Austeritätspolitik als folgenschwerer Fehler: Bemerkenswertes Eingeständnis des Internationalen Währungsfonds

20. November 2014

Die ab dem Jahr 2010 erhobene Forderung nach Budgetkonsolidierungsmaßnahmen in der ganzen Eurozone war ein folgenschwerer Fehler. Zu dieser bemerkenswerten Schlussfolgerung kommt ein vom Internationalen Währungsfonds (IWF) veröffentlichter Untersuchungsbericht zu den wirtschaftspolitischen Empfehlungen des IWF während der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Europäische Kommission sollte sich am IWF ein Beispiel nehmen und sich auch in der Praxis von der einseitigen Austeritätspolitik der letzten Jahre verabschieden – insbesondere durch eine koordinierte Ausweitung öffentlicher Investitionen.

Verfehlte wirtschaftspolitische Empfehlungen des IWF

Ein umfangreicher Evaluierungsbericht (pdf) beinhaltet harte Selbstkritik an den wirtschaftspolitischen Empfehlungen des IWF in den Krisenjahren. Die wichtigsten makroökonomischen Kritikpunkte des Berichts können kurz folgendermaßen zusammengefasst werden:

  • Es war ein folgenschwerer Fehler, dass der IWF ab dem Jahr 2010 in der gesamten Eurozone eine Politik der Staatausgabenkürzungen und Steuererhöhungen vorantrieb.
  • Die Erwartungen des IWF bezüglich des Wirtschaftswachstums waren in den Jahren 2010-2014 systematisch zu optimistisch. Der Grund dafür ist die Fehleinschätzung über das Ausmaß der negativen Effekte der Austeritätspolitik auf Wachstum und Beschäftigung.
  • In der Eurozone herrschten in den letzten Jahren institutionelle und makroökonomische Rahmenbedingungen vor, unter denen Austeritätspolitik besonders ausgeprägte negative Konsequenzen hatte. Angesichts hoher wirtschaftlicher Unterauslastung, eingeschränkter Effektivität geldpolitischer Maßnahmen und der fortgesetzten Entschuldungsbemühungen von privaten Haushalten und Unternehmen hätte der IWF, insbesondere in Ländern mit größerem fiskalpolitischem Handlungsspielraum, auf ausgeweitete Konjunkturprogramme drängen müssen, statt Austeritätspolitik zu fordern.

Der IWF ist mit der Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte und mit der Kreditvergabe an Länder beauftragt, die Probleme damit haben, sich an den Finanzmärkten zu refinanzieren. In den letzten Jahren war er ein zentraler Akteur im Zuge der Verhandlung und Umsetzung von Krisenprogrammen in den Peripherieländern der Eurozone.

Die Forderungen des IWF nach Austeritätspolitik in der ganzen Eurozone sind zudem repräsentativ für die wirtschaftspolitische Reaktion auf die Krise ab 2010. Denn auch die Europäische Kommission und die deutsche Bundesregierung unter der Führung Angela Merkels setzten auf eine Verschärfung der Sparpolitik als vermeintlichen europaweiten Ausweg aus der Krise.

Die Evaluierungsergebnisse über die Politikempfehlungen des IWF machen deutlich, dass die Austeritätspolitik der letzten Jahre verfehlt war; sie führte nicht nur zu verschärften Wachstumsrückgängen und steigender Arbeitslosigkeit, sondern erreichte auch ihr Ziel einer nachhaltigen Beruhigung der Finanzmärkte nicht. Denn die Verschuldungsproblematik in der Eurozone ist nicht nur ungelöst, sondern verschlimmerte sich durch die Austeritätspolitik zusätzlich: Die schlechte Wachstumsentwicklung ließ die Staatsschuldenquoten, die in Prozent des Bruttoinlandsproduktes gemessen werden, weiter ansteigen. Insbesondere die am stärksten von der Krise getroffenen Länder im Süden Europas – Griechenland, Spanien, Portugal und Italien – gerieten so in eine Spirale aus steigender Verschuldung und sinkender Inflation, wobei die derzeit in der Eurozone voranschreitende deflationäre Entwicklung die reale Schuldenlast weiter erhöht, weil die nominal fixierten Schulden mit einem steigenden realen Eurowert bedient werden müssen.

