Soll der Staat bei Bildung, Gesundheit und Sozialem kürzen? Austeritätspolitik seit der Finanzkrise im Vergleich

20. Oktober 2017

Die Kürzung von Staatsausgaben ist seit dem Ausbruch der Finanzkrise ein zentrales Element der europäischen Krisenpolitik. Nicht so in Österreich. Hierzulande entwickelten sich die öffentlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales robust. Dank seines Sozialstaates ist Österreich relativ glimpflich durch die Krise gekommen. Die südlichen Peripherieländer hingegen kürzten auch in diesen Bereichen in großem Ausmaß. Damit wurde nicht nur kurzfristig die Krise verschärft, sondern die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung auch langfristig beeinträchtigt.

Staatsausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales seit der Finanzkrise

Wie haben sich die Bildungs-, Gesundheits- und Sozialausgaben seit dem Ausbruch der Finanzkrise entwickelt? Im Zuge der Austeritätspolitik, die auf europäischen Sparvorgaben und dem Druck der Finanzmärkte basierte, sanken die realen (das heißt inflationsbereinigten) Ausgaben in der Peripherie der Eurozone markant. Am stärksten war Griechenland betroffen, das mit Abstand die umfangreichsten Budgetkonsolidierungsmaßnahmen durchsetzte. Die griechischen Gesundheitsausgaben sanken von 2008 bis 2015 real um fast die Hälfte; die Bildungsausgaben wurden um 15,4 % und die Sozialausgaben – trotz massiv steigendem Bedarf v. a. durch die explodierende Arbeitslosigkeit – um 28 % gekürzt. Auch in den anderen größeren südlichen Ländern – Italien, Spanien und Portugal – führte der Budgetkonsolidierungsdruck zu erheblichen realen Ausgabenkürzungen, wenngleich in geringerem Ausmaß als in Griechenland: Im Schnitt sanken die Bildungsausgaben in diesen drei Ländern um 12,9 %, die Gesundheitsausgaben um 18,7 % und die Sozialausgaben um 1,8 %.

Anders stellt sich die Situation in Österreich dar, wo die realen Staatsausgaben seit der Finanzkrise leicht angestiegen sind: um rund 5 % im Bildungsbereich, um 9,3 % bei Gesundheitsleistungen und um 9,9 % bei den Ausgaben für soziale Sicherung. Auffällig ist jedoch, dass der reale Ausgabenanstieg in den anderen Kernländern der Eurozone durchschnittlich höher ausfiel als in Österreich. Tatsächlich war der Anstieg der realen Staatsausgaben in Deutschland im Bildungswesen etwa drei Mal und im Gesundheitsbereich doppelt so hoch wie in Österreich.

Ein gut ausgebauter Sozialstaat hat in Österreich und anderen Kernländern der Eurozone maßgeblich zur Bewältigung der Krise beigetragen: Sie kamen im europäischen Vergleich relativ glimpflich davon, weil der automatische Anstieg der Sozialausgaben die Einkommen breiter Bevölkerungsteile in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit stabilisierte. In den südlichen Peripherieländern hingegen verursachten drastische Ausgabenkürzungen – die unter anderem gezielte Einschnitte bei Sozialausgaben beinhalteten – aufgrund von negativen Multiplikatoreffekten eine Vertiefung der Krise und enorm hohe Arbeitslosigkeit.

Hätte es in Österreich im Jahr 2008 einen Ausgabenstopp gegeben, der vorsieht, dass die nominellen Staatsausgaben nicht stärker als die Inflation steigen dürfen, dann hätten die Staatsausgaben in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales bis zum Jahr 2015 insgesamt um rund zehn Milliarden Euro gekürzt werden müssen. Für die Bildungsausgaben hätte das real ein Minus von 5,1 %, im Gesundheitsbereich eine Reduktion um 9,3 % und im Bereich Soziales um 10 % bedeutet. Diese markanten Einschnitte in den Sozialstaat hätten die Krise in Österreich vertieft und die mittel- bis langfristige Budgetsituation (aufgrund von reduzierten Steuereinnahmen und negativen Folgeeffekten der vertieften Krise auf die Staatsausgaben) verschlechtert. Darauf deuten nicht nur die aktuellen Erfahrungen der südlichen Peripherieländer hin, sondern auch Österreichs eigene Erfahrungen aus den 1930er-Jahren.

