Wer den österreichischen Weg in Diktatur und Bürgerkrieg verstehen will, muss sich mit der damaligen Wirtschaftskrise beschäftigen. Bereits 1932 sagt Justizminister Kurt Schuschnigg im Ministerrat: „Die Parlamente aller in wirtschaftlicher Not darniederliegenden Staaten haben sich als ungeeignet erwiesen, Staat und Volk aus der Krise herauszuführen. Die Regierung stehe daher vor der Entscheidung, […] ob der nächste Kabinettswechsel nicht gleichbedeutend mit der Ausschaltung des Parlaments sein müßte. Bei einem solchen Notstand sei ein Regieren mit dem Parlament nicht möglich.“ Aus Angst, mit ihrer Krisenpolitik in der Volksvertretung zu scheitern und die Macht zu verlieren, schaltet die Regierung Parlament und Sozialdemokratie aus. Dieser Kurs wird zum „Katalysator für den Weg in den Austrofaschismus“ (Tálos/Manoschek). Auch in der heutigen Eurokrise greifen die politischen Eliten angesichts wachsender Widerstände zunehmend auf autoritäre Maßnahmen zurück. Am deutlichsten wird das in Griechenland. Welche Gemeinsamkeiten hat der Krisenstaat mit dem damaligen Österreich? Was können wir aus der Geschichte lernen?
Enorme Rezession und Arbeitslosigkeit
Die Parallelen beginnen bei den ökonomischen und sozialen Rahmendaten: Während in Österreich die Wirtschaftsleistung zwischen 1929 und 1933 um 22,5 Prozent fällt, schrumpft sie in Griechenland von 2009 bis 2013 um 21,6 Prozent. Ähnlich sind auch die Arbeitslosenquoten: Knapp 26 Prozent in Österreich 1933, knapp 28 Prozent in Griechenland heute. In beiden Fällen bedeutet das eine Verdreifachung gegenüber dem Vorkrisenniveau.
Politik gegen ArbeitnehmerInnen
Die Verantwortlichen reagieren auf beide Krisen mit Austeritätspolitik, die deren Kosten der breiten Bevölkerung aufbürdet: Verschärft wird etwa der Zugang zum Arbeitslosengeld. Während in Österreich 1934 50 Prozent der Betroffenen ohne Unterstützung sind, trifft das in Griechenland heute sogar auf 87 Prozent zu. Sie leben damit auch ohne Krankenversicherung. Zu beiden Zeiten richtet sich die Krisenpolitik zudem gegen jene, die noch Arbeit haben. Im Austrofaschismus werden Gewerkschaften verboten und Kollektivverträge aufgehoben. In Griechenland werden 2012 zahlreiche „zutiefst anti-gewerkschaftliche Gesetze“ beschlossen und Kollektivverträge ausgehöhlt. So können etwa bestimmte Unternehmen nun ihnen genehme, „gelbe“ BetriebsrätInnen einsetzen. Auch dürfen sie einseitig Vollzeit- in Teilzeitverträge umwandeln. Entlassungen wurden erleichtert und verbilligt. Wie in der Krise der 1930er nehmen in Griechenland Hunger und Obdachlosigkeit enorme Ausmaße an.
Austerität vertieft die Krise
Heute wie damals verschlimmert der Staat die Rezession, indem er seine Ausgaben stark zurückfährt. Die österreichische Regierung kürzt 1932, dem „Dogma des ausgeglichenen Budgets“ (Mattl) folgend, ihre Investitionen auf 0,7 Prozent der Ausgaben. Dieser Wert steigt später leicht, bleibt aber bis zum Ende des Regimes 1938 stets unter einem Drittel des Vorkrisenniveaus. In Griechenland und Europa insgesamt wird heute eine ähnlich krisenverschärfende Politik verfolgt: Die „ökonomische Weltanschauung der frühen 1930er“ erkennt Stephan Schulmeister etwa im Fiskalpakt, der heute Regierungen europaweit zu Kürzungen zwingt.
