Radikale EU-Geldpolitik zur Inflationsbekämpfung – eine Zielverfehlung

03. Mai 2023

Am 10. März 2023 brach Panik aus. Der Zusammenbruch mehrerer US-amerikanischer Banken, allen voran der US-amerikanischen Silicon Valley Bank, überraschte. Hauptursache waren nicht faule Kredite wie in der Finanzkrise 2008. Denn die Bank hatte ihr Geld nicht in hoch riskante Anlagen, sondern in als sicher geltende Staatsanleihen gesteckt. Durch die Zinserhöhungspolitik der US-amerikanischen Zentralbank hatten diese so viel an Kurswert verloren, dass die Bank kollabierte. Die Europäische Zentralbank verfolgt dieselbe Geldpolitik zur Inflationsbekämpfung. Es stellt sich die Frage, welche weiteren Kollateralschäden dadurch entstehen, insbesondere für Arbeitnehmer:innen.  

Keine Wiederholung der Finanzkrise 2008

Am Mittwoch, den 10. März 2023, brach die Silicon Valley Bank (SVB) zusammen. Nur 48 Stunden vergingen zwischen der Ankündigung der Schwierigkeiten der Bank und der Räumung sämtlicher Konten durch die Anleger:innen. Hauptursache waren nicht faule Kredite, wie in der Finanzkrise 2008. Die SVB hatte ihr Geld nicht in hoch riskante Anlagen gesteckt, sondern in als sicher geltende amerikanische Staatsanleihen. Die rasch steigenden Zinsen, verordnet im Rahmen der Inflationsbekämpfungspolitik der US-amerikanischen Zentralbank (FED), führten bei Anleihen aber zu Kursabschlägen. Diese mussten deshalb realisiert werden, weil die Kunden der Bank, die vorher Überschussliquidität hatten, Liquidität brauchten, und die SVB zu Kursabschlägen verkaufen musste, um die Liquidität zu beschaffen.

Orchestriert wurde der SVB-Konkurs von der Abwicklung der Silvergate Bank und der Signature Bank. Der Notverkauf der Schweizer Großbank Credit Suisse fachte die Sorge eines Überschwappens auf den gesamten Bankensektor an. Ihre drohende Insolvenz konnte nur mit einem massiven Staatseingriff abgewendet werden.

Handelt es sich bei den einen um „dunkle Flecken in der Bankenaufsicht“, wie es der deutsche Bundesbank-Chef formuliert, sind die anderen Opfer der Geldpolitik der Zentralbanken. Nahezu wöchentlich stellen Chefvolkswirte von EZB und nationalen Notenbanken weitere Zinsschritte in Aussicht. Seit Juli 2022 wurden die Zinsen bereits sechsmal angehoben. Die Bank of England erhöhte ihren Zinssatz im Februar zum 2. Mal innerhalb von zwei Monaten, die FED ebenso. Dennoch ist die Inflation in der EU nach wie vor mehr als dreimal höher als das 2 %-Ziel des Europäischen Zentralbankensystems. Die Kerninflation, also die Preisentwicklung ohne Einbeziehung der Energiepreise, steigt stetig. Das könnte ein Indikator sein, dass die Inflation länger anhält als bisher gedacht.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Was steckt hinter dieser grotesk anmutenden Strategie? Steigende Zinsen bedeuten Wertverlust von Anleihen, die sich im Markt befinden. Mitgliedstaaten sehen sich also mit weiter steigenden Staatsschulden wegen der zunehmenden Zinslast bei Neuverschuldung sowie mit einem Rückgang des Wertes der Anleihen konfrontiert. Offenbar geht die EZB davon aus, dass ein Abweichen vom Zinsanhebungspfad als Sorge um ihre Banken interpretiert werden könnte. EZB-Vertreter:innen werden deshalb nicht müde zu versichern, dass Europas Banken solide Kapital- und Liquiditätspositionen ausweisen. Für den September 2023 wird der Zinsgipfel mit 4 % Leitzins in Aussicht gestellt.

