Österreich hat bisher viele Herausforderungen besser meistern können als andere Länder, und eine völlige Überlastung der Krankenhäuser und Altenheime ist bis dato ausgeblieben. Das System der 24-Stunden-Betreuung stößt aber immer mehr an seine Grenzen, genauso wie pflegende Angehörige, die sich teils allein gelassen fühlen. Nach einem ersten Durchatmen ist es an der Zeit für eine Reflexion der österreichischen Gesundheits- und Langzeitpflegestruktur.
Österreich insgesamt weniger stark betroffen als andere Länder
COVID-19 bringt in Österreich weniger Erkrankungen und Todesfälle als in vielen anderen Ländern. Während in anderen Ländern wie Italien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten vor allem die Krankenhäuser die Herausforderungen nicht mehr bewältigen können, zeigt sich, dass in Österreich sowohl ausreichend Akut- als auch Intensivbetten im Krankenhaus verfügbar sind. Aufgrund der jüngsten Entwicklungen ist nun wieder eine schrittweise Öffnung im Bereich der Spitäler und im gesamten Gesundheitsbereich geplant. Auch wenn vereinzelt Alten- und Pflegeheime stärker betroffen und manche BewohnerInnen und Beschäftigte erkrankt sind, ist die Situation nicht vergleichbar mit dramatischen Entwicklungen wie unlängst in Spanien, Deutschland oder auch Kanada. Auch hier stehen schrittweise Lockerungen der Besuchsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen ab 4. Mai 2020 bevor. Entsprechende Empfehlungen wurden seitens des Gesundheitsministers Anschober herausgegeben und sind nun von den einzelnen Bundesländern umzusetzen.
Ausreichend Akutbetten in den österreichischen Spitälern
Lange Zeit wurde von unterschiedlichen ExpertInnen und manchen politischen AkteurInnen darauf hingewiesen, dass es in Österreich viel zu viele Spitals- und vor allem auch Intensivbetten gibt. Das „System Krankenhaus“ sei zu teuer und es brauche daher einen Bettenabbau, so der neoliberale Tenor. Die Veränderungen zeigten sich z. B. in der Erstellung des Österreichischen Strukturplanes Gesundheit (ÖSG) und der regionalen Strukturpläne. Im internationalen Vergleich zeigt sich: Österreich hat derzeit mehr Akut- und Intensivbetten als viele andere Länder. Gerade diese ausreichende Anzahl an Betten, die gut ausgebildeten GesundheitsprofessionistInnen im Krankenhaus und die engagierte Arbeit aller Berufsgruppen (wie z. B. auch der Hygiene etc.) haben dazu beigetragen, dass Österreich die Krise bisher besser meistern konnte.
Nicht Betten, sondern Menschen leisten derzeit Großartiges – teils unter schlechten Bedingungen
Auch wenn die Krankenhäuser mit ausreichend Betten ausgestattet sind, es sind Menschen, die dazu beitragen, dass die Gefährdung von Menschenleben geringer ausfällt als bisher erwartet. Schon vor der COVID-19-Krise leisteten die Pflege- und Gesundheitsberufe Übermenschliches. Langjährige Arbeitsverdichtung und demografische Veränderungen haben die Arbeitsbelastung steigen und einen massiven Pflegepersonalmangel entstehen lassen. Es zeigt sich mehr denn je, dass Menschen aller Berufsgruppen ihre Arbeit aus Überzeugung machen. Sie akzeptieren derzeit sich laufend ändernde Dienstpläne, wechseln laufend zwischen Abteilungen, hängen in Dauertelefonschleifen, wenn besorgte Angehörige nicht schlafen können, verbringen stundenlang in Schutzkleidung und -masken – falls diese mittlerweile endlich auch eingetroffen sind – und isolieren sich teils in ihrer Freizeit selbst, um für ihre Arbeit gesund zu bleiben. Sichtbar wird aber auch, dass bisher knappe Personalberechnungen scheitern und ungenügende Ausbildungskapazitäten in manchen Bundesländern Folgen zeigen. Bis vor Kurzem haben Schwangere noch direkt mit PatientInnen gearbeitet, obwohl die Folgewirkungen unklar sind. Vorsorglich wurden Arbeitszeitgesetze teils verändert. Für die Risikogruppen wurde nach langen Anläufen mittlerweile eine Klärung herbeigeführt, die im Gegensatz zu ursprünglichen Gesetzen nun auch für die Gesundheits- und Langzeitpflegeberufe gilt. Die Neuregelung soll am 29.4.2020 im Parlament beschlossen werden, die für die Umsetzung erforderlichen Verordnungen sind jedoch noch abzuwarten. Ob die Neuregelungen ausreichend sind, wird die Praxis erst zeigen.
