Kürzlich veröffentlichte die Statistik Austria eine Sonderauswertung zum Thema „Gesundheitsrisiko Arbeitsplatz“. Danach sind etwa 80 % aller Erwerbstätigen physischen oder psychischen Gesundheitsrisiken durch ihre Arbeit ausgesetzt, Überstunden wirken problemverschärfend. Nicht zuletzt deshalb verhandelt die besonders belastete Berufsgruppe der ÄrztInnen derzeit über etwas, was in diesem Kontext oft gefordert wird: kürzere Arbeitszeiten. Das zumeist entgegnete Totschlagargument: Kostenexplosion, nicht finanzierbar, Ende der Diskussion. Um diese verengte Blickweise aufzuweichen, möchte ich hier einen alten Artikel hervorkramen, der vielleicht hilft, die vermeintliche Kostenfalle als Zukunftsinvestition zu denken.
Die optimale Arbeitszeit
Sidney Chapman, von 1927 bis 1932 ökonomischer Chefberater der britischen Regierung, publizierte 1909 eine Arbeit mit dem Titel „Hours of labour“ im Economic Journal. Noch Jahrzehnte später sollten anerkannte Neoklassiker wie Alfred Marshall oder John Hicks dieses Papier als unanfechtbaren state of the art bezeichnen (s.u.).
Chapman konzentriert sich darin auf betriebswirtschaftliche Auswirkungen von Veränderungen der Arbeitszeit. Er beginnt seine Analyse mit Belegen dafür, dass vergangene Arbeitszeitverkürzungen in der britischen Industrie nicht zu Output-Reduktionen geführt haben, sondern im Gegenteil manchmal sogar zu Erhöhungen. Aus diesem Befund leitet er die Frage ab, ob die Wirkungskanäle des „freien Marktes“ automatisch eine „optimale“ Arbeitszeit erzeugen, oder ob hier durch externe Interventionen (bspw. des Gesetzgebers oder von Gewerkschaften) Verbesserungen erzielt werden könnten?
Geldpräferenzen & Kurzsichtigkeit
Zu diesem Zweck beleuchtet Chapman beide Seiten des Arbeitsmarkts. Für ArbeiterInnen sind neben dem verdienten Einkommen auch die Mühsal der zu leistenden Arbeit sowie der Wert der Freizeit Faktoren, die für Arbeitszeitwünsche eine Rolle spielen. Chapman nimmt an, dass Menschen die längerfristigen Auswirkungen von zu langer Arbeit auf ihre Gesundheit tendenziell eher unterschätzen und deshalb kurzfristig höhere Löhne gegenüber kürzerer Arbeitszeiten bevorzugen – wobei die Entscheidungsfreiheit freilich stark von der Lohnhöhe abhängt. Dass diese kurzfristige Geldpräferenz langfristige Gesundheitsrisiken birgt, erklärt sich von selbst.
Für UnternehmerInnen sind Kosten, Output und Produktivität entscheidend. Umso höher die Anzahl der täglich gearbeiteten Stunden, umso niedriger wird die Produktivität je Stunde, begründet bspw. durch Erschöpfung, Konzentrationsmangel oder krankheitsbedingte Ausfälle. Das volle Ausmaß gesundheitlicher Risiken schlägt natürlich nicht sofort zu Buche. Kurzfristig kann durch längere Arbeitszeiten der Output durchaus gesteigert werden, jedoch nur auf Kosten langfristiger Produktivitätsverluste. Umgekehrt stellt sich auch eine Verbesserung der Produktivität nicht sofort ein, wenn einmal kürzer gearbeitet wird. Erst die Umstellung der Arbeitsorganisation, des Arbeitsalltags, etc. verbessert nachhaltig die Leistungsfähigkeit.
Insofern gleicht Arbeitszeitverkürzung (bei gleichem Monatslohn) einer Investition in die Produktivkraft der eigenen Belegschaft, die sich erst allmählich amortisiert und immer wieder von neuem stellt. Denn solange die Spezialisierung und Intensivierung der Arbeit voranschreitet, so Chapman, wird es auch Bedarf für Arbeitszeitverkürzungen geben. Warum diese potentiell lukrativen Investitionen dennoch meist unterbleiben? UnternehmerInnen können sich nicht sicher sein, ob später nicht die Konkurrenz die nunmehr höchst produktiven und gut ausgeruhten Arbeitskräfte für minimale finanzielle Anreize abwirbt, argumentiert Chapman.
Mainstream-gerechte Adaption
Bevor ich zu den politischen Schlussfolgerungen aus Chapmans Analyse komme, ein Wort zur bemerkenswerten Karriere dieses Artikels. Über Jahrzehnte wurde die Arbeit unter neoklassischen ÖkonomInnen offenbar als Standardargumentation zum Thema Arbeitszeit verhandelt und kaum je ernsthaft in Frage gestellt. Bei Verweisen darauf rückte die Aussage ins Zentrum, dass eine Abweichung von der optimalen Arbeitszeit zu Produktivitätseinbußen führt. Soweit stimmt dies mit Chapmans Ansatz überein. Die entscheidende Adaption passierte nun, als die theoretische „optimale Arbeitszeit“ schlicht mit der tatsächlichen Arbeitszeit gleichgesetzt wurde und folglich jede Veränderung ineffizient erscheinen muss. In dieser Verwechslung von Abstraktion und realer Welt verharrt der ökonomische Mainstream offenbar bis heute, jedenfalls verschwand Chapmans unangefochtene Arbeit mittlerweile tief in der Versenkung.
Arbeitszeitverkürzung als Zukunftsinvestition
Im Kern identifizierte Chapman also für die Arbeitszeit die Existenz jener (einzigen) Situation, die nach der gängigen ökonomischen Mainstream-Theorie politische Interventionen legitimiert: Marktversagen.
Der „freie Markt“ produziere systematisch suboptimale, nämlich zu lange Arbeitszeiten, die langfristig sowohl den Individuen, der Wirtschaft und damit überhaupt der Gesellschaft schaden. „These reasons are, I repeat again, short-sightedness, or fear of incurring an expense the fruits of which other employers might reap.“ (S. 367) Chapman fordert nun – basierend auf einer neoklassisch-betriebswirtschaftlichen Argumentation – nicht weniger als die Unterstützung der gewerkschaftlichen Bewegung für kürzere Arbeitszeiten. Vor dem Hintergrund dieser attestierten Kurzsichtigkeit des „freien Marktes“ und der gerade wieder aktuell belegten Gesundheitsbelastungen am Arbeitsplatz, lässt sich nun die Kostenfrage umdrehen: aus langfristiger Perspektive bedeuten zu lange Arbeitszeiten eine Kostenfalle, während Arbeitszeitverkürzung zur sozio-ökonomischen Zukunftsinvestition wird.