Von Eulen und Lerchen und der chronisch müden Gesellschaft

28. April 2017

In Österreichs Unternehmen, in Behörden und bei Dienstleistern beginnt der Arbeitstag früh. Spätestens um acht Uhr morgens sind alle am Arbeitsplatz und die Kinder in der Schule – und das ist schon spät! ÖsterreicherInnen sind traditionell FrühaufsteherInnen – knapp 40 Prozent beginnen ihren Tag zwischen 5 und 6 Uhr. 17 Prozent stehen zwischen 6 und 6.30 Uhr auf. Lediglich 4 Prozent aller ÖsterreicherInnen wachen nach 8 Uhr auf. Dass dieses Verhalten auf Dauer nicht gesund ist, Arbeitszeitlagen nach chronobiologischen Merkmalen und nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtet werden sollen, Unternehmen und PolitikerInnen beginnen müssen, die Forschungsergebnisse der Chronobiologie und Schlafforschung bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, wird in diesem Beitrag thematisiert.

Von „Eulen“ und „Lerchen“

In der Chronobiologie, der Wissenschaft von der zeitlichen Organisation physiologischer Prozesse, werden Morgenmenschen als „Lerchen“ und SpätaufsteherInnen als „Eulen“ bezeichnet. Von der Zeitdauer schlafen beide Gruppen gleich viel, sie unterscheiden sich aber deutlich in ihren Aktivitätsmodi. Während Lerchen früh wach und ebenso früh wieder müde werden, haben Eulen ihre Aktivitätsspitzen am Nachmittag. Die unterschiedlichen Chronotypen (Zeit-Typen) lassen sich in weiterer Folge in extreme, moderate und leichte Frühtypen, in Normaltypen, leichte, moderate und extreme Spättypen klassifizieren. Der persönliche Chronotyp, also zu welcher Tageszeit wir aktiv sind und wann wir besser schlafen sollten, ist genetisch determiniert und unveränderbar. Ein früheres Zubettgehen und das Erzielen von Gewöhnungseffekten kann daher nicht erreicht werden. Aus der Forschung weiß man, dass der Takt der „inneren Uhr“ zwar angeboren ist, jedoch über den Lebenszyklus variiert. Ob jemand zu den Lerchen zählt oder zu den nachtaktiven Eulen, die abends spät müde werden und morgens lange schlafen, verändert sich nur während der Pubertät, pendelt sich aber später wieder auf das bekannte Muster ein. Je später der Chronotyp, desto schlechter sind die schulischen Leistungen, weil die Schulbeginnzeiten für diesen Chronotypen deutlich zu früh beginnen.

Abbildung 1 zeigt Studienergebnisse des Zentrums für Chronobiologie am Institut für Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, und zwar wieviel Prozent der Bevölkerung den jeweiligen Chronotypus aufweisen. Etwa zwei Drittel gehören zu einem der drei durchschnittlichen Chronotypen. Je ein Sechstel fällt in die Kategorien Lerchen und Eulen (moderate bis extreme Typen). Die meisten Menschen (ca. ein Drittel) schlafen von 0 bis 8 Uhr oder von 0:30 bis 8:30 Uhr. Dabei ist die individuelle Schlafdauer unabhängig vom individuellen Chronotypus. Die Verteilung der Chronotypen ist ähnlich wie die Verteilung der Körpergrößen in der Bevölkerung – die meisten Menschen befinden sich in der Mitte der Verteilung.

Abbildung 1: Chronotypen – Umfrageergebnisse zu Schlafzeiten an arbeitsfreien Tagen von ca. 150.000 ZentraleuropäerInnen.

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Quelle: Zentrum für Chronobiologie, LMU München (Download unter: http://www.aliamos.de/wp-content/uploads/2016/01/website_chronotyp-e1464254894495.jpg).

