milliarden an Budgetspielraum bringen. Legt man obige Bruegel-Vorgaben um, so zeigt sich, dass jedes Land mehr konsolidieren muss, als der von Rat und Parlament verhandelte Sicherheitsabstand zu den 3 Prozent (konkret 1,5 Prozent des BIP) erfordern würde. In Ländern mit besonders hoch geschätzten Anstiegen der Alterungskosten, wie Spanien oder Portugal, ergeben sich implizit nun sogar zum Teil striktere mittelfristige Budgetziele als mit den alten Regeln. Das ist für die Sozialstaatsfinanzierung in Europa besonders gefährlich, weil z. B. ein unterschätzter Anstieg der Erwerbstätigen zu einem verstärkten Kürzungsfokus auf Pensions-, Gesundheits- und Pflegeausgaben führt. Ähnlich verhält es sich mit überschätzten Zinsen.

Zu wenig Spielraum für Zukunftsinvestitionen und sozialen Fortschritt

Die drohende Konsolidierungswelle könnte den Ausstieg aus der fossilen Produktions- und Konsumweise um Jahre verschieben oder den weiteren sozialen Fortschritt bremsen – obwohl die europäischen Gesellschaften nach Pandemie und Teuerungskrise bereits fünf Jahre des Rückschritts hinter sich haben. Zumal nach Auslaufen der EU-Zusatzmittel zur Stabilisierung der Investitionen 2026 auch ohne Regeln schon offen wäre, wie auch nur das aktuelle Niveau gehalten werden kann. Weil die Ausgabenregel auch für das Wachstum der öffentlichen Investitionen gilt, anstelle sie auszunehmen, wie es im Sinne der vielfach geforderten goldenen Investitionsregel geboten wäre, ist die Gefahr der Streckung, Verschiebung oder gar Streichung von Investitionsprojekten besonders hoch.

Immerhin gab es aber in der finalen Phase der Fiskalregel-Verhandlungen auf Druck des EU-Parlaments die Verbesserung, dass kofinanzierte Investitionen nicht durch die Ausgabenregel eingeschränkt werden. Wie viel diese Ausnahme bringt, hängt nicht zuletzt von der kommenden Wahl des EU-Parlaments ab, weil sie erst mittelfristig ein wesentliches Potenzial für politische Verbesserungen birgt: zum einen bei der Ausgestaltung des EU-Finanzrahmens 2028–2034, zum anderen bei der Frage, ob neuerlich EU-Zusatzmittel in die Hand genommen werden. Ob dieses Potenzial gehoben wird, wird wesentlich darüber entscheiden, ob es der EU im nächsten Jahrzehnt gelingen wird, den hohen und dringlichen öffentlichen Investitionsbedarf zur Erreichung der Klimaziele zu decken.

Und was ist mit der sozialen Dimension der Reform? Im Zuge der Haushaltsprüfung durch die EU-Kommission werden künftig soziale Ziele stärker berücksichtigt. Dem steht gegenüber, dass wir vor einer Konsolidierungswelle stehen. Zwar wird diese gegenüber den alten Regeln abgemildert und zeitlich gestreckt, dennoch sind Einschnitte bei sozialen Ausgaben vorprogrammiert: Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsausgaben sind in allen Mitgliedstaaten die größten Budgetpositionen, sodass eine Konsolidierung fast zwangsläufig stark zu deren Lasten geht – zumindest dann, wenn nicht auch einnahmenseitig angesetzt wird.

Was bedeuten die neuen Regeln für Österreich?

Auch im neuen EU-Regelwerk steht die Bundesregierung vor einer substanziellen Konsolidierungsherausforderung, wenngleich diese gegenüber den alten Regeln im kommenden Jahr um bis zu 1,3 Mrd. Euro reduziert werden könnte, wenn die Bundesregierung zusätzlich ein geeignetes Investitions- und Reformpaket verabschiedet. Abhängig von der DSA, erspart sich Österreich mittelfristig eine Einschränkung des jährlichen Spielraums sogar um bis zu 1 % des BIP (also rund 6 Mrd. Euro 2028), da das Defizit nun nicht mehr auf einen Wert von 0,5 Prozent des BIP abgesenkt werden muss.

Um diese Erleichterung nutzen zu können, muss die Bundesregierung aber auch gemeinsam mit Ländern, Städten und Gemeinden die nationale Schuldenbremse reformieren. Diese ist sogar noch rigider als die alten europäischen Regeln ausgestaltet. Davon bekam man allerdings bislang wenig mit, da sie erst 2017 – durch die gute wirtschaftliche Entwicklung problemlos – in Kraft trat und mit Pandemie-Beginn 2020 bereits wieder ausgesetzt wurde, weil sie nicht mehr einzuhalten war. Ab 2025 würde sie aber wieder gelten – und einen unmittelbaren Korrekturbedarf auslösen. Bei dieser Gelegenheit sollte der Fehler der Vergangenheit vermieden werden, dass Doppelgleisigkeiten zu den europäischen Regeln geschaffen werden. Ein unnötig rascher bzw. starker Schuldenabbau ginge nämlich zulasten von Möglichkeiten in der Zukunft (Investitionen in den Klimaschutz, Verbesserung der sozialen Dienste und der Daseinsvorsorge, Bildungschancen künftiger Generationen etc.). Angesichts der neuerlichen Komplexität ist die Angleichung aber ein schwieriges Unterfangen.

Unabhängig davon ist die Konsolidierung für Österreich kurzfristig eine Herausforderung. Mit einem Defizit von 2,7 Prozent des BIP 2023 und einem erwarteten neuerlichen Anstieg 2024 ist sie jedoch unvermeidbar – trotz offener sozialer wie ökologischer Herausforderungen, die es auch noch zu adressieren gilt. Es ist eine der großen Fehlleistungen der alten Bundesregierung, dass sie der nächsten keinen Spielraum übergibt, sondern einen milliardenschweren Konsolidierungsbedarf.

Schlussfolgerungen

Mit der Fiskalregel-Reform wurde eine Chance verpasst, eine ausgewogene wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene zu verankern. Sie bleibt einseitig fixiert auf Einschränkungen der Budgetpolitiken der Mitgliedstaaten – obwohl angesichts der vielfältigen Herausforderungen vielmehr daran gearbeitet hätte werden sollen, wie Europa handlungsfähiger wird.

Was sie gebracht hat, ist eine potenziell geringere Konsolidierungsverpflichtung – es wird sich allerdings erst in der Praxis weisen, wie groß der relativ gesehen größere Budgetspielraum tatsächlich sein wird, da wesentliche Dinge wie der Umgang der Kommission mit den Investitions- und Reformpaketen noch offen sind. Hochproblematisch wäre eine Verknüpfung von Reformmaßnahmen, die zulasten der Arbeitnehmer:innen gehen – wie sie etwa in Griechenland oder Portugal im Rahmen der sogenannten Troika-Verhandlungen gang und gäbe war.

Gefragt sind jetzt neuerlich zusätzliche EU-Mittel, denn ohne Flankierung wird die Konsolidierungswelle zulasten wichtiger anderer Ziele gehen – wie insbesondere des sozialen Ausgleichs und des Klimaschutzes.

Eine ausführlichere Vorversion mit mehr Details zu den Regeln und dem geschichtlichen Hintergrund erscheint in der kommenden Ausgabe 2/24 des Infobrief eu & internationales.

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