Geschützt werden Banken…
Zu beiden Zeiten gilt: Während die breite Bevölkerung leidet, werden die Interessen der Eliten geschützt. Die österreichische Regierung rettet 1931 die Credit-Anstalt (CA), damals größte Bank des Lands, mit 883 Mio. Schilling. Nach der Ausschaltung des Parlaments rettet Dollfuß zwei weitere Großbanken. Der Staat ist nun Haupteigentümer der Banken. Er nützt diese Einflussmöglichkeit jedoch nicht, um gegen deren „Kreditverweigerung“ (Weber) vorzugehen, die dazu beiträgt, dass die Wirtschaft am Boden bleibt. Vielmehr verpflichtet die Regierung sich gegenüber den AuslandsgläubigerInnen der Banken, auf ihre Mehrheitsrechte zu verzichten. Warum diese bankenfreundliche Politik? Österreichs Konservative erhalten jahrelang Parteispenden aus dem Finanzsektor. Zudem bestehen personelle Verflechtungen: Prominente Bankiers wie Richard Reisch oder Wilhelm Rosenberg sind vorübergehend als Finanzminister, Nationalbankpräsident oder Regierungsberater tätig. Auch in der griechischen Krise haben Bankenrettungen eine hohe Priorität: Für ihre Rekapitalisierung wurden bisher 58,2 Mrd. Euro an internationalen Hilfskrediten verwendet. Wie eine Attac-Studie zeigt, flossen von allen „Rettungsgeldern“ mindestens 77 Prozent in den Finanzsektor. Dessen Rettung kann als wahres Ziel der sogenannten „Hilfspakete“ betrachtet werden. Zu den ProfiteurInnen zählt etwa die Milliardärsfamilie Latsis, Haupteigentümerin der aufgefangenen „Eurobank Ergasias“. Auch in Griechenland erfüllen die Banken ihre Hauptfunktion, die Kreditvergabe an die Realwirtschaft, weiterhin nicht.
…und andere ökonomische Eliten
Eine zweite Gruppe, die von der griechischen Krisenpolitik geschont wird, sind die ReederInnen. Obwohl sie die größte Frachtschiffflotte der Welt kontrollieren und in den letzten zehn Jahren Gewinne im Ausmaß von 130 Mrd. Euro machten, wurden sie bis vor kurzem nicht besteuert. Eine Anfang 2013 eingeführte Steuer wird 60 bis 80 Mio. Euro jährlich einbringen, was einem effektiven Steuersatz von nur 0,5 Prozent entspräche. Eine dritte geschützte Gruppe sind Vermögende insgesamt, wie der Skandal um die „Lagarde-Liste“ zeigt: Christine Lagarde, damalige französische Finanzministerin, übergibt der griechischen Regierung im Oktober 2010 eine Liste von rund 2.000 GriechInnen, die mutmaßlich Schweizer Banken für Steuerbetrug nützen. An deren Verfolgung zeigen die Behörden jedoch bis heute kein Interesse.
Hayek und Mises liegen damals so falsch…
In beiden Krisen unterstützen führende ÖkonomInnen die verfehlte Austeritätspolitik: Friedrich August Hayek schreibt 1931, dass nur die Senkung von Löhnen und Preisen einen Aufschwung bringen könne. Ludwig Mises erklärt Gewerkschaften und Staatseingriffe zu den Schuldigen an der Krise. Er fordert „starke Männer“, die Gewerkschaften und Arbeitslosenversicherung abschaffen und Lohnsenkungen durchsetzen. Bereits 1927 hat er den italienischen Faschismus für seine „blutige Gegenaktion“ gegen die Sozialdemokratie gelobt. Dieses „Verdienst“ des Faschismus werde „in der Geschichte ewig fortleben“. Hayek, Mises und KollegInnen bilden ein „nahezu lückenlos geschlossenes Bollwerk“ (Senft) gegen eine staatliche Investitionspolitik und vertreten die „liberale Orthodoxie der Haute Finance“ (Berger). Ins Bild passt, dass Hayeks und Mises‘ Institut für Konjunkturforschung vom Bankenverband finanziert wird.
