Aufgrund wirtschaftlicher und demografischer Faktoren ist der Bedarf an Arbeitskräften merklich gestiegen. Das kann für jene Menschen eine Chance bieten, denen bisher wenig Beachtung gezollt wurde: der sogenannten „stillen Reserve“. Eine gute arbeitsmarktpolitische Betreuung, öffentliche Jobangebote und der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen können dazu beitragen diesen Menschen wieder eine Perspektive zu bieten.
Ein unterschätztes Phänomen
Gängige Definitionen von Arbeitslosigkeit setzen die sofortige Verfügbarkeit und aktive Suche nach Arbeit voraus. Eine Reihe an Menschen, die grundsätzlich arbeiten wollen und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, aber aufgehört haben, nach Arbeit zu suchen, werden nicht erfasst. Nach der gängigen Definition der International Labor Organisation (ILO) werden diese zur Nichterwerbsbevölkerung gezählt.
In Anlehnung an die Definition der ILO definiert die Statistik Austria die Nichterwerbsbevölkerung mit Arbeitswunsch auf Basis von Umfragen. Die Definition umfasst all jene, die dem Arbeitsmarkt nicht (sofort) zur Verfügung stehen, nicht aktiv nach Arbeit suchen und angeben, arbeiten zu wollen. Das umfasst beispielsweise Menschen, die aufgrund von Erkrankungen oder mangels Kinderbetreuungseinrichtungen dem Arbeitsmarkt nicht unmittelbar zur Verfügung stehen. Als stille Reserve bezeichnet die Statistik Austria den Teil der Nichterwerbsbevölkerung, der innerhalb von zwei Wochen zu arbeiten beginnen könnte.
Im dritten Quartal 2022 zählten 71.200 Personen zur stillen Reserve. Frauen waren mit 55 Prozent stärker betroffen als Männer. Die Nichterwerbsbevölkerung mit Arbeitswunsch betrug 260.100 Personen, der Anteil der Frauen aufgerundet 58 Prozent. Das dürfte auf die Betreuungsverpflichtungen zurückzuführen sein, die nach wie vor überwiegend Frauen übernehmen.
Die stille Reserve ist ähnlich der Arbeitslosigkeit konjunkturabhängig. Während der Pandemie ist so auch die Zahl der Nichterwerbsbevölkerung mit Arbeitswunsch gestiegen, mit der guten Konjunkturlage jedoch wieder deutlich gesunken. Die aktuell hohe Nachfrage nach Arbeitskräften bietet eine Chance für diese Menschen, aber auch eine Herausforderung an die Arbeitsmarktpolitik, ihnen wieder eine Perspektive zu geben und sie zu ermutigen.
Wer sind die „stille Reserve“?
Über die Ursachen, wieso Menschen in Österreich die Suche nach Arbeit aufgegeben haben, ist wenig bekannt. Frustrationserfahrungen bei Bewerbungen und im Vermittlungsprozess dürften eine wesentliche Rolle spielen. Gerade ältere Arbeitslose über 55 ziehen sich häufig zurück und brechen die aktive Stellensuche ab, wie Auswertungen von Daten der ILO zeigen. Eine Studie für Deutschland verdeutlicht zudem, dass sich unter entmutigten (älteren) Arbeitslosen ein Muster von gesundheitlichen Einschränkungen, niedrigem Ausbildungsniveau und häufig auch Migrationshintergrund zeigt. Entmutigung ist dann oft auch Resultat von schlechteren Perspektiven am Arbeitsmarkt.
Bacher et al. untersuchten die stille Reserve in Österreich in den Jahren 2016 bis 2020. Viele gehören der ersten Zuwanderungsgeneration an. Hinzu kommt ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss sowie Menschen die zuvor als Hilfsarbeiter:innen tätig waren.
Dabei handelt es sich um eine für die Arbeitsmarktpolitik relevante Personengruppe, denn 46 Prozent der stillen Reserve waren bereits mehr als ein Jahr arbeitslos und 19 Prozent sogar seit mehr als fünf Jahren. Abschließend kommt die Untersuchung von Bacher et al. zu dem Ergebnis, dass unter idealen Bedingungen 65 bis 84 Prozent der offenen Stellen aus der „stillen Reserve“ besetzt werden könnten.
Frauen sind besonders betroffen
Frauen sind in der stillen Reserve – anders als bei den Arbeitslosen – überrepräsentiert. Im Rahmen einer Studie von SORA im Auftrag der Arbeiterkammer Wien wurden betroffene Frauen zu ihren Erfahrungen befragt.
Deutlich wurde, dass die Arbeitsbedingungen vor allem im Dienstleistungsbereich und die Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt nicht zu den Lebensrealitäten der Frauen passen: Körperliche Belastungen bis hin zur Beeinträchtigung der Gesundheit, Diskriminierung, sexuelle Übergriffe und nicht zuletzt die Unvereinbarkeit von Erwerbsarbeit mit Care-Arbeit führen zum Rückzug aus dem Erwerbsarbeitsmarkt.
Gesundheitliche Gründe, Betreuungsverpflichtungen, berufliche Umorientierungsphasen sowie die Vermutung, dass es keine adäquaten Stellen gibt, wurden als Hauptgründe identifiziert, wieso die Suche nach Arbeit aufgegeben wurde. Aber auch eine unzureichende Unterstützung seitens des AMS, Schlechterbehandlung oder Diskriminierungen in der Beratung wurden fallweise berichtet.