Arbeits- und Schulbeginnzeiten zu früh

MitteleuropäerInnen sind in unterschiedlichen Abstufungen überwiegend den Eulen zuzurechnen. Sie schaffen es nur dank eines Weckers rechtzeitig zur Arbeit oder in die Schule. Laut einer europäischen Umfrage stehen vier von fünf Menschen an Werktagen unausgeschlafen auf. Die realen Arbeits- und Schulbeginnzeiten sind eher für Lerchen, für extreme oder moderate Frühtypen, gemacht. Die Arbeitszeiten nehmen wenig Rücksicht auf die unterschiedlichen Chronotypen. Im Idealfall ermöglichen Gleitzeitmodelle eine gewisse individuelle Anpassungsmöglichkeit. Personen in Schicht- und Wechseldienstmodellen sind allerdings von dieser Möglichkeit zur Gänze ausgeschlossen und können keine entsprechenden Anpassungen vornehmen. Aber auch gegenüber der Schwankungsbreite unserer biologischen Chronotypen sind die Gleitzeitrahmen oftmals zu rigide. Ein ausgeprägter Frühtyp würde gerne ab fünf oder sechs Uhr arbeiten. Extreme Spättypen würden jedoch bis zwölf Uhr mittags oder länger schlafen, wenn sie könnten. Hierfür existieren aber keine adäquaten Arbeitszeitmodelle. Insbesondere für Spättypen stellt ein permanent von außen oktroyierter Arbeitsrhythmus, der sich gegen den inneren Rhythmus richtet, ein gesundheitliches Problem dar. Aus der Schichtarbeitsforschung weiß man, dass das Gesundheitsrisiko von SchichtarbeiterInnen deutlich erhöht ist. Krankheitsbilder, von Schlafproblemen über Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zu kanzerogenen Erkrankungen, treten für diese Gruppe häufiger auf. Die Zusammenhänge zwischen Chronobiologie, unterschiedlichen Chronotypen und einer Arbeitszeitgestaltung, die nicht ausschließlich nach betriebswirtschaftlichen Erfordernissen erfolgt, wird nur unzureichend verstanden und steht auch nicht auf der politischen und betrieblichen Agenda.

Es gibt aber Positivbeispiele, Betriebe, die die individuellen Arbeitszeitpräferenzen ihrer MitarbeiterInnen berücksichtigen und weitestgehend bei der Arbeits- und Dienstplaneinteilung implementieren. Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) etwa offerieren ihren MitarbeiterInnen aus vier verschiedenen Arbeitszeitlagen, Früh-, Tag-, Spät- oder Nachtdienst, eine Schicht auszuwählen, die ihre persönlichen Bedürfnisse berücksichtigt. Der Koordinations- und Planungsaufwand ist zwar ein höherer, es zeigt sich aber eine deutlich höhere Arbeitszufriedenheit, wenn zu Wunscharbeitszeiten gearbeitet werden kann. In einer Arbeitswelt des „Always-On“ und der ständigen Erreichbarkeit wirkt es beinahe anachronistisch, den natürlichen Rhythmus des/der Einzelnen einzubeziehen. Genau diese Ansätze braucht es aber, denn ganz egal, welchen Takt die innere Uhr vorgibt, genügend Schlaf ist die Basis schlechthin für einen produktiven und gesunden Tages- und Arbeitsablauf.

