Berufserfahrung für formale Qualifikationen anzuerkennen, ist ein wichtiger Meilenstein für das lebensbegleitende Lernen und die Beteiligung an Weiterbildung. Der Ansatz ist in Österreich relativ neu. Das Projekt „Du kannst was“ stellt hier eine große Innovation dar. Andere Länder wie Frankreich und die Niederlande verfügen hier über viel mehr Erfahrung, die wir uns zunutze machen können.
Februar 2017 in Dijon: Ein Einwanderer aus Nordafrika, Hilfsarbeiter, nur die Pflichtschule abgeschlossen und arbeitslos. Niedrigqualifiziert, bildungsfern und chancenlos? Von wegen: Seine Augen glänzen vor Stolz. Seit zehn Minuten beschreibt er detailliert, wie er sein Dossier aufgebaut hat, wie er auf über 30 Seiten handschriftlich seine Kompetenzen beschrieben hat. Wie er dargelegt hat, welches Umfeld in seiner Arbeit es ihm erlaubt hat, seine beruflichen Fähigkeiten auszubauen. Und schließlich: Wie er die Fachjury davon überzeugt hat, dass er sein Handwerk mindestens auf dem Niveau eines Facharbeiters beherrscht (in Frankreich: Certificat d’aptitude professionnelle/CAP). Die Fachjury war sogar so sehr von seinen Kompetenzen angetan, dass sie ihm geraten hat, den nächsthöheren Bildungsabschluss (Brevet professionnel) anzustreben. Auf diesen bereitet er sich nun auch gerade vor und hat schon einige Bewerbungen laufen …
Die Rede ist von einem Interview mit einem Kandidaten der französischen Variante der Kompetenzanerkennung (VAE: validation des aquis d’expérience), das ich gemeinsam mit einer Berufskollegin aus den Niederlanden im Zuge einer „Peer Review“ in einer französischen Erstberatungseinrichtung heuer im Februar geführt habe.
Mit ERASMUS+ zu einer Symbiose aus Peer Review und Anerkennung
Die Verbindung aus Peer Review und Kompetenzanerkennung ist Inhalt des ERASMUS+ Projekts „Transnational Peer Review for quality assurance in Validation of Non Formal and Informal Learning (VNFIL) Extended“. Zehn Einrichtungen aus sieben Ländern auditieren sich gegenseitig, tauschen Know-how aus und helfen sich somit gegenseitig in der Qualitätsentwicklung und Innovation.
Das Eingangsbeispiel beschreibt, worum es bei der Anerkennung von Kompetenzen geht. Menschen lernen das Meiste im täglichen Leben und im Beruf. Der Kandidat aus Frankreich hat jahrelang als Hilfsarbeiter im Baugewerbe gearbeitet und sich dabei viele Kompetenzen angeeignet. Das einzige, was ihm noch fehlte, war ein entsprechender formaler Abschluss. Anerkennung von Berufserfahrung fokussiert auf die Stärken der Menschen. Die Grundidee besteht darin, Kompetenzen sichtbar zu machen, mit einem Standard bzw. formalen Bildungsabschluss zu vergleichen und anzuerkennen. Grundlage dafür ist die Empfehlung des Europäischen Rates vom 20. Dezember 2012 (2012/C 398/01).
Vier Schritte zur Anerkennung – drei Beispiele
Die Empfehlung des Europäischen Rates benennt vier Schritte zur Anerkennung:
· Identifizierung der Lernergebnisse: In der Regel wird in einem Erstgespräch geklärt, welche Kompetenzen eine Person auf nichtformalem oder informellem Weg erzielt hat.
· Dokumentation der Lernergebnisse: Im zweiten Schritt werden für diese Kompetenzen „Beweise“ gesammelt. Dazu gehören beispielsweise Schul- und Kurszeugnisse, Dienstzeugnisse, Arbeitsproben usw.
· Bewertung der Lernergebnisse: Die nachgewiesenen Kompetenzen werden nun mit einem „Standard“ verglichen. Ein solcher Standard ist eine definierte Qualifikation (z. B. ein Lehrabschluss).
· Zertifizierung: Wenn die bewerteten Kompetenzen einer Qualifikation entsprechen, wird ein formaler Abschluss ausgestellt (z. B. ein Lehrabschluss).
Im Zuge der Peer Reviews habe ich einen Einblick in die Validierung in Frankreich und den Niederlanden erhalten. Die Schritte zur Validierung in diesen Ländern sind mit dem österreichischen Projekt „Du kannst was“ vergleichbar. „Du kannst was“ wurde von den Sozialpartnern in Oberösterreich im Jahr 2009 entwickelt und gilt auch im internationalen Vergleich als Vorzeigeprojekt. Es wird derzeit in Oberösterreich, Salzburg, Niederösterreich und im Burgenland umgesetzt. „Du kannst was“ ist ein moderner, alternativer Weg zum Lehrabschluss durch eine gelungene Kombination aus Anerkennung von Berufserfahrung und Weiterbildung. Das Projekt konzentriert sich derzeit auf ausgewählte Lehrberufe (in Oberösterreich derzeit 19, in Salzburg acht, in Niederösterreich zwei und sieben im Burgenland).
Von Frankreich und den Niederlanden für den Ausbau in Österreich lernen
Frankreich und die Niederlande sind insofern weiter als wir in Österreich, da sehr viele Berufs- und Bildungsabschlüsse über den Weg der Anerkennung zugänglich sind. Beide Länder haben in den letzten 17 Jahren die europäische Strategie konsequent umgesetzt und ein umfassendes Netzwerk aus Beratungs- und Anerkennungseinrichtungen geschaffen. In Frankreich sind mehr als 10.000 Qualifikationen (inkl. universitärer Abschlüsse!) zugänglich, die im Nationalen Qualifikationsrahmen eingetragen sind (Le Répertoire National des Certifications Professionnelles /RNCP). Auch in den Niederlanden können Arbeitsmarktqualifikationen (EVP/Profile of Experience) und Bildungsabschlüsse (EVC/Certificate of Experience) auf diesem neuen Weg erreicht werden. Das holländische System ist zudem sehr dynamisch: Neue Qualifikationen können entsprechend der Arbeitsmarktnachfrage entwickelt werden.
Warum braucht es eine Validierungsstrategie in Österreich?
In Österreich gibt es derzeit noch kein übergreifendes System der Anerkennung. Einzelne gesetzliche Regelungen und Wege stehen nebeneinander.
Durch die Veränderungen in der Arbeitswelt kommt es zu neuen Berufsbiografien. Die Bildungswege werden flexibler und das Lernen ist ein Leben lang wichtig. Menschen mit geringer (formaler) Qualifikation kommen am Arbeitsmarkt immer mehr unter Druck. Wir sind mit Zuzug aus aller Welt konfrontiert und die Demografie bringt eine Alterung der Gesellschaft mit sich.
Es braucht daher eine erwachsenengerechte „zweite Chance“, die auf Vorwissen und erworbenen Kompetenzen aufbaut. Gerade im Erwachsenenalter ist es sehr schwierig, eine komplett neue Ausbildung zu beginnen. Durch Familie und Beruf sind die Zeitbudgets meistens viel knapper als in der Jugend.
Die Anerkennung von Berufserfahrung bzw. non-formal und informell erworbenen Kompetenzen ist damit ein zentraler Baustein für die Strategie des lebensbegleitenden Lernens. Motivierte und optimistische Menschen, die ihre Kompetenzen kennen und neue erwerben wollen, sind der beste Garant für den Bestand und den Aufschwung unserer wissensbasierten Gesellschaft.