Zinswende und Finanzmarktstabilität

03. November 2023

Die radikale Zinswende der Europäischen Zentralbank stellt nicht nur Investitionen, Konjunktur und Beschäftigung auf die Probe, sie bringt auch Gewinner:innen und Verlierer:innen hervor. Zu Ersteren zählt der Bankensektor. Vor großen Herausforderungen stehen hingegen Kreditnehmer:innen, insbesondere in Österreich, wo viele Immobilienkredite variabel verzinst vergeben wurden. Das betrifft auch die Finanzmarktstabilität. Wohnbedarf muss ohne Überschuldung gedeckt werden können. Österreich hat erst spät Maßnahmen ergriffen, die Risiken bei der Vergabe von Immobilienkrediten beschränken.

Rasche Zinsschritte

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat beginnend mit Juli 2022 den Leitzinssatz in einer historisch einmaligen Weise innerhalb von 15 Monaten in bisher zehn Schritten auf 4,5 Prozent angehoben. Dies erfolgte als Reaktion auf angebotsseitige Schocks, ausgelöst durch Lieferkettenprobleme und den Anstieg der Energiepreise nach der russischen Invasion in der Ukraine.

Eine derartig drastische Anhebung hätte allerdings vorausgesetzt, dass eine nachfragebedingte Überhitzung und Überauslastung der Produktionskapazitäten vorliegt. Da dies nicht der Fall ist, besteht nun das Risiko, dass überschießende Zinsschritte die privaten und öffentlichen Investitionen – nicht zuletzt jene, die für die Transformation hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft und Gesellschaft notwendig sind –, Konjunktur und Beschäftigung übergebührlich bremsen, ohne die Ursachen der Inflation zu bekämpfen.

Zinsschritte wirken schnell am Kreditkanal

Beim Volumen der Kredite zur Eigenheimfinanzierung zeigt sich, dass der Zinskanal sowohl im Euroraum als auch in Österreich rasch und deutlich auf die drastische Zinswende reagiert hat. In Österreich war der Rückgang noch ausgeprägter als im Euroraum, folgte aber auf eine im Wesentlichen seit 2013 überdurchschnittlich hohe Wachstumsrate beim Kreditvolumen. Diese lag im Euroraum in den Jahren 2013 bis 2022 bei rund 3 Prozent, in Österreich hingegen bei rund 5 Prozent. Im Vergleich dazu betrug das BIP-Wachstum zu laufenden Preisen in der gleichen Zeit im Euroraum 3,2 Prozent, in Österreich 3,5 Prozent. Das Volumen der Kredite für die eigenen vier Wände wuchs also nicht nur viel rascher als im Euroraum, sondern auch im Vergleich zum BIP – eine nicht nachhaltige Entwicklung, die auch eine wesentliche Zutat für die Finanzkrise nach dem Kollaps von Lehman Brothers 2008 war.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Zinskanal auf der Habenseite verstopft

Auf der Habenseite – also der Seite der Sparer:innen – werden die höheren Zinsen nur sehr verzögert durch die Banken weitergegeben. Dies gilt auch im Vergleich zur letzten Zinsanhebungsepisode vor der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09. Die aktuelle Schere zwischen den Zinsen, die Banken für ihre Einlagen bei der EZB erhalten, und jenen, die sie ihren Kund:innen zahlen, ist eine Umverteilung von Sparer:innen und dem öffentlichen Sektor zum Bankensektor und trägt zu den Rekordgewinnen der Banken bei.

Immobilienkredite und Finanzmarktstabilität

Was die Situation in Österreich noch zusätzlich herausfordernder macht, ist der hohe und noch dazu zuletzt deutlich gestiegene Anteil variabel verzinster Immobilienkredite. Dadurch steigt bei steigenden Zinsen auch die Belastung der Haushalte und damit letztlich das Kreditrisiko. Seit 2006 öffnet sich eine Schere bei der Immobilienfinanzierung zwischen Österreich und dem Euroraum. Während der Anteil der variabel verzinsten Kredite im Euroraum seit 2006 kontinuierlich von rund 50 Prozent auf rund 25 Prozent gesunken ist, ist der Anteil in Österreich von 2006 bis 2015 von rund 50 Prozent auf über 70 Prozent gestiegen. Seit 2016 ließ sich ein Absinken des Anteils in Österreich auf etwa ein Drittel bis zur Jahresmitte 2022 beobachten. Zum Jahresbeginn 2023 gab es wieder einen sprunghaften Anstieg auf rund zwei Drittel. Im August 2023 lag der Anteil variabel verzinster Kredite immer noch bei rund 43 Prozent, während er im Euroraum knapp unter 20 Prozent lag.

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Der hohe Anstieg des Anteils variabel verzinster Kredite in Verbindung mit einem deutlichen, gleichzeitigen Anziehen der Immobilienpreise und Neukreditvergabe für Immobilien an private Haushalte in Österreich führte spätestens ab 2016 zu Warnungen: Diese gingen neben dem Finanzmarktstabilitätsgremium auch vom Europäischen Rat für Systemrisiken (ESRB), der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aus.

