Prekäre Beschäftigungsperspektive von JungwissenschafterInnen

17. Januar 2019

Schlechte Bezahlung und auf kurze Zeit befristete Verträge bestimmen seit einigen Jahren die Arbeits- und Lebensverhältnisse von WissenschafterInnen. Junge WissensarbeiterInnen aus sozioökonomisch weniger privilegierten Elternhäusern sind davon besonders betroffen. Die Interessen jenes Prekariats zu organisieren, ist die IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen bemüht.

Wissenschaft als proletaroide Existenz

Max Weber bezeichnete vor 100 Jahren in seiner Schrift Wissenschaft als Beruf den akademischen Nachwuchs als „proletaroide Existenzen“ und zog Verbindungen zum Industriekapitalismus: „Und es tritt da der gleiche Umstand ein wie überall, wo der kapitalistische Betrieb einsetzt: die ‚Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln‘. Der Arbeiter, der Assistent also, ist angewiesen auf die Arbeitsmittel, die vom Staat zur Verfügung gestellt werden; er ist infolgedessen vom Institutsdirektor ebenso abhängig wie ein Angestellter in einer Fabrik: […] und er steht häufig ähnlich prekär wie jede ‚proletaroide‘ Existenz…“. Weber verwendete das Wort „prekär“ für akademische Lebensumstände, in denen WissenschafterInnen nicht über eigene Produktionsmittel verfügen, die es ihnen erlauben würden, nach Interesse und Wissbegierde zu forschen, und die daher in einem Abhängigkeits- und oft (Selbst-)Ausbeutungsverhältnis stehen.

Eine Verbesserung dieser Situation trat an den Universitäten erst in der kurzen, als Trente Glorieuses bezeichneten Phase sozialliberaler Reformen ein, die von den späten 1960er- bis in die 1980er-Jahre andauerte. Wissenschaft und Kunst wurden damals als konstitutiv für den demokratischen Prozess verstanden, weswegen man in sie investierte. Insbesondere in Westeuropa bewirkte die Blockkonkurrenz mit den sich als realsozialistisch verstehenden Staaten den Aufbau des keynesianischen Sozialstaats und den Ausbau demokratischer Mitspracherechte. In den späten 1980er- und 1990er-Jahren setzte jedoch eine neoliberale Wende ein, die sich auch in Arbeitsgesetzen niederschlug: Waren befristete Arbeitsverträge bislang die Ausnahme gewesen und erforderten zumindest eine sachliche Begründung, so führte Deutschland bereits 1985 mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz (BeschFG) prekäre Arbeitsverhältnisse ein. In Österreich markierten das Universitäts-Organisationsgesetz (UOG) 1993 und das Universitätsgesetz (UG) 2002 ein Jahrzehnt der grundlegenden Neugestaltung der staatlichen Universitäten hin zu unternehmerischen Hochschulen, was sich nicht zuletzt in der Kettenvertragsproblematik niederschlägt.

Scientific entrepreneurs

Überhaupt sind Universitäten Vorreiterinnen auf dem Weg zur umfassenden Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. Denn anders als im fordistischen Zeitalter der Industriegesellschaft erfolgt die massenhafte Ausbeutung der Ware Arbeitskraft im neoliberalen Zeitalter nicht mehr repressiv, sondern verführend. Die Arbeit in der Wissenschaft (ebenso wie jene im Kunst- und Kulturbereich) liefert hierfür eine Blaupause: Statt körperlicher Plackerei unter Aufsicht der Stechuhr gibt es die Freiheit zu forschen und zu lehren; Wissensarbeit ist nicht lästiger Zwang, sondern Tor zur Selbstverwirklichung. Da die Entfremdung zwischen Person und Arbeitskraft geringer ist, ist die intrinsische Motivation ausgeprägter. Zudem locken freiere Formen der Arbeitsorganisation wie „flache Hierarchien“, flexible Arbeitszeiten und autonomes Selbstmanagement. Statt Fremd- herrscht Selbststeuerung. War der/die ArbeiterIn am Fließband noch ein elendes Geschöpf, so ist im Neoliberalismus nun jede Arbeit durch „Freiheit“ veredelt.

Der Preis dieser Freiheit ist, zu scientific entrepreneurs, eigentlich zu RisikokapitalistInnen, zu werden. Insbesondere JungwissenschafterInnen unterliegen der betriebswirtschaftlichen Logik, in der jede Tätigkeit strategisch auf ihre weitere Verwertung im Lebenslauf beurteilt wird. Was hierfür nicht bezifferbar und somit nicht kapitalistisch verwertbar ist, hat keinen Wert. Wichtig für erfolgreiche WissensarbeiterInnen ist demnach die gute individuelle Performance. Nicht mehr Fabrikdisziplin und Anwesenheit zählen, sondern Flexibilität und Anpassungsbereitschaft an veränderte Förder-, Publikations- und Evaluationsbedingungen; keine Stechuhr, dafür aber (mindestens das Vortäuschen von) Einsatzbereitschaft rund um die Uhr; weiters ist Kreativität gefragt, also Angepasstheit und Unangepasstheit zugleich; auch hochgradige Spezialisierung in einem Forschungsbereich und zugleich Inter- und Transdisziplinarität sind wichtig.

Der Mangel an sozialer Sicherheit aufgrund der prekären Arbeitsverhältnisse wird unter neoliberalen Vorzeichen individuell verarbeitet. Was bleibt, ist der permanente Druck, wenigstens den Status quo zu halten. Es ist ein asozialer Druck, der sich von Vereinzelung und Konkurrenz nährt. War man früher ein kleines Rädchen im Unternehmen, so ist man nun in seinem Hamsterrad allein.

Arbeiterkinder als WissenschafterInnen?