Einmalprämie als Hohn
Der Ruf nach mehr Testungen gerade in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen wurde immer lauter. Als Reaktion hat Bundesminister Anschober am 16. April angekündigt, dass österreichweit alle BewohnerInnen und Beschäftigten in Alten- und Pflegeheimen getestet werden sollen. Die konkrete Umsetzung ist noch offen, und es wird dauern. Hinterfragt wird vielerorts, was eine Einmaltestung überhaupt bringen soll. Kein Wunder, dass der Applaus am Abend oder eine angekündigte Einmalprämie – ohne bisherige Konkretisierung in vielen Bereichen (eine Ausnahme bildet hier der Kollektivvertrag der SWÖ mit 500 Euro Prämie) – von vielen als Hohn erlebt wird.
Rückbau von Qualitätsstandards
Nicht übersehen werden sollte, dass in der Pandemie-Phase diverse oft über Jahre entwickelte Qualitätsstandards kurzfristig außer Kraft gesetzt und Bildungsmaßnahmen angepasst wurden. Diese reichen vom Aussetzen von Sonderausbildungen/Spezialisierungen in speziellen Bereichen – wie Intensivbereich – über den Einsatz von berufsrechtlichen Laien wie z. B. Zivildienern in Heimen bis hin zur Außerkraftsetzung von Mindestpflegepersonalschlüsseln in Heimen, wie z. B. in der Steiermark und in Oberösterreich. Für viele AkteurInnen sind diese Maßnahmen in der Krisenphase nachvollziehbar, um vor allem auch Pflegesettings aufrechtzuerhalten, mittelfristig werden sie zur Gefahr für die Betroffenen und ihre Gesundheit.
Herausforderungen vor allem in der mobilen Langzeitpflege
Die Heime sind bisher bis auf wenige Hotspots mit hohen Fallzahlen noch eher unbeschadet durch die Krise gekommen. Hilfreich gerade in dieser Situation war dabei wohl auch, dass es in Österreich hohe Standards für die Heime gibt und eine Gewinnmaximierung zulasten der BewohnerInnen in den meisten Bundesländern – z. B. im Vergleich zu Großbritannien etc. – die Ausnahme ist. Dazu beigetragen hat unter anderem auch die rasche und strikte Besuchsbeschränkung. Wurden bisher zahlreiche Maßnahmen getroffen, um die Kontakte zu Angehörigen anderweitig aufrechtzuerhalten, wird es zum Wohle der BewohnerInnen – vor allem mit Demenz – bald Lockerungen brauchen. Bundesminister Anschober plant hier dazu Empfehlungen aus seinem Ressort.
Noch spürbarer wird die belastende Situation derzeit in der Langzeitpflege. Während noch im aktuellen Regierungsprogramm eine große Pflegereform angekündigt wurde und erste Umsetzungspläne präsentiert wurden, zeigt sich gerade jetzt, wie fragil das „Leben im Alter daheim“ werden kann. Teils fehlen soziale Kontakte, und ältere Menschen geraten in Isolation. Tageseinrichtungen haben großteils geschlossen, die Tagesstruktur fehlt. Werden dann auch noch mobile Dienste – aufgrund des großen und unberechenbaren Ansteckungsrisikos – eingeschränkt auf unbedingte Notwendigkeiten, droht die Gefahr, dass Menschen zwar nicht an COVID-19 versterben, die gesundheitlichen physischen und psychischen Folgen aber noch nicht abzuschätzen sind. Gerade erwerbstätige Frauen erleben jetzt die Tücken zwischen Home-Office bzw. Arbeit in einem systemrelevanten Beruf, Kinderbetreuung, Home-Schooling und Betreuung von Angehörigen. Verstärkt wird die Situation durch einen fehlenden Rechtsanspruch auf Sonderbetreuungszeit. Auch Menschen, die sich bereits bisher fast ausschließlich und allein um ihre Angehörigen gekümmert haben, merken, dass sie noch mehr überlastet sind, wenn NachbarInnen, Selbsthilfegruppen usw. aufgrund von Ausgangsbeschränkungen wegfallen. Telefonische Beratung und Hilfe über soziale Medien können zwar unterstützen, reichen aber auf Dauer nicht aus.
