Türkis-blaue Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik revisited: zwischen Meritokratie und Wohlfahrtschauvinismus

06. Oktober 2020

Die im Dezember 2017 angelobte ÖVP/FPÖ-Koalition formulierte in ihrem Regierungsprogramm weitreichende Reformvorhaben im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Während die Umsetzung vieler dieser Vorhaben am vorzeitigen Ende der Regierung im Mai 2019 scheiterte, erfuhren andere eine Realisierung. Im Rahmen einer kürzlich erschienenen Studie wurde anhand von drei spezifischen Reformen in der Arbeitszeitpolitik („12-Stunden-Tag“), der Arbeitsmarktpolitik (Sistierung der „Aktion 20.000“) sowie der Sozialhilfepolitik (Sozialhilfe-Grundsatzgesetz) die mediale Debatte dazu untersucht. Im vorliegenden Artikel werden zentrale Ergebnisse zusammengefasst.

Diskursanalyse: ein Blick auf prägende Diskurse in der medialen Debatte

Die Studie nimmt konkret in den Blick, welche Argumentationen in der medialen Debatte um die angesprochenen Reformen jeweils stark gemacht wurden: Wie wurden also vonseiten der Regierung (bzw. von deren Verbündeten), aber auch vonseiten oppositioneller Kräfte die Reformen medial vermittelt? Welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede gab es zwischen den einzelnen Politikfeldern? Und welche konkreten Akteur*innen bzw. Netzwerke traten medial in Erscheinung?

Mit besonderem Fokus auf den Regierungsdiskurs untersucht die Studie außerdem, inwieweit dieser sich einerseits auf rechtspopulistische und -radikale, andererseits auf neoliberale Argumentationsmuster stützte: Inwieweit wurden zur Begründung der Reformen also zum einen Argumente benutzt, die als „nativistisch“ (z. B.: „,Einheimische‘ haben Vorrang“), „autoritär“ (z. B.: „,Nonkonformes Verhalten‘ ist zu sanktionieren“) oder „populistisch“ (z. B.: „Es gilt, den ,Volkswillen‘ gegen ,korrupte Eliten‘ zu verteidigen“) gelten können? Und in welchem Umfang fand zum anderen eine Berufung auf dezidiert neoliberale Argumente statt (z. B.: Primat ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit, Imperativ individueller Eigenverantwortung)?

In die Untersuchung miteinbezogen wurden alle Texte, die in drei österreichischen Tageszeitungen („Neue Kronen Zeitung“, „Die Presse“, „Der Standard“) erschienen sind und thematisch auf die angeführten Reformen Bezug nahmen. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich von der Angelobung der türkis-blauen Regierung Ende 2017 bis zum Inkrafttreten der jeweiligen Reform.

Regierungsdiskurs: zwischen ökonomischen Sachzwängen, Meritokratie und Wohlfahrtschauvinismus

Im Ergebnis zeigte sich, dass die zentralen Argumentationsmuster in den drei Politikfeldern erkennbare Differenzen aufwiesen: Während der Regierungsdiskurs in der medialen Debatte zur Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitpolitik überwiegend von neoliberalen Argumenten dominiert wurde, war die Sozialhilfepolitik insbesondere (wenn auch nicht ausschließlich) durch nativistische und autoritäre Argumente bestimmt. Diese divergierenden Deutungen verweisen auf unterschiedliche Versuche, die (vermeintliche) Notwendigkeit der Reformen zu begründen und zu legitimieren.

