Schutz vor feindlichen Übernahmen: Neudenken der europäischen Kapitalverkehrsfreiheit

24. Juli 2020

Für den Schutz sensibler Infrastruktur und Industrien vor dem Ausverkauf stehen der EU derzeit kaum Instrumente zur Verfügung. Mit dem kürzlich vorgestellten Leitfaden für ausländische Direktinvestitionen hat die EU-Kommission kurzfristig reagiert. Doch es braucht langfristige Lösungen und eine Abkehr vom Primat der grenzenlosen Kapitalverkehrsfreiheit.

Ausverkauf von EU-Schlüsseltechnologie?

„Wird Europas Süden von China gekauft?“ und „China als ambitionierter Partner Griechenlands bei Handel und Energie“, so lauten Schlagzeilen, die sich seit der Finanzkrise 2008 häufen. Die chinesischen Übernahmen sind hochkarätig: Griechenlands größter Hafen in Piräus, Unternehmen, die Terminals in rumänischen und spanischen Häfen betreiben, die Flughäfen in Frankfurt-Hahn und Hellinikon (Griechenland). Spitzenreiter bei Direktinvestitionen in Europa sind zwar die USA mit 38 Prozent. Die chinesischen Direktinvestitionen machen aktuell nur 2,2 Prozent aus, jedoch mit stark steigender Tendenz, vor allem bei strategischer Infrastruktur im Rahmen der „One Belt, One Road“-Strategie, der Neuen chinesischen Seidenstraße.

Der europäische Binnenmarkt steht mit seiner Infrastruktur und seinen Unternehmen der ganzen Welt offen: Denn seine stärkste Säule ist die Kapitalverkehrsfreiheit. Jedem EU- und ausländischen Investor stehen europäische Unternehmen als Investitionsobjekt gleichermaßen zur Verfügung. Durch diese Freiheit sollen optimale Allokationsmöglichkeiten für den Produktionsfaktor Kapital sichergestellt werden.

Die Globalisierung der Kapitalströme in Kombination mit modernen Kommunikationsmitteln ermöglicht, dass Kapitalmärkte rund um die Uhr in Bewegung sind. Ergebnis ist eine Marktinterdependenz ungeahnten Ausmaßes bei gleichzeitigem Verlust staatlicher Regulierungsmöglichkeit und erhöhter Krisenanfälligkeit. Die zweite globale Wirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts, verursacht durch die COVID-19-Pandemie, lässt die Aktienwerte börsennotierter Unternehmen dramatisch sinken und schwächt auch diejenigen Unternehmenswerte, die nicht an der Börse gehandelt werden. Ein guter Nährboden für einen Übernahmeanstieg durch außereuropäische Konzerne. Die Begehrlichkeiten erstrecken sich auch auf Schlüsseltechnologien. Zuletzt stand das Pharmaunternehmen CureVac wegen seiner fortgeschrittenen COVID-19-Forschung auf der US-amerikanischen Einkaufsliste. Damit stellt sich die Frage: Bedarf es einer neuen Interpretation der Kapitalverkehrsfreiheit zum Schutz europäischer Schlüsseltechnologien und strategischer Infrastruktur?

Europa der unterschiedlichen Antworten

14 EU-Mitgliedstaaten haben Gesetze zur Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen. Deutschland überlegt, den Wirtschaftsstabilisierungsfonds für Beteiligungen an Unternehmen zur Abwehr feindlicher Übernahmen zu nutzen. Frankreich hat bereits einen speziellen Investitionsfonds („Lac d‘argent“) zu diesem Zweck geschaffen. Auch in Österreich wird das Außenwirtschaftsgesetz in diesem Sinne überarbeitet. Die EU-Wettbewerbskommissarin Vestager ließ aufhorchen, als sie EU-Ländern empfahl, Beteiligungen an wichtigen Unternehmen aufzubauen, um chinesische Übernahmen zu blockieren. In ein ähnliches Horn stießen EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und Handelskommissar Hogan: „Unter den derzeitigen Umständen müssen wir die Offenheit für Auslandsinvestitionen durch angemessene Kontrollen ergänzen. Wir müssen wissen, wer investiert und zu welchem Zweck dies getan wird, und ausloten, wie der Rechtsrahmen zur Überprüfung von Investitionen dazu genutzt werden kann, in der derzeitigen Krise einen Ausverkauf strategischer Vermögenswerte der EU zu verhindern.“

Ein solcher EU-Rechtsrahmen wurde bereits in Vorkrisenzeiten als Antwort auf problematische Übernahmebestrebungen vor allem von ausländischen Staatsfonds auf den Weg gebracht: die Verordnung zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union, die im Oktober 2020 in Kraft treten wird. An ihrer formalen Striktheit kann man erkennen, dass sie noch im „Vorkrisenmodus“ entworfen wurde: Das Primat der Kapitalverkehrsfreiheit, der Neutralität des Eigentums und der bedingungslosen Offenheit für ausländische Direktinvestitionen ist vorherrschend. Dennoch: Die Erkenntnis, dass das Finanzkapital nicht unbedingt die beste Allokation der Ressourcen im Sinne einer europäischen Strategie im Kopf hat, beginnt sich darin abzuzeichnen.

