Nachhaltiger Wohlstand in der Corona-Krise

15. Dezember 2020

Je länger die COVID-19-Pandemie dauert, desto sichtbarer werden deren soziale und ökonomische Folgen. Ein aktueller Bericht der Statistik Austria warnt nun davor, dass die Auswirkungen der Gesundheitskrise auch die Erreichung der Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDGs) erschweren. Einmal mehr zeigt sich in der aktuellen Krise, dass Wohlstand und Wohlergehen differenziert betrachtet werden müssen und zielgerichtete Politik erfordern.

Wohlstand und Entwicklung als Zielbündel

Wirtschaftliche und soziale Entwicklung lassen sich nicht allein am Bruttoinlandsprodukt ablesen. Das ist lange bekannt und viel diskutiert, doch in den letzten zehn Jahren entwickeln sich auf unterschiedlichen Ebenen Ansätze, die alternativen bzw. nachhaltigen Wohlstandskonzepten mehr politische Relevanz verleihen. Einflussreich war unter anderem eine Kommission um die Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen und Joseph Stiglitz, deren Bericht zur Messung von Wirtschaftsleistung und sozialem Fortschritt im Kern Fragen gesellschaftlicher Ungleichheit, der Lebensqualität und der nachhaltigen Verfügbarkeit von Ressourcen thematisiert. Die Arbeit der Kommission sollte die wachsende Kluft zwischen wirtschaftlichen Kennzahlen und der Wahrnehmung der Bevölkerung schließen. Sie stieß in Fachkreisen auf großes Interesse. Statistik Austria entwickelte unter anderem auf Basis ihrer Empfehlungen das Projekt „Wie geht’s Österreich?“, mit dem seit 2012 die Entwicklung des Wohlstands in Österreich differenziert dargestellt wird.

Ebenfalls 2012 wurde auf der Rio+20-Konferenz die Erarbeitung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals bzw. SDGs) beschlossen. Anders als im Rahmen der Vorgängerziele, der Millennium Development Goals (MDGs), erhielten Umweltaspekte und die Reduktion von Ungleichheiten des Lebensstandards wesentlich mehr Gewicht. Mit der am 25. September 2015 verabschiedeten Agenda 2030 verpflichteten sich schließlich alle 193 UN-Mitgliedstaaten zur Umsetzung der 17 SDGs bis zum Jahr 2030, und zwar auf globaler, nationaler und regionaler Ebene. Auf europäischer Ebene bezieht sich mittlerweile das sogenannte „Europäische Semester“ zur Koordination der Wirtschaftspolitik auch auf die SDGs. In Österreich sind per Ministerratsbeschluss vom 12. Jänner 2016 alle Bundesministerien im eigenen Wirkbereich zur Implementierung der Agenda 2030 aufgerufen („Mainstreaming-Ansatz“). Der erste „Freiwillige Nationale Bericht“ zur Umsetzung der SDGs wurde im Juli 2020 im Rahmen des „Hochrangigen Politischen Forums für Nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen präsentiert – coronabedingt virtuell.

Monitoring der SDGs in Österreich – Auswirkungen der Krise?

Den 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung sind 169 Unterziele zugeordnet, die Fortschritte bei der Zielerreichung sollen mit detaillierten Indikatoren erfasst werden. Zwecks Monitoring der SDGs hat Statistik Austria 2017 ein erstes nationales Indikatorenset erarbeitet, das seither laufend weiterentwickelt wird und aktuell rund 200 Indikatoren umfasst. Im Mai 2020 wurde, basierend auf Daten von 2010 bis 2018, ein erster nationaler SDG-Indikatorenbericht veröffentlicht. Aufbauend auf diesem Bericht wurde nun ein Update erstellt, das – soweit verfügbar – bereits Daten für das Jahr 2019 berücksichtigt und einen Ausblick auf die sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen der aktuellen Gesundheitskrise wagt. Obwohl die nationale Berichterstattung im Zentrum steht, werden auch globale Entwicklungen im Zuge der Pandemie kurz umrissen. Zur Beurteilung der Auswirkungen der Corona-Krise werden neben statistischen Daten auch die Einschätzungen nationaler und internationaler Institutionen (u. a. WIFO, IHS, UN) herangezogen. Grob zusammengefasst stehen negativen sozialen Folgen kurzfristig positive Umwelteffekte gegenüber.