Der soziale Jetlag

Unsere Schlafzeiten werden von der „inneren Uhr“ (Schlaf-Wach-Rhythmus oder circadiane Rhythmik), die uns zu einem bestimmten Chronotypus macht und von der äußeren Uhr, wie dem morgendlichen Wecker oder Abendveranstaltungen und dem sozialen Leben kontrolliert. Je aberranter (abweichender) diese beiden Uhren „ticken“, desto schwieriger kann es für Menschen sein, an allen Tagen ausreichenden und gesunden Schlaf zu finden. Die Diskrepanz zwischen der biologisch geprägten Schlafenszeit – an freien Tagen (Wochenenden, im Urlaub) – und der real möglichen an Arbeitstagen bezeichnet die Schlafforschung als „sozialen Jetlag“. Da die Arbeitszeiten eher an FrühaufsteherInnen als an SpätaufsteherInnen angepasst sind, haben die leichten Frühtypen die geringsten Probleme von allen, ein Schlafdefizit aufzubauen. Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft müssen während der Arbeitswoche biologisch gesehen zu früh aufstehen. Am Wochenende kehren wir dann in unseren natürlichen Rhythmus zurück, der um ein paar Stunden in Richtung Nacht verschoben ist. Wie ein normaler Jetlag so erzeugt auch der soziale Jetlag auf Dauer chronischen Schlafmangel. Menschen, die sich morgens wegen eines zu frühen Arbeitsbeginns künstlich wecken lassen müssen, werden am Abend darauf nicht im gleichen Maße früher müde. Die innere Uhr hält sie länger wach als gewünscht, so dass auch die folgende Nacht zu kurz wird. Das wiederholt sich fünf Arbeitstage lang. Je größer die tägliche Abweichung zwischen der Lage der bevorzugten und real möglichen Schlafenszeit, umso höher ist der Alkohol-, Nikotinkonsum und das Risiko für Übergewicht.

Abbildung 2 zeigt den Schlafmangel an Arbeitstagen (links der Mitte) und arbeitsfreien Tagen (rechts der Mitte):

Abbildung 2: sozialer Jetlag – Diskrepanz Schlafmangel an Arbeitstagen und freien Tagen

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Quelle: Wake up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft. S. 90. © A&W Blog
Quelle: Wake up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft. S. 90.

Laut Forschungsergebnissen schläft jede/jeder zwanzigste Befragte in der Arbeitswoche jede Nacht mindestens eine Stunde zu wenig. Jeder Fünfte häuft während einer Arbeitswoche zwischen einer halben und einer ganzen Stunde Schlafmangel an, bei mehr als einem Drittel der Bevölkerung beträgt das Schlafdefizit bis zu dreißig Minuten. Bei 18 Prozent passen inneres Zeitgefühl und Arbeitsrhythmus zusammen.

Fazit

Trotz sämtlicher wissenschaftlicher Evidenz ist das Thema Chronobiologie keineswegs auf der politischen und betrieblichen Agenda. Viel zu oft, vor allem in Zentraleuropa, ist das Thema von massiven Vorurteilen geprägt und überlagert daher einen wissenschaftlich fundierten Diskurs. Sprichwörter wie „Der frühe Vogel fängt den Wurm“ oder „Am Abend wird der Faule fleißig“ sprechen eine deutliche und diskriminierende Sprache. Dabei haben die verschiedenen Chronotypen nichts mit mehr oder weniger Leistungsfähigkeit zu tun. Ihre Effizienz- und Produktivitätsspitzen sind schlichtweg zu anderen Uhrzeiten höher.

Gerade auch vor dem Hintergrund der möglichen Ausweitung der Tageshöchstarbeitszeiten (Stichwort: 12-Stunden-Arbeitstag) sollten die individuellen Schlafbedürfnisse der MitarbeiterInnen Berücksichtigung finden und weiters sollte darauf geachtet werden, ob 12-Stunden-Arbeitstage mit dem sozialen Leben insgesamt kompatibel sind oder nicht eher ein massives Plädoyer für den 6-Stunden-Arbeitstag sinnvoller wäre. Ziel muss es letztlich sein, eine Zeitkultur zu schaffen, in der unsere innere, persönliche mit der äußeren, sozialen Zeit in Einklang gebracht wird.

Weiterführende Informationen:

LMU München: Institut für medizinische Psychologie. Zentrum für Chronobiologie.

Selbsttest: Bestimmung des individuellen Chronotyps

Unsere Arbeit. Unsere Zeit. Themenkreis 13. Frühaufsteher oder Langschläfer – wie unser persönlicher Zeit-Typ mit den realen Arbeitszeiten zusammenpasst.

Buch: Wacke up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft. Peter Spork.