Neuer Leitfaden für ausländische Direktinvestitionen

Diese Strategie wird in dem gerade veröffentlichten Leitfaden für die Mitgliedstaaten betreffend ausländische Direktinvestitionen konkretisiert. Basierend auf der Erkenntnis, dass der derzeitige ökonomische Schock das Risiko verstärkt, dass strategische Industrien und Infrastruktur in die Hände von Drittstaatsunternehmen geraten, wird auf die Notwendigkeit verwiesen, wertvolle Kapazitäten im Binnenmarkt zu bewahren und zu verstärken. Auch das Risiko, dass strategische Unternehmen durch die Volatilität und Unterbewertung europäischer Börsen unter Druck geraten, kommt darin vor. Die EU-Kommission erkennt in dem Leitfaden gar an, dass „Goldene Aktien“ eine Möglichkeit sind, dem Ausverkauf europäischer Unternehmen und Industrieakteure über Portfolioinvestments entgegenzutreten. Mit diesem Instrument werden dem Aktieninhaber, in der Regel die öffentliche Hand, weitere Rechte der Einflussnahme auf ein Unternehmen eingeräumt als den restlichen Aktionären.

Doch obwohl die Rede von problematischen Aufkäufen strategischer Werte ist, kommt gleich wieder die Angst vor dem eigenen Wagemut zutage: Nicht die Industriestrategie dürfe die Rechtfertigung sein, sondern nur die Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, die zwar weiter als bisher ausgelegt wird, aber dennoch im engen Korsett bleibt. Die Untersagung des Aufkaufs müsse die Ultima Ratio bleiben.

Auch kann der Leitfaden nicht den Umstand beseitigen, dass 13 Mitgliedstaaten keinerlei gesetzliche Regelungen zur Kontrolle ausländischer Investitionen haben. So ist die EU trotz Koordinierungs- und Informationsverfahren weit von einer einheitlichen Strategie der Kapitalverkehrskontrollen nach außen entfernt. Das Ködern von Auslandskapital bleibt ein Instrument im Wettbewerbskoffer der Mitgliedstaaten, insbesondere bei solchen, die unter hohem budgetären Druck stehen, wie beispielsweise Italien oder Griechenland.

Der Leitfaden ist somit nur ein Notfallplan, zeitlich und inhaltlich begrenzt. Er will den Mitgliedstaaten weitergehende industriepolitische Instrumente im europäischen Interesse an die Hand geben, ist aber für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) nicht bindend. Sieht man sich die bisherige Rechtsprechung an, so werden wohl viele Maßnahmen der Kapitalverkehrsbeschränkung, die in dem Leitfaden behandelt werden, keinen Bestand haben.

Champion der Binnenmarktfreiheiten

Denn die neuen Ideen rühren an einem Grundpfeiler des europäischen Binnenmarktes: der Kapitalverkehrsfreiheit. Sie ist durch einen unbedingten Liberalisierungsauftrag gekennzeichnet. Anders als die übrigen Binnenmarktfreiheiten – Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sowie freier Warenverkehr – gilt sie nach innen und außen (Art. 63 Abs. 2 AEUV). Diese Vorrangstellung entspricht ihrem Ziel, zum Wirtschaftswachstum beizutragen, indem sie durch effiziente Kapitalzufuhr den Status des Euro als internationale Währung stärkt und so der EU mehr Gewicht verleiht.

Ausnahmen von dieser Freiheit sind daher nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zulässig (Art. 65 AEUV). Der EuGH hat folgende drei Grundsätze zur Rechtfertigung der Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit entwickelt: 1.) Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. 2.) Es dürfen nicht versteckt rein wirtschaftliche Ziele verfolgt werden. 3.) Es muss den Anlegern offenstehen, sich vor Gericht gegen die staatliche Entscheidung zu wehren. Bei dieser strikten Interpretation haben nur wenige Regelungen Bestand. So wurden „Goldene Aktien“ größtenteils als ungerechtfertigte Beschränkung qualifiziert. Auch ein Grundinteresse der Gesellschaft wurde nur bei bestimmten Branchen anerkannt: Erdöl, Telekommunikation und Elektrizität. COVID-19 zeigt aber die Fragilität und strategische Bedeutung vieler weiterer Bereiche auf: Wie steht es mit der Chemie-, Pharma- oder Lebensmittelbranche sowie der damit verbundenen Logistik?

Offen ist auch, ob der EuGH das Vorliegen einer konkreten Gefahr anerkennt, wenn die Beteiligung an strategisch wichtigen Unternehmen in sensiblen Branchen durch ausländische Regierungen erfolgt, die zwar marktwirtschaftlich handeln, aber nicht demokratischen Rechtsstaaten vorstehen. Kann sich die EU die Aufrechterhaltung der Fiktion leisten, dass freie Märkte im Wettbewerb eine richtige Ressourcenallokation bewirken, wenn gleichzeitig andere Wirtschaftssysteme auf dem Weltmarkt tätig sind, die durch massive staatliche Wirtschaftslenkung eine „politische“ Ressourcenallokation verfolgen?

Europäische Souveränität bei Schlüsseltechnologien und -infrastruktur

Die Ökonomien aller Länder sind in globale Wertschöpfungsketten und Versorgungsnetze eingebunden, die zwei Drittel des Welthandels ausmachen. Der grenzenlosen Kapitalverkehrsfreiheit stehen schwache bzw. keine globalen Regulierungsmechanismen gegenüber. Ergebnis ist ein auf brutale Kostenreduzierung, Effizienz und Steuervermeidung ausgerichtetes Unternehmensmodell. Dem muss ein neues europäisches Wirtschaftsmodell entgegengesetzt werden, das strategische Infrastruktur und Unternehmen, die das Rückgrat für Forschung und Entwicklung bilden, durch „Goldene Aktien“ und Beteiligungskontrollen schützt. Und zwar nicht nur im Zuge krisenbedingten „Auf-Sicht-Fahrens“. Der Leitfaden der EU-Kommission weist den Weg, in welche Richtung der europäische Gesetzgeber den Rahmen für ausländische Investitionen auf Basis von Art. 65 AEUV regulieren muss.

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