Solidarischer Wohlstand und Lebensqualität als gesellschaftspolitische Aufgabe

12. Januar 2017

In unserem vorherigen Beitrag haben wir argumentiert, dass es seit einigen Jahren zwar eine intensive internationale Debatte darüber gibt, warum das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) kein angemessener Indikator für Wohlstand und Lebensqualität ist. Zugleich sind diese Diskussion und die damit verbundenen Vorschläge bislang jedoch kaum in politischen und medialen Öffentlichkeiten angekommen. In unserem Forschungsprojekt wurden Hindernisse und Möglichkeiten einer besseren Verankerung wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik auf der Basis von ExpertInneninterviews untersucht und im Rahmen von Workshops in der AK Wien zur Diskussion gestellt.

EU-Ebene: „Philosophieabteilung“ jenseits des BIP

Auf Ebene der Europäischen Union (EU) ist seit einigen Jahren eine widersprüchliche Entwicklung zu beobachten: Während auf der einen Seite in zunehmend autoritärer Form eine austeritäts- und wettbewerbszentrierte Wirtschaftspolitik durchgesetzt und institutionell verankert wird (Fiskalpakt, New Economic Governance, Wettbewerbsräte usw.), machen auf der anderen Seite blumige Worte von Wohlstand (Well-being) und Lebensqualität die Runde. Im Rahmen des Forschungsprojekts spricht ein Interviewpartner mit Blick auf diesen Widerspruch lakonisch von einer „Parallelwelt“: „Das eine gilt und wird exekutiert. Das andere ist die Philosophieabteilung.“ Doch dass es die auf soziale und ökologische Nachhaltigkeit setzende Parallelwelt überhaupt gibt, mag durchaus erstaunen. Dafür verantwortlich zeichnen die massiven sozialen und ökologischen Probleme, aber auch die Diskussionen um ein neues Wohlstandsverständnis und dafür angemessene Indikatoren.

Durch eine 2009 unter dem Titel „Das BIP und mehr“ (GDP and Beyond) seitens der Europäischen Kommission veröffentlichte Mitteilung gewann die Debatte um eine Erweiterung traditioneller Kennziffern gesellschaftlichen Wohlstands und Fortschritts um alternative Indikatoren nämlich auch hier an Fahrt. Dies sollte den Weg von einem einseitig am BIP-Wachstum orientierten in Richtung eines sozial-ökologisch erweiterten Modells weisen. Denn wie die Kommission noch 2014 mit Verweis auf die durch die Krise manifest gewordenen Probleme betonte, sei „eine Rückkehr zum Wachstumsmodell des vergangenen Jahrzehnts nicht nur illusorisch, sondern auch schädlich“. Im Jahr 2010 trat man deshalb an, um ein neues – konkret ein intelligentes, nachhaltiges und integratives – Wachstumsmodell aufzusetzen und unter dem Label Europa 2020 in eine Strategie zu gießen.

Mittlerweile ist es um GDP and Beyond ebenso wie um die damit verbundene Europa 2020-Strategie still geworden. In den im Rahmen des Forschungsprojekts geführten Interviews ist von verschiedenster Seite von „Papiertigern“, „Totläufern“ und „Feigenblattstrategien“ die Rede. Und dennoch: Nachdem die angesprochene Kommissions-Mitteilung von 2009 Impulsgeberin für verschiedene Initiativen auf Ebene der EU und der Mitgliedsstaaten war, blieb sie nicht wirkungslos.

Österreichische Ebene: jenseits der „echten“ Wirtschaftspolitik

Das gilt auch für Österreich, wo im Oktober 2012 Statistik Austria ihr Projekt Wie geht’s Österreich? (WGÖ?) präsentierte. Bezug genommen wurde dabei auf konzeptionelle Vorarbeiten, wie sie u.a. durch eine auf EU-Ebene eingesetzte Arbeitsgruppe im Rahmen der GDP and Beyond-Initiative entwickelt worden waren. Seit 2013 publiziert die nationale Statistikbehörde nun einmal jährlich ihren WGÖ?-Bericht in einer rund 200 Seiten starken Langfassung u.a. für die wissenschaftliche Fachwelt; in einer kompakten Kurzfassung u.a. für Politik und Verwaltung; und in einer prominent auf der Statistik Austria-Website platzierten Online-Version u.a. für die breite Öffentlichkeit.

Und wie wird das dort aufgenommen? Vor allem was die beiden letztgenannten Öffentlichkeiten betrifft, dominiert aufseiten der im Rahmen des Forschungsprojekts Interviewten Skepsis: „Das Set an Indikatoren wird veröffentlicht, und dann steht das halt in diversen Zeitungen – und das war es dann auch wieder“, meint da etwa einer mit Blick auf die breite (mediale) Öffentlichkeit. Und ein anderer betont mit Blick auf die politisch-institutionelle Fachöffentlichkeit: „Die wirtschaftspolitische Praxis richtet sich danach, das BIP zu steigern. Die Wachstumsdebatte, die Debatte um Indikatoren spielt in der echten Wirtschaftspolitik keine Rolle“.

Hier drängt sich die Frage auf: An welchen Hürden scheitert die Verankerung alternativer Kennziffern, eines damit verbundenen Wohlstands- und Fortschrittsverständnisses bzw. einer darauf basierenden Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik bislang? Und wie wären diese Hürden zu überwinden?