Offensichtlich ist, dass die Pandemie Ziel 3 („Ein gesundes Leben für alle Menschen gewährleisten“) unmittelbar gefährdet. Dass auch der Fortschritt bei Ziel 8 („Nachhaltiges Wirtschaftswachstum, menschenwürdige Arbeit“) massiv beeinträchtigt ist, lässt sich seit Monaten den Schlagzeilen aller Tageszeitungen entnehmen. Gleichzeitig sind die sozialen Folgen der Krisenbekämpfung ungleich verteilt, was wiederum Ziel 10 („Ungleichheit verringern“) sowie Ziel 1 („Armut beenden“) negativ beeinflusst. Vom starken Anstieg der Arbeitslosigkeit im Frühjahr waren beispielsweise in Österreich ausländische Staatsangehörige und Personen mit maximal Pflichtschulabschluss überdurchschnittlich betroffen. Auf globaler Ebene wird eine Zunahme absoluter Armut erwartet, auch in Österreich dürften armutsgefährdete oder -betroffene Personen zusätzliche Einschränkungen erfahren.

Gleichzeitig können die weltweit erfolgten Schulschließungen den Bildungserfolg von armen oder benachteiligten Kindern besonders stark beeinträchtigen, Ziel 4 („Inklusive, gleichberechtigte, hochwertige Bildung“) dürfte einen Rückschlag erfahren. Herausforderungen der Geschlechtergleichstellung (Ziel 5) zeigen sich ebenfalls in der Krise, leisten doch Frauen global dreimal so viel unbezahlte Arbeit wie Männer. Auch in Österreich verdeutlicht die Krise erneut, dass Frauen von der Doppelbelastung durch Beruf und Betreuungspflichten stärker betroffen sind als Männer. Im Bereich der Zieldimension 9 („Widerstandsfähige Infrastruktur, nachhaltige Industrialisierung, Innovation“) wird einerseits auf massive Produktionsrückgänge im ersten Halbjahr hingewiesen. Andererseits kam es zwecks Entwicklung von Impfstoffen zu neuen Kooperationen, die Nutzung digitaler Technologien wurde beschleunigt und der Straßengüterverkehr reduziert. Und während global von einem stark negativen Effekt auf die Beendung von Hunger (Ziel 2) ausgegangen wird, stieg in Österreich der Absatz von Bio-Lebensmitteln (ebenfalls Ziel 2 – „Bessere Ernährung, nachhaltige Landwirtschaft“).

Sowohl auf globaler als auch auf nationaler Ebene wird es infolge der Krise zumindest kurzfristig zu einem Rückgang der Treibhausgasemissionen (Ziel 13 – „Bekämpfung des Klimawandels“) kommen. Kurzfristig sank in Österreich auch der Stromverbrauch von Industrie und Gewerbe, die Belieferung von Haushalten und Kleinunternehmen war im Frühjahr weitgehend sichergestellt (Ziel 7 – „Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher und nachhaltiger Energie“). Die mittel- bis längerfristigen Effekte auf die Ziele 7 und 13 sind jedoch unklar, ohne ausreichende Investitionen könnte sich beispielsweise der Ausbau erneuerbarer Energieträger verlangsamen. Auch in den anderen Zieldimensionen müssen die Auswirkungen differenziert betrachtet werden, vielfach liegen noch keine ausreichenden Daten vor. In Österreich bewiesen leistungsfähige und rechenschaftspflichtige Institutionen auch in der Krise ihre Stabilität (Ziel 16). Der globale Süden wird jedoch nicht zuletzt im Lichte der Krise auf eine funktionierende globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung (Ziel 17) angewiesen sein.