Konjunkturelle Effekte von Austeritätspolitik

Während die Peripherieländer der Eurozone im Allgemeinen bereits vor der Krise deutlich geringere Staatsausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales in Relation zur Wirtschaftsleistung auswiesen als Kernländer wie Deutschland und Österreich, führte die Austeritätspolitik seit 2010 zu einem weiteren Auseinanderdriften. Dass die enge Ausrichtung der europäischen Krisenpolitik auf Defizit- und Schuldenabbauziele ein folgenschwerer Fehler war, wird mittlerweile nicht nur vom Internationalen Währungsfonds anerkannt; es handelt sich dabei vielmehr um den empirisch und theoretisch abgesicherten Sachstand der internationalen Fachcommunity und ihrer prominentesten Vertreter. Auch wenn dieser Zusammenhang im deutschsprachigen Raum in der Regel ausgeblendet oder zur Seite geschoben wird: Der einseitige Austeritätskurs führte in den Peripherieländern kurzfristig zu einer Verschärfung der Krise und zu Verschlechterungen der Schuldentragfähigkeit.

Eine realistische Alternative zur Praxis der europäischen Sparpolitik hätte darin bestanden, die Krisenländer auf koordinierte Weise in der wirtschaftlichen Erholung zu unterstützen – etwa durch eine frühere Garantie der Europäischen Zentralbank, Spekulationen gegen die Staatsfinanzen einzelner Länder an den Finanzmärkten zu unterbinden sowie durch einen alternativen fiskalpolitischen Kurs, der unter anderem eine ausgewogenere Ausrichtung an beschäftigungs- und sozialpolitischen Zielen in der Peripherie sowie umfassendere und länger wirkende Konjunkturpakete in Kernländern erfordert hätte. Die USA machten es weitgehend richtig vor. Im Allgemeinen zeigen die Erfahrungen seit der Finanzkrise, dass expansive Fiskalpolitik die Erholung von Wirtschaftskrisen fördert, während prozyklische Sparpolitik die makroökonomischen Probleme verschärft; verfrühte Budgetkonsolidierung kann die Staatsschuldenquote sogar weiter erhöhen.

Langfristige Effekte von Austeritätspolitik

Austeritätspolitik hat jedoch auch langfristig schädliche Wirkungen, insoweit die durch die Sparpolitik bewirkte Vertiefung und Verlängerung der Krise etwa zur Entwertung von Produktionsanlagen führt oder die Langzeitarbeitslosigkeit erhöht, was sich negativ auf das zukünftige Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft auswirkt. Tatsächlich zeigt die Fachliteratur in zahlreichen Beiträgen, dass die jahrelange Krise enormen langfristigen Schaden verursacht hat, der innerhalb des Euroraums in den am härtesten von der Krise getroffenen Peripherieländern zweifellos am größten ist. In der Peripherie sind die Abwanderung junger Menschen in großer Zahl sowie die weiterhin enorm hohe Jugendarbeitslosigkeit besonders problematisch. Die Jugendarbeitslosenquote betrug im Jahr 2016 in Spanien, der viertgrößten Eurozonen-Volkswirtschaft, weiterhin 42 % und war in Italien, der drittgrößten europäischen Wirtschaftskraft, mit 38,4 % ebenfalls enorm hoch.