Austeritätspolitik und Wachstumsprognosefehler des IWF

Der IWF schätzte die wirtschaftliche Entwicklung in der Eurozone seit 2010, genau wie die Europäische Kommission, systematisch viel zu optimistisch ein:

Dekoratives Bild © A&W Blog
Daten: Prognosen unterschiedlicher Ausgaben des World Economic Outlook des IWF. © A&W Blog
Daten: Prognosen unterschiedlicher Ausgaben des World Economic Outlook des IWF.

Im April 2011 (violette Linie) prognostizierte der IWF sogar noch eine bessere wirtschaftliche Entwicklung in der Eurozone als ein Jahr zuvor (hellblaue Linie). Danach mussten die Vorhersagen jedoch schrittweise nach unten revidiert werden; besonders nach 2010 trübte sich die wirtschaftliche Lage in der Eurozone deutlich stärker ein als vom IWF ursprünglich prognostiziert. Laut der aktuellen Vorhersage aus dem Oktober 2014 (dunkelblaue Linie) wird das reale Bruttoinlandsprodukt in der Eurozone 2014 damit sogar unter dem Niveau des Jahres 2011 liegen. Für das Jahr 2014 beträgt der kumulierte Prognosefehler im Vergleich der Vorhersagen von April 2011 und Oktober 2014 beinahe 6 Prozentpunkte, was gleichbedeutend mit einer Reduktion der Wirtschaftsleistung in der Höhe von mehr als € 550 Milliarden ist.

Anfang des Jahres 2013 veröffentlichte IWF-Chefökonom Olivier Blanchard gemeinsam mit Daniel Leigh eines der am meisten beachteten ökonomischen Forschungspapiere der letzten Jahre (pdf). Die Autoren zeigen, dass die Prognosefehler des IWF bezüglich des Wirtschaftswachstums nicht zufällig verteilt sind. Vielmehr waren sie in jenen Ländern am größten, die ab 2010 die umfangreichste Austeritätspolitik geplant hatten – und umgekehrt dort am geringsten, wo Budgetkonsolidierungsmaßnahmen in geringerem Ausmaß in Planung waren.

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Quellen: Die Daten zur Prognose des Wirtschaftswachstums und zur geplanten Austeritätspolitik stammen aus dem World Economic Outlook des IWF im April 2010. Die aktuellen BIP-Daten sind aus dem World Economic Outlook im Oktober 2014.

Auf der horizontalen Achse ist das Ausmaß der geplanten Austeritätspolitik in den Jahren 2010/2011 abgetragen, das als Veränderung des strukturellen Budgetsaldos (in % des Output-Potenzials) gemessen wird. Die vertikale Achse bildet die Prognosefehler des IWF bezüglich des realen Wirtschaftswachstums für 2010/2011 ab. Der negative Zusammenhang dieser zwei Variablen, den die fallende Regressionsgerade anzeigt, verdeutlicht, dass die Wachstumsenttäuschungen in jenen Ländern am größten waren, wo die umfangreichste Sparpolitik geplant wurde – und umgekehrt.

Gründe für die unterschätzten Folgen der Austeritätspolitik

Im Mittelpunkt steht die ökonomische Debatte über die Höhe des sogenannten Fiskalmultiplikators. Dieser gibt an, um wieviel Euro sich das Bruttoinlandsprodukt ändert, wenn der Staat seine Ausgaben- und Einnahmenpolitik um einen Euro ändert. Je höher der Multiplikator, desto negativer sind die Wachstumsauswirkungen der Austeritätspolitik.

Im Jahr 2010 hatte sich nicht nur innerhalb des IWF, sondern auch in der Europäischen Kommission und in anderen Organisationen die Erwartung durchgesetzt, dass Austeritätspolitik sich sogar positiv auf Wachstum und Beschäftigung auswirken könne. Es herrschte also der Glaube vor, dass der Fiskalmultiplikator möglicherweise negativ, zumindest aber sehr niedrig sei. Dies beruht auf der theoretischen Vorstellung, dass Budgetkonsolidierungsmaßnahmen dazu führen, dass das Vertrauen von Haushalten und Unternehmen in die wirtschaftliche Zukunft zunehme; und das sorge für einen aktuellen Boom in Konsum und Investitionen, der die negativen direkten Effekte der Austeritätspolitik mehr als wettmache (pdf).