Die SDGs als Chance für wohlstandsorientierte Politik?

Der Rechnungshof überprüfte von Juni bis September 2017 die Umsetzung der Agenda 2030 in Österreich. Dabei wurden unter anderem die Verantwortlichkeiten auf Bundesebene und die Koordination zwischen den Gebietskörperschaften, die Erhebung der Ausgangssituation (einschließlich Lückenanalyse), das Berichtswesen, der Umsetzungsplan sowie die Einbeziehung der Zivilgesellschaft beurteilt. In wesentlichen Bereichen fiel der Bericht kritisch aus:

  • Der „Mainstreaming-Ansatz“ führte zu einer Fragmentierung des Umsetzungsprozesses, klare politische Prioritäten und eine zentrale und kohärente Steuerung fehlten.
  • Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme waren je nach Ministerium sehr unterschiedlich, das redaktionell zusammengeführte Gesamtdokument wurde nie veröffentlicht.
  • Es gab weder Strukturen für eine systematische gesamtstaatliche Koordinierung noch für eine systematische Einbeziehung der Zivilgesellschaft.

Mit der Erarbeitung und Veröffentlichung des ersten „Freiwilligen Nationalen Berichts“ wurden bereits einige Kritikpunkte des Rechnungshofs aufgegriffen. Im November hat sich nun auch der Nationalrat in einzelnen Ausschüssen verstärkt der Umsetzung der SDGs angenommen. Im Verfassungsausschuss verständigte man sich auf eine engere Zusammenarbeit zwischen Parlament und Regierung zu den SDGs, die zuständige Ministerin stellte ihrerseits die Einrichtung einer Steuerungsgruppe im Bundeskanzleramt in Aussicht. Im Rechnungshofausschuss wurden der erwähnte Bericht sowie der Stand der Umsetzung einzelner Empfehlungen debattiert. Hier informierte die Kanzleramtsministerin, dass eine Steuerungsgruppe in der zuständigen interministeriellen Arbeitsgruppe bis Jahresende eine Prioritätenliste erarbeiten würde. Dabei spiele auch die Bewältigung der Corona-Krise eine Rolle, die Berichte der Statistik Austria würden dazu eine öffentlich verfügbare Grundlage bieten.

Fazit

Wenn das Jahr 2020 politische Lehren bereithält, dann zumindest jene, dass Politik schnell und zielgerichtet auf akute Krisen reagieren kann. Um dabei das Zielbündel wohlstandsorientierter Politik nicht aus den Augen zu verlieren, bieten die SDGs einen guten Kompass. Der Dialog mit allen relevanten Stakeholdern sollte dazu beitragen, die notwendige Balance zwischen unterschiedlichen Zieldimensionen bzw. gesellschaftlichen Interessen zu wahren. SDG Watch Austria setzt sich als zivilgesellschaftliche Plattform für eine ambitionierte Umsetzung der SDGs in Österreich ein. Ihre Empfehlungen umfassen die Stärkung der politischen Verantwortung und Führung, evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen sowie die institutionalisierte, partizipative und transparente Einbindung aller Stakeholder. Inhaltlich kann auch der AK-Wohlstandsbericht als Inspirationsquelle dienen. Dessen Schlussfolgerungen liefern Ideen, wie fortschrittliche Politik im Sinne der SDGs aussehen könnte.

Mit der Frage, wie Wohlstand zeitgemäß interpretiert und gefördert werden kann, beschäftigt sich die Ausgabe 4/2020 der Zeitschrift Wirtschaft und Umwelt. Gloria Gruber widmet sich dabei den sozialen Aspekten der Corona-Krise, Manfred Krenn der Beschäftigungspolitik. Hannah Berger und Gregor Lahounik fordern in ihrem Beitrag mehr öffentlichen Raum in der Stadt, um die Lebensqualität zu steigern. Im Schwerpunktinterview kommt Forscherin Halliki Kreinin zu Wort.

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