Erfahrungen aus der Praxis der sozialen Unternehmen
Berichte aus der täglichen Arbeit der sozialen Unternehmen, die Menschen auf ihrem Weg (zurück) in den Erwerbsarbeitsmarkt begleiten, verdeutlichen, dass es oft Strukturen und fehlende Unterstützung sind, die zu einem Rückzug führen.
Formal sind Personen, die an sozialökonomische Betriebe oder gemeinnützige Beschäftigungsprojekte zugewiesen werden, zwar beim AMS gemeldet. Nach Erfahrungen aus einem Vorarlberger Betrieb haben aber mehr als 70 Prozent davor bereits seit Längerem nicht mehr nach einer Erwerbsarbeit gesucht. Gründe dafür sind unter anderem gesundheitliche Probleme, Aus- bzw. Überlastung mit Familienarbeit oder auch mangelnde Mobilitätsangebote. Vor allem aber haben Personen häufig negative Erfahrungen im Bewerbungsprozess gemacht, Ablehnung erfahren oder erst gar keine Rückmeldung auf Bewerbungen bekommen und daher resigniert.
Viele Menschen, die längerfristig erwerbsarbeitslos sind, stehen vor großen Hürden, die es ihnen erschweren, kurzfristig eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, selbst wenn sie eigentlich auf der Suche sind: So berichtet etwa eine Beratungsstelle für Frauen in Salzburg, dass oft keine Kinderbetreuungsplätze zur Verfügung stehen und Unternehmen sich nicht auf die Bedarfe von Frauen mit Betreuungspflichten einstellen. Das ist insbesondere schwierig für Alleinerzieher:innen, wenn die familiäre Unterstützung fehlt oder die Kinder aufgrund von Behinderungen mehr und strukturiertere Betreuung brauchen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bleibt eine Aufgabe von Frauen – und oft zeigt sich, dass diese Vereinbarkeit angesichts der Rahmenbedingungen nicht möglich ist.
Materielle Deprivation, die beispielsweise dazu führt, dass Menschen sich keine angemessene Kleidung kaufen können, mangelhaftes Mobilitätsangebot im ländlichen Raum oder auch gesundheitliche Einschränkungen sind ebenfalls Faktoren, die eine Beteiligung am Erwerbsarbeitsmarkt für eigentlich arbeitswillige und -fähige Menschen erschweren. Insbesondere Migrant:innen aus der ersten Generation fehlen zudem oft wichtige Informationen zum Zugang zum österreichischen Erwerbsarbeitsmarkt.
Was tun? Chance und Herausforderung in der Arbeitsmarktpolitik
Die Forschungsergebnisse und Berichte aus den sozialen Unternehmen verdeutlichen, dass es sich bei der „stillen Reserve“ um eine relevante Größe handelt, die Überschneidungen mit vulnerablen Zielgruppen der Arbeitsmarktpolitik aufweist. Die vorteilhafte Situation am Arbeitsmarkt ist eine Chance in der Arbeitsmarktpolitik, Gruppen in den Fokus zu nehmen, die sonst vernachlässigt werden.
- Die erste Zuwanderungsgeneration ist in der „stillen Reserve“ überrepräsentiert. Um dem entgegenzuwirken, braucht es Angebote, die Integration fördern und Dequalifizierung entgegenwirken.
- Qualifizierung muss vor allem für Menschen mit geringer formaler Bildung zugänglich und finanziell gut abgesichert sein.
- Menschen mit Betreuungspflichten – also insbesondere Frauen – stehen dem Erwerbsarbeitsmarkt oft nicht zur Verfügung, weil dies nicht mit der Care-Arbeit, die sie im Privaten leisten, vereinbar ist. Hier muss die öffentliche Hand ansetzen und Kinderbetreuung ebenso wie hochwertige Pflegeangebote ausbauen. Gleichzeitig braucht es ein Umdenken seitens der Unternehmen: Die Erwerbsarbeitswelt muss sich an Anforderungen an Vereinbarkeit anpassen.
- Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen haben es schwer, einen Platz am Erwerbsarbeitsmarkt zu finden. Arbeitsbedingungen und Strukturen in Unternehmen machen es oft unmöglich, auch mit gesundheitlichen Einschränkungen produktiv tätig zu sein.
- Menschen, die aufgrund negativer Erfahrungen bereits resigniert haben oder angesichts großer Hürden Unterstützung brauchen, könnten von einem Ausbau der geförderten Beschäftigung in den sozialen Unternehmen bzw. von einer staatlichen Jobgarantie profitieren. Arbeitsverhältnisse können in diesem Kontext besser bedürfnisgerecht gestaltet werden und gleichzeitig einen Integrationspfad in den „ersten Arbeitsmarkt“ bieten.
- Um die „stille Reserve“ wieder in das Erwerbsleben zu integrieren, braucht es mehr und gute Betreuung durch das AMS und nicht Zwang oder Sanktionen, die sie zu ungeeigneten Bedingungen in den Arbeitsmarkt oder gar weiter in die Nichterwerbstätigkeit drängen.