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Auch wenn Einverständnis darüber besteht, dass Inflationsraten gesenkt werden sollten, so scheint dies im Moment einseitig zu heißen: Preiskontrollen sind gut, gelten aber nur für den Faktor Arbeit als angemessen. So forderte der Gouverneur der Bank of England die Arbeitnehmer:innen auf, von Forderungen nach Lohnerhöhung abzusehen. Ganz nach dem Grundsatz „Let workers suffer while I sit in my castle full of gold bars.” Die Zinserhöhung soll die Inflation einfangen, niedrige, stabile Preise bewirken. Der Privatsektor soll finanziell gestärkt werden, niemand will einen Finanzkollaps à la 2008. Doch: Die Arbeitslosigkeit könnte steigen, trotz kolportiertem Fachkräftebedarf. Steigende Zinsen bergen jedenfalls die Wahrscheinlichkeit, dass die Arbeitslosigkeit in der mittleren Frist steigt und der Lebensstandard sinkt.

Das falsche Narrativ zur angeblichen Lohn-Preisspirale

Richtigerweise dürfte man nicht fragen, ob die Zinserhöhungen zu einer Abkühlung des Wirtschaftswachstums und damit zu einem Rückgang der Inflation führen, sondern vielmehr, ob durch die Zinserhöhungen die „Inflation“ am Arbeitsmarkt verstärkt oder abgeschwächt wird. Verstärkt wird sie, wenn die Antwort auf Preiserhöhungen Lohnerhöhungen sind, es also zu der sogenannten „Lohn-Preisspirale“ kommt, die man in den 1970er Jahren beobachtete.  Eine solche Korrelation ist nicht erkennbar. Vielmehr hinken die Löhne hinter den Preiserhöhungen her, d.h. die Beschäftigten können ihre Realeinkommen nicht schützen.

Denn die Inflation hat ihre Ursachen außerhalb des Arbeitsmarktes. Stieglitz zeigt in seiner Studie, dass es sich bei der derzeitigen Inflation eindeutig um eine angebots- und gewinngetriebene Inflation handelt. Sie ist auf Lieferkettenschwierigkeiten und sektorspezifischer Verknappung von Energie und Agrarprodukten, verursacht durch die Pandemie und den Ukrainekrieg (s. Graphik Verbraucherpreise), zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund kann die Geldpolitik der Zentralbanken nicht greifen: Nur weil das FED einen Hammer besitzt, sollte sie ihn nicht benutzen, um die Wirtschaft zu zertrümmern“.

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Bei einer Verknappung des Angebotes bremsen höhere Zinsen die nötigen Investitionen. „Manchmal ist die Kur, wonach Arbeitslosigkeit als das notwendige Übel in Kauf zu nehmen ist, schlechter als die Krankheit selbst“. So zeigt eine Studie aus 2022, dass in den 1970er Jahren 87 % des Inflationsrückgangs nicht auf die Zinspolitik, sondern auf die Repression der Gewerkschaften zurückzuführen ist. Vielmehr sind die wachsenden Gewinnmargen der Unternehmen – also Zufallsgewinne – und die hohen Energiepreise Treiber der Inflation. Ein Eindämmen der Energiepreise würde die Inflation senken. Wir haben es also mit einer Preis-Gewinnspirale zu tun.

Hier lässt sich mit reiner Geldpolitik wenig ausrichten. Trotzdem folgen die Zentralbanken der reinen Lehre der Geldpolitik, wonach die Zinspolitik die Inflation reguliert. Das Abwürgen von notwendigen Investitionen zur Transformation der Wirtschaft und zum Ausbau Grüner Energien wird als in Kauf zu nehmender Kollateralschaden definiert. Neben den indirekten Auswirkungen wirken sich hohe Zinsen auch direkt verstärkend auf bestehende Ungleichheiten aus. Geringvermögende besitzen mehr Verbindlichkeiten als Vermögenswerte und werden deshalb von hohen Zinsen benachteiligt.

