Wenn Sir Tony Atkinson ein Buch schreibt, ist ihm die Aufmerksamkeit der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft gewiss. In „Inequality: What can be done?“ trägt der Doyen der Verteilungslehre seine zentralen Forschungsergebnisse zusammen und schlägt eine Reihe von wirtschaftspolitischen Maßnahmen vor. Auch wenn die von Atkinson, der heute Hauptredner bei der Eröffnung des neuen Forschungsinstituts „Economics of Inequality“ (INEQ) an der WU Wien ist, vorgeschlagenen Mittel im Detail diskutierbar sind, so ist ihr Ziel klar: eine gleichere Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen.
Seit der Veröffentlichung von „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty muss jeder ernsthafte Debattenbeitrag zu Verteilungsfragen polit-ökonomische Überlegungen berücksichtigen. Atkinson nimmt diese Herausforderung in seinem neuen Buch nicht nur an, sondern er schafft konkrete Anknüpfungspunkte für die wirtschaftspolitische Auseinandersetzung mit der Verteilungsproblematik. Sein Schüler Piketty bezeichnet das 15 Maßnahmen umfassende Paket als „radikalen Reformismus“ – aber was soll das sein? Sind radikale Veränderungen und schrittweise Reformen der herrschenden Verhältnisse nicht zwei unterschiedliche Zugänge zu Wirtschaftspolitik?
Was heißt radikal?
Radikalismus scheint in der wirtschaftspolitischen Diskussion unterschiedlich definiert zu werden. So gelten Forderungen, deren Umsetzung als nicht realistisch erachtet wird, als radikal. Demnach ist Piketty mit seiner Forderung nach einer globalen Vermögenssteuer utopisch oder radikal, während Atkinson seine Maßnahmen auf nationaler Ebene ansetzt und als realistischer oder weniger radikal bezeichnet wird. Das widerspricht jenem Verständnis von Radikalität, nach dem eine Problemstellung an der Wurzel angepackt wird, also Wurzelbehandlung statt Symptombekämpfung betrieben wird. Demzufolge gilt wohl weder eine globale noch eine nationale Vermögenssteuer als radikal, solange sie die Besitzverhältnisse nicht substanziell ändert. Schließlich verwendet auch die politische und ökonomische Elite einen Radikalismus-Begriff: Hier wird jeder noch so vorsichtige Versuch einer Korrektur der Verteilungsschieflage als radikal diffamiert. Die Ideen von Piketty und Atkinson werden somit von konservativer Seite – unter anderem auch bei den Wirtschaftsgesprächen in Alpbach – immer wieder als radikal bezeichnet.
Dabei bestätigen neue wissenschaftliche Erkenntnisse, dass sich die Verteilungssituation immer mehr zuspitzt. Die OECD warnt in einem aktuellen Bericht vor gesellschaftlicher Polarisierung und sozialen Spannungen, weil die unteren 40% der Einkommensverteilung sukzessive abgehängt werden. Der IWF kommt jüngst zum Ergebnis, dass die Zugewinne bei den obersten Einkommensschichten nicht nach unten „sickern“ und der „Trickle-Down-Effekt“ ein Mythos ist. Die Daten zeigen auch, dass politische Entscheidungen für die steigende Ungleichheit mitverantwortlich sind: Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen der Senkung der Spitzensteuersätze und dem steigenden Einkommensanteil des Top 1% (siehe Abbildung). Diese einschneidenden Entwicklungen – das Davonziehen des obersten Verteilungsrands, das Zurückbleiben breiter Bevölkerungsteile – erfordern drastische Gegenmaßnahmen.
Veränderung der Spitzensteuersätze und des Einkommensanteils der Top 1% (1964-2009)