Im Bereich der Sozialhilfepolitik konnte darüber hinaus eine starke Verschränkung nativistischer bzw. autoritärer mit neoliberalen Argumenten festgestellt werden. So zeigte sich in der Debatte zum Thema nicht bloß die Kehrseite des neoliberalen Appells an Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft in Gestalt des Generalverdachts gegenüber Mindestsicherungsbezieher*innen, es mangle ihnen schlicht an besagten „Tugenden“. Auch schloss die Regierung das Bild jener, denen unterstellt wurde, „leistungsunwillig“ und „verantwortungslos“ zu sein, subtil mit dem Bild von („in den Sozialstaat zuwandernden“) Migrant*innen oder Asylberechtigten kurz. Besonders perfide ist diese Verschränkung neoliberaler und nativistischer Argumente dort, wo suggeriert wurde, Sozialkürzungen für „Fremde“ würden quasi kausal zu Verbesserungen für „Einheimische“ führen: „Darum reformieren wir auch die Mindestsicherung und kürzen sie für Migranten. Damit sich Arbeit wieder auszahlt. Denn wer jahrelang eingezahlt hat, muss mehr herausbekommen als jemand, der neu nach Österreich gekommen ist.“ (Bundeskanzler Kurz in der „Krone bunt“ vom 13.5.2018)

In der Debatte zum 12-Stunden-Tag und zur Einstellung der „Aktion 20.000“ hingegen waren rechtspopulistische und -radikale Bezugnahmen kaum anzutreffen. Hier wurde vorwiegend etwa auf die sachlich alternativlose Notwendigkeit der Reformen verwiesen (beide Reformen), das idyllische Bild zunehmender Selbstbestimmung und individueller Wahlfreiheit für Arbeitnehmer*innen gezeichnet (Arbeitszeitreform) oder die Ineffizienz sozialstaatlicher gegenüber marktvermittelten Lösungen beklagt (Sistierung „Aktion 20.000“). Insbesondere in der Arbeitszeitdebatte wurde die Behauptung einer sachlichen Notwendigkeit der Reform eng mit dem Argument einer Sicherstellung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit heimischer Unternehmen und des Standorts verknüpft: „Nein, die gesetzliche Ermöglichung des Zwölf-Stunden-Tags ist unumgänglich für den Wirtschaftsstandort.“ („Presse“-Chefredakteur Nowak in der „Presse“ vom 15.7.2018)

Diskurskoalitionen: Allianzen für und wider die Reformen

Betrachtet man die zentralen Akteur*innen und Akteur*innennetzwerke (siehe Grafik) in den jeweiligen medialen Debatten, zeigt sich ebenfalls eine Reihe von Unterschieden.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Mit Blick auf die regierungsseitigen Netzwerke zu den einzelnen Reformen fallen vor allem zwei Aspekte auf. Zum einen betrifft das die relativ schwache Präsenz der Regierung(-sparteien) in der medialen Debatte um die Arbeitszeitpolitik. Dies ließe sich dahingehend interpretieren, dass es besagten Akteur*innen in diesem Feld weniger als in den anderen beiden Feldern gelang, eine „Themenführerschaft“ zu erlangen. Es kann aber auch so gedeutet werden, dass es für die Regierung(-sparteien) und insbesondere für die FPÖ in diesem Feld wenig zu gewinnen gab und sie daher die mediale Aufmerksamkeit auf andere Felder umzulenken versuchten. Im Falle der FPÖ gilt dies – und das ist der andere oben angesprochene Aspekt – zentral für die mediale Debatte um die Sozialhilfepolitik, auf die sie, wie ihre relativ starke Präsenz zu diesem Thema zeigt, viele ihrer Ressourcen konzentrierte. Die relativ schwache Präsenz der Regierung(-sparteien) in der medialen Debatte um die Arbeitszeitpolitik wurde diskursiv zum Teil durch die starke Präsenz von Vertreter*innen aus Wirtschaftskammer (WKÖ) und Industriellenvereinigung (IV) sowie von privatwirtschaftlichen Akteur*innen kompensiert. Eine spezielle Position kam darüber hinaus den (oppositionellen) NEOS zu, die zwar die nativistischen Argumente in der Sozialhilfepolitik kritisierten, sich in der Arbeitsmarkt- und (mit Abstrichen) in der Arbeitszeitdebatte aber klar aufseiten der Regierung positionierten.