…wie Reinhart und Rogoff heute
Eine ähnlich fatale Rolle spielen ExpertInnen in der heutigen Krisenpolitik: Austeritäts-BefürworterInnen berufen sich gerne auf eine Studie der Harvard-ÖkonomInnen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, der zufolge das Wachstum ab einer Staatsverschuldung von 90 Prozent des BIP einbreche. So argumentiert etwa der für die Troika-Programme zuständige EU-Kommissar Olli Rehn, dass der Schuldenabbau auch dann oberste Priorität haben müsse, wenn das katastrophale soziale und ökonomische Folgen habe. KritikerInnen, die eine solche Formel für Unsinn halten, werden im April 2013 bestätigt: Eine Überprüfung der Reinhart/Rogoff-Studie ergibt, dass ihre Rechnung auf unvollständigen Daten basiert und die 90-Prozent-Regel falsch ist.
Druck auf die griechische Demokratie
Auch die oben zitierte Demokratiefeindlichkeit von Ludwig Mises findet sich bei heutigen ExpertInnen: Für Melvyn Krauss, Ex-Wirtschaftsprofessor der New York University, verhindert die Demokratie „schmerzhafte, aber nötige Reformen im Süden der Euro-Zone“. Ganz seinen Vorstellungen entsprechend wird die griechische Krisenpolitik zunehmend autoritärer. Nachdem die internationalen GläubigerInnen Premierminister Giorgos Papandreou im November 2011 zum Rücktritt gezwungen haben, kommt der ungewählte Ex-Zentralbanker Lucas Papademos an die Macht. Er bringt ein zweites Austeritätspaket auf Schiene, das etwa die genannten Einschnitte bei Gewerkschafts- und Arbeitsrechten enthält. Als im Frühjahr 2012 Neuwahlen anstehen, üben die GläubigerInnen massiven Druck aus, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten. Wolfgang Schäuble diffamiert die Linkspartei Syriza als „Demagogen“. Die Financial Times Deutschland übernimmt dieses Wording und ruft in einem auf Deutsch und Griechisch publizierten Leitartikel zur Wahl der konservativen Nea Dimokratia auf.
Völkerbund als „Troika der 1930er“…
Österreichs „Troika der 1930er“ ist der Völkerbund. Er gewährt 1931 einen Notkredit, die „Lausanner Anleihe“. Im Gegenzug wird Österreich wie das heutige Griechenland zu massiven Ausgabenkürzungen und Sozialabbau verpflichtet. Auch damals dient das Geld primär dem Schuldendienst. Über alle Ausgaben, die darüber hinausgehen, entscheidet der zur Überwachung nach Wien entsandte niederländische Diplomat Meinoud Rost van Tonningen. Der Völkerbund-Vertreter verfügt über eine „nicht zu unterschätzende Machtfülle“ (Berger).
…für das faschistische Regime in Österreich
Als Kanzler Engelbert Dollfuß 1933 das Parlament ausschaltet, unterstützt ihn Rost. In seinem Tagebuch notiert er: „Zusammen mit dem Kanzler und [Nationalbank-Präsident] Kienböck haben wir die Ausschaltung des Parlaments für nötig gehalten, da dieses Parlament die Rekonstruktionsarbeit sabotierte.“ Österreich, so Rost, brauche eine neue Regierungsform: „[N]ach meiner Vorstellung sollte das ein faschistisches Regime sein.“
Fazit: Griechenland darf nicht Österreich werden
Im Griechenland der 2010er wie auch im Österreich der 1930er Jahre verschärft eine verfehlte Austeritätspolitik die Krise. In beiden Fällen setzen Regierung und GläubigerInnen eine Politik des „Klassenkampfs“ (Chomsky) gegen die breite Bevölkerung durch, wofür sie zunehmend auf autoritäre Maßnahmen zurückgreifen. Doch trotz aller Parallelen gilt: Geschichte verläuft nicht nach mechanischen Zwängen. Griechenland muss heute nicht wie Österreich 1933/34 in Diktatur und Bürgerkrieg abgleiten. Um das zu verhindern, muss die Politik aufhören, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Die österreichische Regierung sollte die Lehren aus der eigenen Geschichte ziehen und ihre PartnerInnen in der EU von einer grundlegend anderen, demokratischen und sozialen Krisenpolitik im Sinn der breiten Bevölkerung überzeugen. Andernfalls läuft sie Gefahr, von künftigen HistorikerInnen dort verortet zu werden, wo die „Troika der 1930er“ eindeutig stand: auf der falschen Seite der Geschichte.