Diese Vorstellung von der gesamtwirtschaftlichen Heilsamkeit indirekter Erwartungseffekte hat sich erwartungsgemäß als völlig verfehlt erwiesen. Denn die ökonomische Fachliteratur zeigt ganz deutlich, dass zentrale Bedingungen für hohe Fiskalmultiplikatoren seit 2010 erfüllt sind. Das liegt an den wirtschaftspolitischen und institutionellen Rahmenbedingungen in der Eurozone:

  • Die Geldpolitik kann die aufgrund der Austeritätspolitik auftretenden Nachfragerückgänge nur teilweise kompensieren, weil ihre Effektivität stark eingeschränkt ist.
  • Es herrscht hohe wirtschaftliche Unterauslastung vor, das heißt zur Verfügung stehende Produktionsfaktoren wurden wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage nicht genützt. In einer solchen Situation ist staatliche Einnahmen- und Ausgabenpolitik besonders effektiv; öffentliche Ausgaben helfen dabei, ungenützte Produktionsfaktoren produktiv einzusetzen, sie verdrängen dadurch keine privaten Ausgaben.
  • Kreditbeschränkungen des privaten Sektors spielen eine wichtige Rolle, wie es während und nach schweren Finanzkrisen typischerweise der Fall ist. Der Privatsektor ist weiterhin damit beschäftigt, seine in den Vorkrisenjahren angehäuften Schulden abzubauen und gibt deshalb weniger für Investitions- und Konsumgüter aus. Deshalb hat der Staat eine spezielle Stabilisierungsfunktion. Wird sie nicht wahrgenommen, wirkt sich das zusätzlich destabilisierend aus.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Fiskalmultiplikatoren in den letzten Jahren höher als Eins – und damit deutlich höher als in den von IWF und Europäischer Kommission für ihre Wirtschaftsprognosen verwendeten Modellen – waren. Das erklärt den Zusammenhang zwischen den Prognosefehlern und der geplanten Austeritätspolitik.

Schlussfolgerungen

Der vom IWF veröffentlichte Untersuchungsbericht kommt angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre folgerichtig zu dem Schluss, dass die Forderung nach einschneidenden Budgetkonsolidierungsmaßnahmen ein folgenschwerer Fehler war. Dies ist jedoch nicht erst im Nachhinein erkennbar, sondern hätte bereits im Vorhinein erkannt werden müssen, wenn die Rahmenbedingungen im Euroraum angemessen berücksichtigt worden wären.

Dennoch ist das Ex-post-Eingeständnis des IWF absolut bemerkenswert, da es unter ÖkonomInnen und in wirtschaftspolitischen Schlüsselinstitutionen nur äußerst selten vorkommt, dass theoretische Positionen mit höchster wirtschaftspolitischer Relevanz mit der empirischen Evidenz konfrontiert und gegebenenfalls überdacht werden. Es ist höchste Zeit, dass sich die Europäische Kommission ein Beispiel am IWF nimmt und ihr eigenes wirtschaftspolitisches Handeln während der Finanz- und Wirtschaftskrise ebenfalls kritisch auf den Prüfstand stellt.

Die Wirtschaft der Eurozone braucht einen wirtschafts- bzw. budgetpolitischen Kurswechsel, eine Abkehr von der einseitigen Austeritätspolitik der letzten Jahre. Gefordert sind vor allem öffentliche Investitionen. Denn die Nachfrage im Euroraum ist schwach, während die Zinsen auf langfristige Staatsanleihen äußerst niedrig sind. Öffentliche Investitionen würden das Wirtschaftswachstum sowohl kurz- als auch langfristig erhöhen, wie der IWF in seinem jüngsten Lagebericht zur Weltwirtschaft überzeugend argumentiert. Investitionsvorreiter müssten jene Länder sein, die den größten fiskalpolitischen Handlungsspielraum haben, also Länder wie Deutschland und Österreich. Die vom IWF andiskutierte Umsetzung der goldenen Investitionsregel der Budgetpolitik könnte dabei helfen.