24-Stunden-Betreuung bricht zusammen
Mehr denn je wird deutlich, wie das System der 24-Stunden-Personenbetreuung teils über Nacht zu zerbrechen droht. BetreuerInnen sind zum Teil schon Wochen ohne Ablöse bei den Betreuten, sitzen in Quarantäne, werden mit Sonderfliegern und geplanten Zügen nach Österreich gebracht und haben Verdienstentgänge. Länder wie Rumänien verbieten mittlerweile sogar, dass Menschen aus Gesundheits- und Sozialberufen ausreisen dürfen. Die Hilferufe besorgter Angehöriger werden immer lauter. Zahlreiche Initiativen entstehen, wie z. B. ein Topf mit 100 Millionen zur Abfederung der derzeitigen Situation, Dableibe-Prämien bzw. ein Betreuungsbonus mit 500 Euro für BetreuerInnen in allen Bundesländern, Plattformen wie „Wir helfen, weil es ethisch richtig ist“ versuchen, schnelle Lösungen zu bieten, und teils entstehen auf die Schnelle Kurzzeitbetreuungsformen wie z. B. in Oberösterreich und der Steiermark. Deutlich wird aber, nach der Krise wird es neue Strukturen und mehr öffentliches Budget brauchen, um in Zukunft besser gewappnet zu sein.
Viele parallele Strukturen erschweren Arbeit
Österreich ist bekannt für die föderalen Strukturen auch im Gesundheits- und Langzeitpflegebereich. Diese werden in Zeiten von COVID-19 besonders deutlich: unzählige Krisenstäbe mit unterschiedlichen Aufgaben, unterschiedlich miteinander vernetzt und informiert. Wie diese Stäbe gebildet werden, hat bei manchen AkteurInnen für Verwunderung gesorgt. Folge dieser parallelen Strukturen: Für viele Einrichtungen, gerade auch in der Langzeitpflege, zählte der Kampf um Schutzausrüstung immer noch zur Hauptaufgabe, während andernorts schon in Einkaufszentren Masken verteilt wurden. Die parallelen Strukturen, unter anderem in der Finanzierung, führten dazu, dass Pflegekräfte in manchen Regionen in Kurzarbeit geschickt wurden, während sie an anderer Stelle dringend gebraucht wurden. Lösungen zum trägerübergreifenden Einsatz scheitern dabei manchmal an Diskussionen über die Ausfinanzierung unterschiedlicher Gehaltsschemata. Erschwert wurde die Situation unter anderem dadurch, dass die Direktion für Öffentliche Gesundheit im Jahr 2018 abgeschafft und vergleichbare Landesstrukturen zum Teil zurückgefahren wurden.
Fragen, die bleiben
Offen ist nach wie vor, wie sich Sicherheitsvorkehrungen wie „Notbetrieb der Krankenhäuser“, Vermeidung von Arztbesuchen, Aussetzen von Therapien, Reha, Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen langfristig auf die Gesundheit aller Menschen, die in Österreich leben, auswirken werden. Unklar ist, wie viele 24-Stunden-BetreuerInnen auch nach Wegfall der Einreisebestimmungen wieder nach Österreich zurückkehren wollen, zumal auch die Indexierung der Familienbeihilfe immer noch nicht korrigiert wurde.
Was sollten wir aus der Krise weiter lernen?
Beinahe täglich folgen Lobeshymnen, wie toll Österreich die COVID-19-Krise bewältigt hat. Damit wir auch in Zukunft für Krisen dieser Art gut vorbereitet sind, braucht es nachhaltige Überlegungen für den Gesundheits- und Langzeitpflegebereich, dazu zählen unter anderem:
- Ausbau einer integrierten Versorgung vom Krankenhaus über den gesamten Langzeitpflege- bis zum niedergelassenen Bereich,
- Schaffung neuer ergänzender Angebote im mobilen Bereich inkl. Konzepte zur Entlastung der pflegenden Angehörigen,
- Umsetzung der im Regierungsprogramm angedachten Community Nurses,
- Ausbau des ArbeitnehmerInnenschutzes und Mutterschutzes gerade auch in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen,
- zeitgemäße Personalberechnungsstrukturen, die krisenfest sind,
- überregionale Krisenpläne, die alle Versorgungssettings umfassen,
- Produktion von geeigneter Schutzausrüstung in Österreich,
- Europaweite Pandemiepläne und Zusammenhalt auch in Krisenzeiten.
Eine rasche Umsetzung dieser Überlegungen ist dringend geboten, erleichtern sie doch die Bewältigung jeder Art künftiger gesundheitspolitischer Krisen. Wesentlich ist, dass die von der Bundesregierung angekündigte Pflegereform weiterverfolgt und nicht wegen der Kosten der Corona-Krise auf die lange Bank geschoben wird.
Auch wenn die COVID-19-Fallzahlen sinken und zumindest die erste Welle gut bewältigt wurde, braucht es noch viele Maßnahmen, damit das österreichische Gesundheits- und Langzeitpflegesystem auf Dauer krisenfest wird. Gerade KollegInnen aus dem Gesundheits- und Pflegebereich wünschen sich statt Applaus und HeldInnenethos vor allem eines: eine echte Wertschätzung durch bessere Rahmenbedingungen.