Was die Akteur*innen und Netzwerke betrifft, die den Reformen kritisch gegenüberstanden, lassen sich mit Blick auf die politischen Parteien drei zentrale Schlussfolgerungen ableiten: Zum Ersten kann konstatiert werden, dass es der lediglich auf Länder- und kommunaler Ebene parlamentarisch repräsentierten KPÖ ebenso wie der auch im Nationalrat vertretenen Liste JETZT kaum jemals gelang, im medialen Diskurs präsent zu sein. Die Grünen wiederum, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls vorwiegend auf den unteren Ebenen des föderalen Staates vertreten waren, konnten vor allem im (ebenfalls stark föderal geprägten) Bereich der Sozialhilfepolitik punkten und den kritischen Diskurs wesentlich prägen. Ähnliches gilt im Bereich der „Aktion 20.000“ für die SPÖ, wobei diese auch in den medialen Debatten zu den beiden anderen Politikfeldern präsent war.

Was die außerparlamentarischen kritischen Akteur*innen und Netzwerke anlangt, fällt vor allem die divergierende diskursive Präsenz von Arbeitnehmer*innenvertretungen wie Gewerkschaften, Arbeiterkammer und Betriebsratsgremien auf. Während diese in die Debatten rund um die Einführung des 12-Stunden-Tages maßgeblich involviert waren und auch zu großen Teilen den kritischen Diskurs zu den Reformen der Regierung in diesem Bereich anführten, waren sie in den Debatten rund um die Sistierung der „Aktion 20.000“ weniger und in den Debatten zur Mindestsicherungsreform kaum präsent. Dieses – augenscheinlich durch die politische Akzentuierung ihrer Arbeit verursachte – weitgehende Fehlen besagter Akteur*innen in den kritischen Netzwerken wird in der Debatte zur Sozialhilfepolitik und zum Teil auch der Arbeitsmarktpolitik durch eine stärkere Bedeutung von Wohlfahrtsverbänden und NGOs sowie der Kirchen kompensiert. Hinzu kommen in diesen Bereichen regionale und lokale Akteur*innen sowie Höchstgerichte, die in der Frage der Verfassungskonformität der Reformen eine Rolle spielten.

Fazit: die aktuellen Grenzen roher Bürgerlichkeit

Zu guter Letzt fallen im Regierungsdiskurs aus politikfeldvergleichender Perspektive unterschiedliche Formen der Darstellung von Betroffenengruppen auf. Konkret ist im Diskurs zur Sozialhilfepolitik eine ausgeprägte rhetorische Abwertung „ökonomisch schwächerer“ Bevölkerungsgruppen festzustellen. Hierbei kommt das zum Ausdruck, was Heitmeyer als „rohe Bürgerlichkeit“ bezeichnet: zunehmend an die Oberfläche drängende autoritäre Haltungen, die mit offener „Verachtung schwacher Gruppen“ und aggressiver „Einforderung von Etabliertenvorrechten“ einhergehen. Während sich in der Diskussion um sogenannte „Durchschummler“ ähnliche Tendenzen auch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik finden, lässt sich in der hier fokussierten Debatte um die „Aktion 20.000“ mit ihrer spezifischen Zielgruppe von älteren Langzeitarbeitslosen (noch) keine dem Mindestsicherungsdiskurs vergleichbare Entwicklung feststellen. Und auch in der medialen Debatte zur Arbeitszeitpolitik finden sich (bislang) kaum analoge Formen einer Diffamierung und Verächtlichmachung der Betroffenen. Das deutet darauf hin, dass dem mit der „rohen Bürgerlichkeit“ verbundenen „Treten nach unten“ Grenzen gesetzt sind, die offenbar (noch) nicht in Richtung weiterer Gruppen überschritten werden.

Wenngleich letztgenannte Tendenzen mit dem Zerbrechen der türkis-blauen Koalition im Mai 2019 ein wenig in den Hintergrund getreten sind, bestehen sie bei Teilen der politischen und wirtschaftlichen Eliten in Österreich untergründig wohl fort. Auch deshalb ist die Auseinandersetzung mit den sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen der ÖVP-FPÖ-Regierung und mit deren medialer Vermittlung, wie sie im vorliegenden Beitrag und in der ihm zugrundeliegenden Studie unternommen wird, für die Analyse aktueller Debatten in diesem Bereich von großer Relevanz.

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