Innovation statt Orthodoxie

Zentralbanken erschweren notwendige Investitionen durch den nahezu zerstörerisch anmutenden Zinsanhebungskurs. Geschichte wiederholt sich selten, aber sie reimt sich: Durch eine derartige Achterbahnfahrt – von der Draghi´schen expansiven Geldpolitik „whatever it takes“ mit Null- bis Negativzinsen zu einer an den „Volker-Schock“ erinnernden Zinserhöhungspolitik – leidet die Investitionssicherheit und das Vertrauen in die Banken. Denn steigende Inflationsraten, ein Krieg und hohe Energiepreise bilden eine ähnliche Ausgangslage wie in den 1970er Jahren, als die Welt in eine tiefe Rezession stürzte. Der Schocktherapie zur Inflationsbekämpfung fehlte es damals an Maß und Mitte. Die EZB sollte daher einen innovativen Weg gehen, der besser ausbalanciert ist.

Denn mit ihren geldpolitischen Instrumenten kann sie die strukturellen Probleme der Länder der Eurozone und die Unvollständigkeiten der Währungsunion nicht lösen. Die Integration der Geldpolitik des Euroraums reicht nicht aus, um die Stabilität des Währungsgebiets mit starker fiskalischer Dezentralisierung, wirtschaftlichen Gegensätzen und politischer Fragmentierung zu gewährleisten. Immerhin ist das Mandat der EZB bereits in einigen Punkten modernisiert worden, so beim Klima. Dieses Thema wird seit kurzem bei der Bewertung der Finanzstabilität oder der Wirksamkeit der Geldpolitik berücksichtigt. Anders als bei der FED spielt jedoch die Beschäftigungslage keine Rolle.

Schwierig bis unmöglich erscheint es hingegen, einen Kompromiss unter den EU-Mitgliedsländern zur Änderung der EU-Verträge dahingehend zu finden, dass nicht nur die Preisstabilität das Hauptziel der Geldpolitik ist. Allerdings soll das Mandat der EZB angesichts des sich verändernden wirtschaftlichen Umfelds regelmäßig überprüft werden. Diese Evaluierung der geldpolitischen Strategie der EZB in der Zukunft ist begrüßenswert.

Ergänzt muss dies mit gut kalibrierter Fiskalpolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten werden. Die EU-Aufbau- und Resilienzfazilität könnte den Nukleus einer zukünftigen, gemeinsamen Fiskalpolitik bilden.

Der Grundsatz, Preisbegrenzungsmaßnahmen sind in Ordnung – aber nur für die Beschäftigten anlässlich von Kollektivvertragsverhandlungen – ist für AK und Gewerkschaften nicht mehr hinnehmbar.

Preiseingriffe und wettbewerbsrechtliche Maßnahmen gegen überhöhte Preise durch missbräuchliche Ausnutzung von Marktmacht im gesamten Rohstoffbereich – Mineralöl, Gas, Grundnahrungsmittel – sind das Mittel der Wahl. Denn: In Mitgliedstaaten, die direkte Preiseingriffe vornahmen, ist die Inflation deutlich niedriger als in Ländern, in denen hauptsächlich auf einkommenswirksame Maßnahmen gesetzt wird. Österreich hat lediglich bei den Strompreisen direkt gebremst. Der Rest der Unterstützungsmaßnahmen geht auf einkommenswirksame Instrumente – wie zum Beispiel Einmalzahlungen – zurück. Es ist mit 25 % preiswirksamen Instrumenten das Schlusslicht der Eurozone, hingegen „Sieger“ bei der Inflationsrate, die nach wie vor bei rund 9% liegt. Frankreichs Inflationsquote liegt bei 7 % bei 92 % preiswirksamen Maßnahmen.

Eine innovative statt orthodoxe Geldpolitik mit Schwerpunkt auf Investitionsförderung und Beschäftigung ist das eine. Ergänzt muss diese durch ordnungspolitische Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten werden, durch Gaspreisdeckel, Entkoppelung des Strompreises vom Gaspreis, Mietendeckel und vor allem eine Abschöpfung der Übergewinne – sowohl im Rahmen des Wettbewerbsrechts als auch durch eine wirksame Übergewinnsteuer.