Besonders betroffen von jenen Arbeitsbedingungen sind WissensarbeiterInnen, die durch die Bildungsexpansion der sozialliberalen Ära an die Universitäten gekommen sind. Jene ArbeiterInnenkinder, die sich für die Wissenschaft als Beruf entschieden, leben heute oft in sozioökonomisch schlechteren Situationen als ihre wesentlich geringer mit schulischer Bildung ausgestatteten Eltern. Das (sozialdemokratische) Versprechen sozialen Aufstiegs durch Arbeit erweist sich für diese Generation als Illusion.

Es ist nicht nur eine individuell frustrierende Erfahrung, selbst mit hochqualifizierter Bildung und Wissensarbeit stets nur einen Abwehrkampf gegen den sozialen Abstieg zu führen, sondern diese prekäre Arbeitsweise erlangt gesamtgesellschaftliche Relevanz, weil soziale Herkunft wieder eine Rolle spielt: Für die Frage, ob man den riskanten Weg der Wissenschaftskarriere weiterverfolgen will und kann, ist das persönliche ökonomische Kapital höchst bedeutend. Denn nicht genehmigte Drittmittel und nicht erhaltene oder gering entlohnte Lehraufträge bedeuten finanzielle Durststrecken, die man mit einem finanzkräftigen Elternhaus, einer Erbschaft oder anderen unterstützenden Netzwerken freilich leichter überwindet. Sind ArbeiterInnenkinder – übrigens ebenso wie MigrantInnenkinder – schon im Studium unterrepräsentiert, so sind sie es unter ForscherInnen erst recht. Der Wissenschaft erhalten bleiben letztlich nicht die Besten, sondern es reüssieren jene – das heißt erreichen unbefristete und höhere Stellen – die bereits ein akademisches und finanzkräftiges Herkunftsmilieu aufweisen. Denn dieses kann nicht nur Auslandsstudien und unbezahlte Praktika finanzieren, sondern vermag überhaupt erst trotz der Hürden zur Wissenschaftskarriere zu motivieren.

Organisiert euch!

Wissenschafts- und Universitätspolitik sind aber im Kern Gesellschaftspolitik. Wer was unter welchen Bedingungen erforscht, wirkt sich unmittelbar auf das gesamtgesellschaftlich verfügbare Wissen aus. Daher gilt es, die gemeinsamen Interessen der WissensarbeiterInnen, jener intellos précaires, zu organisieren. Dies unternimmt die anlässlich des Universitätsstreiks 1996 gegründete IG LektorIn­nen und WissensarbeiterInnen (www.ig-elf.at). Ihre AktivistInnen haben sich Expertise im Paragrafendschun­gel angeeignet, sind im Betriebsrat der Universität Wien vertreten und können als niederschwellige Ansprechpersonen Anfragen und Beschwerden an die zuständigen Einrichtungen weiterleiten.

Allerdings steht die Organisation vor nicht unerheblichen Herausforderungen, denn gerade die prekären Verhältnisse bewirken Disziplinierungseffekte: Die Sorge, sich durch Kritik an den Beschäftigungsverhältnissen eine mögliche Karriere in der Wissenschaft zu verpatzen oder überhaupt in der Erwerbslosigkeit zu landen, lässt die meisten verstummen. Zudem tritt an die Stelle kollektiver betrieblicher Konflikte und ihrer Lösungsstrategien, wie wir sie aus dem fordistischen Zeitalter kennen (Betriebsversammlungen, Streikdrohung …), im Neoliberalismus der atomisierte Wettbewerb.

Standen einst Unternehmen in Konkurrenz zueinander und waren innerhalb eines Unternehmens aufgrund fester Anstellungsverhältnisse Solidarität und gemeinsamer Arbeitskampf möglich, so haben heute prekäre Beschäftigungsverhältnisse zur Folge, dass jeder/jede mit jedem/jeder konkurriert. Das zerstört allein innerhalb einer Universität oder auch nur eines Instituts die Solidarität und den Gemeinsinn.

Politikempfehlungen

Die IG LektorIn­nen und WissensarbeiterInnen verabschiedete 2017 neue Leitlinien samt Forderungen an die Universitätsleitungen sowie die Wissenschaftspolitik (siehe http://www.ig-elf.at/uploads/media/IGLektorInnenWissensarbeiterInnen_Leitlinien.pdf). Darunter findet sich etwa die Forderung nach

  • unbefristeten Dienstverträgen, allen voran Entfristungen von Lehraufträgen;
  • (Re-)Demokratisierung der Universitäten durch Abschaffung der Kurien und der damit in Verbindung stehenden Hierarchien und Exklusionsmechanismen;
  • Transparenz bei inneruniversitären Postenvergabeabläufen und öffentlich einsehbare Begründung von Absagen.

Bislang ist die IG LektorIn­nen und WissensarbeiterInnen vorwiegend an der Universität Wien tätig, wo von rund 7.500 wissenschaftlichen MitarbeiterInnen die überwiegende Mehrheit – je nach Berechnungsgrundlage 80 bis 90 Prozent – befristet und prekär beschäftigt ist. Es wäre wünschenswert und erforderlich, die Organisierung österreichweit auszubauen und auf europäischer Ebene enger zu kooperieren, wie z. B. mit dem deutschen Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft (http://mittelbau.net/). Denn prekäre Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft schaden nicht nur den betroffenen Menschen, sondern sind letztlich der Qualität der Wissenschaft selbst abträglich.

 

Eine längere Version dieses Beitrags (inklusive Literaturhinweisen) findet sich in: Tamara Ehs / Christian Cargnelli / Anton Tantner, Organisierung prekärer Arbeit an österreichischen Universitäten, in: PROKLA. Zeitschrift Für Kritische Sozialwissenschaft, 48(193)/2018, S. 641–661. http://prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/1150