Europa braucht eine wirksame und solidarische Jugendgarantie

06. Juli 2020

Die weitreichenden Konsequenzen der Corona-Wirtschaftskrise auf junge Menschen sind international noch wenig wahrgenommen worden. Laut unseren Prognosen könnte sich die Arbeitsmarktlage für Jugendliche in der EU-27 dramatisch zuspitzen – die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen könnte innerhalb von einem Jahr von 2,8 Mio. auf 4,8 Mio. ansteigen, wenn keine entsprechenden Maßnahmen gesetzt werden. Wir schlagen daher eine neue europäische Jugendgarantie vor, die mit 50 Mrd. Euro pro Jahr ausgestattet sein sollte und bei der jene Mitgliedsländer, die am stärksten von der Rezession betroffen sind, auch die meiste Unterstützung bekommen.

Dramatische Auswirkungen möglich

Zwischen dem Wirtschaftswachstum und der Jugendarbeitslosigkeit besteht ein enger Zusammenhang. Auf Basis der Erfahrungen aus der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 kann davon ausgegangen werden, dass ein Rückgang des BIP in der EU-27 um 1 Prozent zu einer Reduktion der Jugendbeschäftigung um 1,77 Prozent im EU-Durchschnitt führt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht heuer von einer realen Reduktion des BIP von 6,6 Prozent aus. Die Frühjahrsprognose der Europäischen Kommission (EK) nimmt einen stärkeren Wirtschaftseinbruch von -7,4 Prozent in der Europäischen Union an. Wir verwenden diese beiden Prognosen als optimistisches (IWF) und mittleres Szenario (EK), um die Auswirkungen auf den Jugendarbeitsmarkt in der EU-27 abzuschätzen. Da die Prognosen noch mit großen Unsicherheiten behaftet sind, fügen wir noch ein pessimistisches Szenario hinzu, das einen Wirtschaftseinbruch von -10 Prozent in der EU heuer annimmt.

Wenn die Szenarien zutreffen, werden die Auswirkungen von COVID-19 auf Jugendliche dramatisch sein. Laut unserem mittleren Szenario wird die Anzahl an arbeitslosen Jugendlichen von 2,8 Mio. auf 4,8 Mio. innerhalb eines Jahres in der EU-27 ansteigen. Die Jugendarbeitslosenquote wird sich von 15,1 Prozent im Jahr 2019 auf 26,2 Prozent im Jahr 2020 erhöhen. Dies bedeutet, dass einer/eine von vier Jugendlichen, der/die auf Arbeitssuche ist, keinen Job findet. Da die Jugendarbeitslosenquote nur begrenzte Aussagekraft hat, weil nur aktiv Suchende berücksichtigt sind, haben wir auch die Anzahl der Jugendlichen, die weder in Beschäftigung oder Ausbildung noch in einer Trainingsmaßnahme sind – sogenannte NEET-Jugendliche – abgeschätzt. Demnach wird sich die Anzahl an NEET-Jugendlichen von 4,9 Mio. auf 6,7 Mio. erhöhen. Die NEET-Rate wird auf 14,5 Prozent ansteigen, was bedeutet, dass sich jeder siebte junge Mensch unter 25 Jahre weder in Beschäftigung oder Ausbildung noch in einem Training befinden wird.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Die EU-Jugendgarantie muss wirksamer werden

Als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 führte die EU zwar sehr spät – fünf Jahre nach Ausbruch der Krise –, aber dennoch dem Grunde nach ein sinnvolles Instrument ein. Im Jahr 2013 wurde eine EU-Jugendgarantie etabliert, die gewährleisten soll, dass alle Jugendlichen unter 25 Jahren ein qualitätsvolles Angebot auf Beschäftigung, Bildung oder Schulung innerhalb von vier Monaten Arbeitslosigkeit bekommen. Die EU-Jugendgarantie wurde hauptsächlich über die Jugendbeschäftigungsinitiative finanziert und war mit einem Budget von 6,4 Mrd. Euro für den Zeitraum 2014 bis 2020 ausgestattet. Es sollten damit insbesondere Regionen unterstützt werden, die eine Jugendarbeitslosenquote über 25 Prozent aufwiesen. Im Jahr 2015 wurde das Budget für die EU-Jugendgarantie um 30 Prozent aufgestockt und ein großer Teil zusätzlich über den Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert, der an Kofinanzierungen der Mitgliedsstaaten geknüpft ist. Im Zeitraum 2014 bis 2020 wurde die Jugendgarantie in Summe mit 12,7 Mrd. Euro aus dem EU-Budget finanziert. Auch wenn die Zielsetzung der EU-Jugendgarantie sinnvoll war, wird ihre Implementierung und die Wirksamkeit kritisiert, vor allem aufgrund des zu geringen Budgets. Die tatsächlichen Kosten einer EU-Jugendgarantie werden mit 45,4 Mrd. Euro bis 50,4 Mrd. Euro pro Jahr beziffert.