Praktische Verankerung: wesentliche Hürden und ihre Überwindung

Einige Studienergebnisse haben wir bereits genannt: So ist das BIP weiterhin das Nadelöhr vieler Entscheidungen. Zudem wird es – im Unterschied zu anderen Indikatoren – von vielen Akteuren als „ideologiefrei“ gesehen. In diesem Beitrag gehen wir verstärkt auf in den Interviews mit 20 ExpertInnen genannte Ansatzpunkte ein, um Politiken für solidarischen Wohlstand und Lebensqualität stärker in v.a. medialen und politischen Öffentlichkeiten zu verankern.

Neben einer Reihe flankierender Probleme und Lösungsstrategien stehen in Bezug auf erstere, also die breite (mediale) Öffentlichkeit, zwei Hürden im Zentrum. Die erste wird darin gesehen, dass der u.a. von WGÖ? ausgehende Impuls kaum aufgegriffen und in unterschiedliche Zusammenhänge hinein vermittelt wurde. Dies könnte sich dadurch ändern, dass verschiedene Akteure alternative Indikatoren als Einsatzpunkte wohlstandsorientierter Politik begreifen und sie – sei es mittels Lobbying- oder Beteiligungsverfahren – weiterverbreiten und weiterentwickeln.

Damit eng verbunden wäre die Überwindung einer zweiten Hürde, nämlich das grundsätzliche Vermittlungsproblem komplexer Indikatorensets im Vergleich zum BIP in seiner Einfachheit und Schlichtheit. Dafür erforderlich wäre in der Perspektive vieler InterviewpartnerInnen eine (noch) bessere Aufbereitung und Analyse der Daten, vor allem jedoch ihre (noch) bessere (fachliche) Legitimation sowie narrative Vermittlung in Gestalt einer neuen ,Erzählung‘ bzw. ,Theorie‘.

Wohlstand, Verankerung Wohlstandsorientierung © A&W Blog
Quelle: vereinfachte Darstellung von Tabelle II aus der <a href="https://emedien.arbeiterkammer.at/viewer/file?pi=AC13397506&file=AC13397506.pdf" target="_blank">Studie. © A&W Blog
Quelle: vereinfachte Darstellung von Tabelle II aus der Studie.

Auch im Hinblick auf die politisch-institutionelle Fachöffentlichkeit lassen sich resümierend zwei zentrale Hürden bestimmen: Eine erste Hürde wird darin gesehen, dass gewichtige Interessen und damit verbundene Machtasymmetrien einer besseren Verankerung alternativer Indikatoren im Wege stehen; aber auch dominante Vorstellungen von Wohlstand, wie sie in Institutionen (z.B. Fiskalrat) und Verfahren (z.B. Europäisches Semester) eingeschrieben sind. Eine Überwindung dieser Hürde könnte darin bestehen, in parlamentarischen, sozialpartnerschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Foren Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Prioritäten (z.B. ökonomische vs. ökologische Ziele) zu führen. Deren Ergebnisse wären alsdann – zwecks (Selbst-)Verpflichtung der Politik auf diese Ziele und zwecks indikatorenbasierter Überprüfung der verfolgten Zielpfade – institutionell festzuschreiben.

Eine zweite zentrale Hürde wird darin gesehen, dass das dominante Ressortdenken die Entwicklung integraler Ansätze verhindere. Deren Überwindung wird in der Etablierung einer ressortübergreifenden Koordination (z.B. durch das Bundeskanzleramt im Rahmen von Wohlstandsberichten) gesehen, um darüber ein Gesamtkonzept zu entwickeln und mittels umfassender Visionen durchzusetzen. Dies könne durch die Einrichtung eines Politikberatungsgremiums (z.B. Wohlstandsrat) unterstützt werden.

Fazit: den sozial-ökologischen Wandel denken – und Wohlstand schaffen

Die meisten der hier exemplarisch genannten Lösungsansätze für eine bessere Verankerung alternativer Indikatoren bzw. einer darauf basierenden wohlstandsorientierten Politik wurden im Rahmen der Interviews und Workshops kontrovers diskutiert. So wurde etwa seitens der Politik eine regelgebundene Form der Institutionalisierung mit verpflichtenden Zielen und einem indikatorenbasierten Controlling aufgrund ihres ,technokratischen‘ Charakters problematisiert. Und u.a. seitens der Verwaltung wurde die Etablierung eines (weiteren) Politikberatungsgremiums aufgrund einer bereits bestehenden ,Übersättigung‘ wenig wirksamer Fachbeiräte infrage gestellt.

Alleine die nach wie vor bestehende Un- und Unterbestimmtheit von Begriffen wie Wohlstand und Lebensqualität aber – ersterer Terminus verweist auf die gesellschaftlichen Bedingungen, letzterer darauf, was Menschen konkret daraus machen –, ist Grund genug, die Debatte fortzusetzen. Nicht zuletzt angesichts der auch in progressiven Zusammenhängen anhaltenden Schwierigkeit, im Hinblick auf das Ziel einer wohlstandsorientierten Politik soziale, wirtschaftliche und ökologische Fragen zusammenzudenken und entsprechend politisch zu handeln.

Dieser Beitrag beruht auf der Studie „Verankerung wohlstandsorientierter Politik“, die in der Reihe Working Paper Reihe „Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft“ der AK Wien erschienen ist. Voraussichtlich am 16.3. wird die Studie im Rahmen einer Veranstaltung präsentiert und diskutiert.