Hartz-Reformen: kein Vorbild, sondern aus der Zeit gefallen

06. Juli 2018

Hartz IV steht insbesondere für eine Politik des Abschieds vom mittelschichtsorientierten Modell der Absicherung bei Arbeitslosigkeit. Gegen die Risiken des digitalen Kapitalismus braucht es dagegen eine präventive, investiv-befähigende und solidarische Arbeitsmarktpolitik, mit der Erhalt, Ausbau und Förderung von Qualifikation in den Mittelpunkt rückt.

Reformbündel mit den Hartz-Gesetzen auf den Weg gebracht

In Deutschland sind Anfang der 2000er-Jahre umfangreiche Arbeitsmarktreformen durchgeführt worden. Unter dem Leitbild der Aktivierung ist das Leistungsrecht geändert worden, die Arbeitsförderung neu justiert und eine umfassende Organisationsreform der Arbeitsverwaltung umgesetzt worden. Zusätzlich wurde der Arbeitsmarkt flexibilisiert, indem vor allem Minijobs (geringfügige Beschäftigung) und Leiharbeit gesetzlich erleichtert wurden.

Sicherheitsversprechen gegenüber der Mittelschicht aufgekündigt

Kern der Veränderungen im Leistungsrecht war die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die vom Grundprinzip her der Notstandshilfe in Österreich entsprach. Die alte Sozialhilfe wurde zum neuen Hartz-IV-System umgebaut.

Seither beziehen Arbeitslose nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes nur noch Leistungen auf einem künstlich kleingerechneten Grundsicherungsniveau (Monitor: Wie die Bundesregierung die Regelsätze niedrig rechnet) – wenn überhaupt. Denn die strengen Kriterien für die Anrechnung von Haushaltseinkommen und „Vermögen“ (in diesem Zusammenhang ein euphemistischer Begriff) führten dazu, dass eine große Gruppe überhaupt keine Leistungen mehr bezieht. Davon sind Frauen besonders betroffen, da im Haushaltskontext aufgrund des Partnereinkommens keine Bedürftigkeit vorliegt. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ist damit Beispiel für eine Politik, die das Sicherheitsversprechen gegenüber der Mittelschicht aufkündigt und damit die Angst vor Arbeitslosigkeit bis in die Mitte der Gesellschaft trägt.

Entwertung von Lebensleistung und Verlust des sozialen Status

Im Kern bedeutet die Abschaffung des mittleren Sicherungssystems (Arbeitslosenhilfe bzw. der österreichischen Notstandshilfe) eine Entwertung der Lebensleistung. Ohne Rücksicht auf den vor der Arbeitslosigkeit erreichten Arbeitsmarkt- und Einkommensstatus fallen die Menschen nach kurzer Zeit zurück auf eine Leistung, die lediglich die Existenz sichern soll oder verlieren jegliche Leistungsansprüche. Lebensstandardsicherung und damit die Honorierung von Lebensleistung spielt keine Rolle mehr.

Dieser Paradigmenwechsel zeigt sich auch durch die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien bei Bezug von Arbeitslosengeld und der quasi grenzenlosen Zumutbarkeit im Hartz-IV-System. Parallel wurde das Motto „Vermittlung vor Qualifizierung“ gestärkt, längerfristige Qualifizierungsmaßnahmen massiv zurückgefahren und dafür kurzfristige Trainings ausgebaut – mit dem Ziel, auch in unterwertige Beschäftigung zu integrieren.

Im Ergebnis steht eine Politik, die Jutta Allmendinger als Entbiografisierung beschreibt: Die Menschen verlieren ihren sozialen Status. Dieser Statusverlust bzw. die immer mitschwingende implizite Möglichkeit des sozialen Abstiegs ist der konzeptionelle Ausgangspunkt der deutschen Reformen und kommt einem Abschied vom mittelschichtsorientierten Modell der Absicherung bei Arbeitslosigkeit gleich.

Dies sieht man vor allem an der Veränderung des Anteils der Arbeitslosen, die eine auf das vorherige Einkommen bezogene Leistung beziehen: Waren dies vor den Reformen noch knapp 70 Prozent, so ist ihr Anteil im ersten Jahr nach der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe auf 25 Prozent eingebrochen und lag im letzten Jahr nur noch bei 15 Prozent.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Arbeitsmarktpolitik: präventiv, investiv-befähigend, solidarisch

Spätestens vor dem Hintergrund der Digitalisierung erscheinen die deutschen Arbeitsmarktreformen nicht nur ungerecht, sondern auch aus der Zeit gefallen. Denn schließlich erscheint es unstrittig, dass Weiterbildung die zentrale Antwort auf den digitalen Wandel ist. Daher bedarf es einer Weiterentwicklung der Arbeitsmarktpolitik,

  • die präventiv Weiterbildungsmöglichkeiten auch für Beschäftigte eröffnet,
  • den Schutz, Erhalt und Ausbau von Qualifikationen wieder in den Mittelpunkt rückt
  • und auch zweite und dritte Chancen auf einen Berufsabschluss eröffnet
  • sowie die Risiken des digitalen Kapitalismus durch ein erneuertes bzw. erweitertes Sicherheitsversprechen solidarisch bearbeitet.

Die Hartz-Reformen sind in diesem Sinne ein schlechtes Vorbild. Aus deutscher Perspektive kann man nur davor warnen, sich in Österreich auf denselben Reformpfad zu begeben und die Notstandshilfe abzuschaffen.

Stattdessen sollten die Jubiläen zum 50. Geburtstag der großen Arbeitslosenversicherungsnovelle in Österreich und des Arbeitsförderungsgesetzes in Deutschland zum Anlass genommen werden, um sich der Potenziale der Arbeitsmarktpolitik zur Gestaltung des strukturellen Wandels durch mehr Weiterbildung im Sinne der Menschen und der Wirtschaft zu besinnen. Dies könnte eine konstruktive Debatte befördern, um das soziale Sicherheitsversprechen für die Mittelschicht im digitalen Kapitalismus zu erneuern, statt ihr Armutsrisiko durch Leistungsreduzierung und Arbeitsmarktflexibilisierung zu erhöhen.