Mehr Budget notwendig

Eine neue europäische Jugendgarantie sollte daher – auch angesichts des zu erwartenden Anstiegs der Jugendarbeitslosigkeit – in der Lage sein, ein Gesamtbudget von rund 50 Mrd. Euro pro Jahr für Jugendmaßnahmen in den Mitgliedsstaaten zur Verfügung zu stellen. Dabei scheint es angesichts der wirtschaftlichen und budgetären Lage der Mitgliedsländer zentral, dass der überwiegende Teil aus dem EU-Budget finanziert wird und sich EU-Mitgliedsstaaten solidarisch nach ihrer Betroffenheit und nach ihren finanziellen Kapazitäten beteiligen (siehe unten). Die jüngsten EU-Vorschläge für einen „European Recovery Plan“ beinhalten ebenfalls die Idee eines Verteilungsmechanismus, und das Gesamtbudget von 750 Mrd. Euro sollte einen Schwerpunkt auf Jugendliche ermöglichen. Mit dem REACT-Programm (Recovery Assistance for Cohesion and the Territories of Europe) ist ein zusätzliches Budget von 55 Mrd. Euro für den Zeitraum 2021 bis 2022 geplant. Ein Teil davon soll ebenfalls für einen Jugendschwerpunkt verwendet werden. Am 1. Juli 2020 präsentierte die Europäische Kommission eine Initiative unter dem Titel „Youth Employment Support: a bridge to jobs for the next generation“. Vorgeschlagen werden vier Schwerpunkte:

  • Reaktivierung und Erweiterung der europäischen Jugendgarantie: Ausweitung auf die Altersgruppe bis 29 Jahre unter noch stärkerer Berücksichtigung von benachteiligten Jugendlichen
  • Förderung der beruflichen Bildung und von Schulungen unter Berücksichtigung von Diversität und Inklusion
  • Schaffung von Anreizen für die duale Lehrausbildung unter Einbeziehung der Sozialpartner
  • Zusätzliche Maßnahmen zur Förderung der Jugendbeschäftigung sowie der Selbstständigkeit (Start-ups)

Genannt wird ein Beitrag von 22 Mrd. Euro, der sich aus dem Europäischen Sozial Fond Plus sowie den oben genannten COVID-19-EU-Vorschlägen (European Recovery Plan, REACT-Programm) speisen soll. Da sich laut unseren Szenarien die Jugendarbeitslosigkeit bereits heuer virulent in der EU entwickelt, schlagen wir – wie die Europäische Kommission – eine neue EU-Jugendgarantie vor, die noch in der zweiten Jahreshälfte 2020 starten sollte. Unter Berücksichtigung der Erfahrungen der frühen Jugendgarantie (siehe oben) erscheint uns jedoch ein jährliches Budget von 50 Mrd. Euro (inklusive Kofinanzierung der Mitgliedsstaaten) für die Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen, auf die sich unsere Prognosen bezieht, erforderlich.

Heruntergebrochen auf das mittlere Szenario, würde dieses Budget bedeuten, dass für jeden arbeitslosen Jugendlichen (unter 25 Jahren) rund 10.400 Euro pro Jahr zur Verfügung stehen, wobei die konkrete Auszahlung an die Kaufkraft der Mitgliedsländer angepasst wird. Dieser Betrag erscheint auch vor dem Hintergrund der österreichischen Erfahrungen mit der überbetrieblichen Lehrausbildung und der Ausbildung bis 18 als angemessener Durchschnittswert. In Österreich betragen beispielsweise die Kosten einer Ausbildung in einer überbetrieblichen Lehre pro Jahr pro Jugendlichen 15.600 Euro (AMS-Mittel plus Förderung der Bundesländer), wobei die Kosten auch zwischen den Bundesländern stark variieren – von rund 8.400 Euro in Salzburg bis zu 19.700 Euro in Kärnten. Wenn die neue EU-Jugendgarantie breiter angelegt ist und auf NEET-Jugendliche abzielt, würde sich das zur Verfügung stehende Budget pro NEET-Jugendlichen pro Jahr auf 7.500 Euro reduzieren. Dies wäre deutlich geringer als die volkswirtschaftlichen Kosten des Nichthandelns bei Jugendarbeitslosigkeit. Eurofound schätzt die ökonomischen Kosten, die Langzeitarbeitslosigkeit von Jugendlichen verursacht, auf rund 11.700 Euro pro Jahr pro Jugendlichen im EU-Durchschnitt. In Österreich sind die Kosten deutlich heuer bei rund 17.800 Euro pro Jahr pro arbeitslosen Jugendlichen.  