Der mit dem höchsten Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko konfrontierte Teil der Bevölkerung ist in aller Regel am härtesten von dem Abbau des Sozialstaats betroffen, der aus staatlichen Ausgabenkürzungen und den Folgen einer vertieften Krise resultiert. In Griechenland bedeutete das die Reduktion der Gesundheitsausgaben um fast die Hälfte bspw. drastische Einschnitte in die Budgets öffentlicher Spitäler, die gesetzliche Verschärfung der Anspruchsberechtigung von geistig oder körperlich beeinträchtigten Menschen auf sozialstaatliche Unterstützung sowie das Streichen von Präventionsprogrammen gegen HIV und Malaria. Diese Kürzungsmaßnahmen wirkten sich negativ auf die Gesundheit der Bevölkerung aus: Infektiöse und psychische Krankheiten nahmen zu, die Selbstmordraten schnellten in die Höhe.

Geringere reale Bildungsausgaben in der Peripherie sind problematisch. Zum einen, weil sie für junge, talentierte SüdeuropäerInnen weitere Anreize schaffen, die Region auf der Suche nach besseren Bildungsmöglichkeiten in Richtung Norden zu verlassen und zum anderen, weil die Bildungsleistungen sich für jene verschlechtern, die trotz der schwierigen Situation in Südeuropa bleiben. Das trägt nicht gerade zur Entschärfung des langfristigen Problems der strukturellen Polarisierung in Europa bei, das sich darin zeigt, dass die südeuropäische Peripherie wirtschaftlich gegenüber Kernländern wie Deutschland und Österreich in den letzten 15 Jahren weiter an Boden verloren hat.

Schlussfolgerungen

Aus den Erfahrungen mit der Austeritätspolitik im Euroraum folgt, dass erstens ein breiteres öffentliches Bewusstsein für die schützende Wirkung des Sozialstaates auf die konjunkturelle Entwicklung geschaffen werden muss. Zweitens gilt es, den langfristigen Folgen der Sparpolitik (z. B. Eurozonen-Desintegrationstendenzen und Arbeitsmarktproblemen) zu begegnen. Verstärkt werden diese negativen Tendenzen durch ein „More of the same“ in der europäischen Wirtschaftspolitik, die nach wie vor allzu oft auf kontraproduktive Weise „Strukturreformen“ forciert, die auf eine Deregulierung der Arbeitsmärkte und einen Abbau sozialer Schutzmaßnahmen abzielen.

Im Rahmen der anstehenden Debatten rund um institutionelle Reformen im Euroraum müsste es darum gehen, die Rolle der Fiskalpolitik neu zu definieren. Die Peripherieländer bräuchten ganz besonders mehr Spielraum: Zum einen, um ihr Bildungs- und Gesundheitssystem auf tragfähige Beine stellen zu können und zum anderen, um durch öffentliche Investitionen und Industriepolitik ihre volkswirtschaftlichen Strukturen zu erneuern. Mehr Spielraum wäre durch ein gemeinsames, gut dotiertes Eurozonenbudget ähnlich den Vorschlägen von Frankreichs Präsident Macron erreichbar, das einen stärkeren finanziellen Ausgleich ermöglicht. Alternativ ließe sich aber auch das bestehende Budgetregelwerk so umgestalten, dass mehr Spielraum entsteht: etwa durch Veränderungen in der Berechnungsmethode, die zur Einschätzung der Sparanstrengungen der Mitgliedsländer durch die Europäische Kommission verwendet wird oder durch die Einführung einer Regel, die Neuverschuldung für einen sinnvollen Ausbau der sozialen und ökologischen Infrastruktur sowie für öffentliche Investitionen von der Defizitberechnung ausnimmt sowie durch einfachere, transparente Fiskalregeln, welche die Wichtigkeit der Beeinflussung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse durch demokratische fiskalpolitische Entscheidungen anerkennen.

Dieser Beitrag basiert auf der soeben veröffentlichten ausführlicheren Studie „Österreichs Staatsausgabenstrukturen im europäischen Vergleich“.