Risikobremse KIM-VO

Für Risikobeschränkungen stehen sogenannte makroprudenzielle Instrumente zur Verfügung. Mit diesen können Nationalstaaten innerhalb der harmonisierten Bankenregulierung und -aufsicht länder- und/oder marktspezifische Risiken beschränken.

Die wichtigsten Maßnahmengruppen beziehen sich dabei entweder auf allgemeine, konjunkturelle Risiken der Kreditvergabe durch antizyklische Kapitalpuffer für die Banken oder auf Instrumente, die an der Beschränkung der Risiken für Kreditnehmer:innen ansetzen (kreditnehmer:innenbasierte Maßnahmen). Dabei handelt es sich um Quoten, die die Belehnung der Immobilie oder die Belastbarkeit der Einkommen der Haushalte durch den Schuldendienst betreffen, oder eine Kombination der beiden.

2022 ergriff die Finanzmarktaufsicht (FMA) auch in Österreich Maßnahmen zur Beschränkung der Risiken bei der Immobilienfinanzierung durch die sogenannte Kreditinstitute-Immobilienfinanzierungsmaßnahmen-Verordnung (KIM-VO). Sie sieht etwa eine Eigenkapitalquote von 20 Prozent und eine Schuldendienstquote von 40 Prozent des Einkommens für die Kreditnehmer:innen vor (mit einem gewissen Anteil möglicher Ausnahmekontingente, der von den Banken zum Teil nicht ausgeschöpft wird). Damit reiht sich Österreich relativ spät in die überwiegende Mehrheit an EU-Staaten (21 von 27) ein, die Risiken bei der Vergabe von Immobilienkrediten beschränken. 13 Staaten haben antizyklische Kapitalpuffer in Kraft, weitere 2 Staaten haben sie in Einführung. Insgesamt gibt es nur 2 Staaten (Griechenland und Italien), die weder kreditnehmer:innenbasierte Maßnahmen noch antizyklische Kapitalpuffer für die Banken einsetzen.

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Die Vorstellungen zur nachhaltigen Kreditvergabe des Finanzmarktstabilitätsgremiums (FMSG) aus 2018 fanden bei der Kreditvergabe vor der Einführung der KIM-VO wenig Beachtung seitens der Banken. Seit der Einführung der KIM-VO wird diese von Bankenseite und deren Lobbyist:innen heftig diskutiert.

Schlussfolgerungen und Forderungen

Die Vorstellung, immer weniger leistbaren Wohnraum durch immer höhere Kredite mit immer höherem Risiko und immer höheren Belastungen des Haushaltseinkommens zu finanzieren, ist weder sozial noch ökonomisch aus Sicht der Finanzmarktstabilität tragbar. Damit Wohnen nicht zum Luxus wird, braucht es mehr Initiative seitens der Politik für leistbares Wohnen.

Die Geldpolitik bekämpft die durch Angebotsschocks getriebene Inflation mit falschen Mitteln und gefährdet damit wichtige Investitionen für Beschäftigung und Transformation. Vor allem Kreditnehmer:innen mit variabel verzinsten Krediten stehen mit der Zinswende vor großen Herausforderungen, die mit einer umsichtigeren Vergabe vermieden hätten werden können.

Bei der Vergabe von Immobilienkrediten wurde 2022 auch in Österreich eine wichtige und in der EU weit verbreitete Beschränkung des Risikos auf der Kreditnehmer:innenseite eingeführt. Dies ist u. a. deshalb zu begrüßen, weil so eine sich selbst verstärkende Spirale steigender Preise und eines steigenden Finanzierungsaufwands gebremst werden kann.

Zudem sollte – nicht nur als Entlastung in der gegenwärtigen Krise – auch als Anreiz für umsichtiges Risikomanagement dann, wenn Haushalte bei Immobilienfinanzierungen in Schwierigkeiten geraten und bei der Vergabe die Empfehlungen des FMSG nicht eingehalten wurden, den Haushalten ein Rechtsanspruch auf gebührenfreie Moratorien und Umschuldungen eingeräumt werden. Sie sollten jedenfalls nicht Bittsteller:innen bei Banken sein, die sich nicht an Empfehlungen des FMSG halten.

Auch der im europäischen Vergleich hohe Anteil variabel verzinster Kredite in Österreich zeugt nicht von einer umsichtigen Kreditvergabe. Daher sollte die Belastung des Haushaltseinkommens durch den Schuldendienst 30 Prozent nicht übersteigen, wenn mehr als die Hälfte der Laufzeit variabel verzinst ist.

Die Rekordgewinne der Banken gingen vor allem zulasten von privaten Haushalten und Zentralbanken. Werden diese Gewinne nicht zur Stärkung der Risikovorsorge und der Investitionen in die Mitarbeiter:innen verwendet, sollten die Stabilitätsabgabe erhöht und auch antizyklische Kapitalpuffer für die heimischen Banken eingeführt werden.

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