Parameter der vorgeschlagenen Jugendgarantie für 15- bis 24-Jährige

optimistisches Szenariomittleres Szenariopessimistisches Szenario
Gesamtbudget€ 50 Mrd.€ 50 Mrd.€ 50 Mrd.
EU-Finanzierung (2/3)€ 33,5 Mrd.€ 33,5 Mrd.€ 33,5 Mrd.
Mitgliedsstaaten (1/3)€ 16,5 Mrd.€ 16,5 Mrd.€ 16,5 Mrd.
Anzahl an arbeitslosen Jugendlichen4,57 Mio.4,8 Mio.5,49 Mio.
Anzahl an NEETs6,49 Mio.6,71 Mio.7,06 Mio.
Budget pro arbeitslosen Jugendlichen/Jahr€ 11.000€ 10.400€ 9.100
Budget pro NEET-Jugendlichen/Jahr€ 7.700€ 7.500€ 7.100
Kosten des Nichthandelns pro langzeitarbeitslosen Jugendlichen/Jahr (Eurofound 2012, valorisiert)€ 11.700€ 11.700€ 11.700
Quelle: eigene Berechnungen

Wichtig erscheint, dass der Fonds heuer noch implementiert wird, damit internationale und nationale Maßnahmen sich gegenseitig stimulieren können und die Jugendarbeitslosigkeit effektiv bekämpft werden kann.

Solidarische Kofinanzierung

Der neue Fonds für die EU-Jugendgarantie sollte – so unser Vorschlag – zu zwei Dritteln aus EU-Mitteln und zu einem Drittel durch Kofinanzierungen der Mitgliedsstaaten gespeist werden. Um Solidarität zu garantieren und ein mögliches Trittbrettfahrerverhalten zu vermeiden, schlagen wir vor, dass die EU-Länder vorab einzahlen und sich der Anteil eines Landes danach richtet, wie stark die Jugendarbeitslosigkeit als Folge der Corona-Krise in ihm steigt. Wenn in einem Mitgliedsland die Jugendarbeitslosigkeit nicht steigt, würde das Land keine Mittel der EU bekommen, müsste aber einen Beitrag leisten. Jene Länder mit einem starken Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit bekämen mehr EU-Mittel, als sie einzahlen. Neben dem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit macht es unserer Auffassung nach Sinn, bei der Kofinanzierung weitere Faktoren, wie den öffentlichen Verschuldungsgrad eines Landes und/oder die Armutsquoten, zu berücksichtigen, da diese Faktoren die nationale Handlungsfähigkeit im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit beeinflussen. Wir schlagen eine sozialindizierte, formelbasierte Finanzierung vor, die an Konzepte anknüpft, wie sie zum Beispiel im Bildungssystem Anwendung finden bzw. vorgeschlagen werden, um Ressourcen und Bedarfe an Schulstandorten adäquat zu verteilen (Chancenindex), wobei langfristig auch Outcome-Variablen einfließen können.

Ausblick

Unsere vorgeschlagene EU-Jugendgarantie, die wir für die 15- bis 24-Jährigen konzipiert haben, kann – wie von der Europäischen Kommission empfohlen – auf die Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen erweitert werden, würde jedoch eine Erhöhung des Budgets über die 50 Mrd. Euro erfordern. Eine wirksame EU-Jugendgarantie würde nicht nur signalisieren, dass die EU sich um die zukünftige Generation kümmert, sondern auch Unterstützung für Regionen mit ökonomischen Problemen anbieten. Für jene Jugendlichen, die bereits eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen haben und die aufgrund der Corona-Wirtschaftskrise keinen Job finden, sollte die Jugendgarantie breiter im Sinne einer Jobgarantie implementiert werden. Dies würde bedeuten, dass durch die Jugendgarantie ein Einstiegsarbeitsmarkt im öffentlichen oder gemeinnützigen Sektor geschaffen werden kann – also Jobs entstehen, die dem Gemeinwohl dienen. Davon würden nicht nur die Jugendlichen profitieren, sondern die gesamte Gesellschaft, die die sozial und ökologisch sinnvollen Produkte bzw. Dienstleistungen, die in diesem Bereich entstehen, in Anspruch nimmt. Gerade die Austeritätspolitik nach der Finanz- und Wirtschaftskrise hat in vielen europäischen Ländern die sozial-ökologische Transformation verschleppt und Lücken in der Daseinsvorsorge aufgerissen, die es jetzt zu schließen gilt. Eine wirksame, solidarische EU-Jugendgarantie könnte hierfür einen Beitrag leisten.

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