Erste österreichische Fairwork-Studie: Arbeitsrecht wirkt auch in der Plattformwirtschaft!

07. Juli 2022

Erstmals wurde auch für Österreich eine Fairwork-Studie zur Erhebung der Arbeitsbedingungen in der Plattformwirtschaft durchgeführt. Auf der Basis wissenschaftlicher Evidenz und anhand eines Ranking-Verfahrens bietet diese Einblicke in die Arbeitsbedingungen der sechs wichtigsten Plattformunternehmen Österreichs in den Sektoren Essens- und Lebensmittelzustellung, Fahrradbotendienste sowie Reinigungsarbeit. Sie zeigt einerseits, dass dieser Wirtschaftsbereich mehrheitlich von Prekarität geprägt ist, und andererseits, dass derzeit allein Arbeitsrecht gute Arbeitsbedingungen gewährleisten kann.

Der Fairwork-Ansatz zur Förderung menschenwürdiger Plattformarbeit

Fairwork ist ein internationales vergleichendes Forschungsprojekt, das vom Oxford Internet Institute und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) koordiniert wird und in dem mittlerweile 28 Länder vertreten sind. Weltweit arbeitet Fairwork eng mit Beschäftigten, Plattformen, Interessenvertreter:innen und politischen Entscheidungsträger:innen zusammen, um eine fairere Zukunft der Plattformarbeit zu schaffen. An der Umsetzung dieses aktionsorientierten Forschungsprojekts sind mehr als 40 Universitäten und Forschungseinrichtungen beteiligt. Das österreichische Fairwork-Team unter der Leitung von Leonhard Plank besteht aus Markus Griesser und Laura Vogel von der TU Wien sowie Martin Gruber-Risak und Benjamin Herr von der Universität Wien. Die Finanzierung von Fairwork speist sich aus unterschiedlichen Quellen und reicht von europäischer Forschungsförderung über Beiträge von unterschiedlichen öffentlichen Stellen bis hin zur Unterstützung durch Arbeitnehmer:innenorganisationen und Stiftungen. Die österreichische Studie wurde von der AK Wien und der Stadt Wien finanziell unterstützt.

Die fünf Fairwork-Prinzipien

Der Ausgangspunkt von Fairwork ist, dass es unterschiedliche Risiken gibt, die bei ortsgebundener Plattformarbeit auftreten können. Diese reichen von Armutslöhnen über gefährliche Arbeitsbedingungen bis zur Unterdrückung von gewerkschaftlicher Organisierung. Als Reaktion auf diese Risiken wurden mit verschiedenen Stakeholdern eine standardisierte Methodik bzw. eine Reihe von Prinzipien für faire Plattformarbeit entwickelt. Auf Basis dieser gemeinsamen Prinzipien für faire Plattformarbeit werden Plattformen bewertet und mit einem Rating versehen. Das resultiert in einem Plattform-Ranking für den jeweiligen Staat, bei dem Plattformen zwischen 0 und maximal 10 Punkte erreichen können.

Insgesamt basiert das Rating auf fünf Prinzipien für faire Plattformarbeit:

  • faire Bezahlung,
  • faire Arbeitsbedingungen,
  • faire Verträge,
  • faires Management und
  • faire Mitbestimmung.

Bei der Operationalisierung dieser Prinzipien wird jedes in zwei Punkte unterteilt: Ein Basispunkt wird vergeben, wenn einige grundlegende Bedingungen erfüllt sind, und ein fortgeschrittener Punkt, wenn weitergehende Standards erfüllt sind.

Die wissenschaftliche Methodik des Fairwork-Ratings

Die Evidenz für das Rating baut auf drei methodischen Säulen auf:

  • Zunächst wird mit einem Desk Research begonnen, um herauszufinden, welche Plattformen in einem Land tätig sind. Außerdem werden alle öffentlich zugänglichen Informationen, die für den Bewertungsprozess relevant sind, gesammelt.
  • Der zweite methodische Pfeiler ist die Befragung von Plattformmanager:innen, um den Betrieb und das Geschäftsmodell der Plattform besser zu verstehen.
  • Die dritte methodische Säule ist die Befragung von Plattformarbeitenden, die Einblick in den faktischen Arbeitsprozess geben. Außerdem kann so geprüft werden, ob die zuvor ermittelten Maßnahmen zur Verbesserungen von Plattformarbeit in der Praxis tatsächlich funktionieren.

Auf Basis dieser unterschiedlichen Quellen erstellt das jeweilige nationale Fairwork-Forschungs-Team ein vorläufiges Rating. Dieses wird in einem Review-Prozess durch das Oxford/WZB-Sekretariat sowie zwei Fairwork-Gutachter:innen aus anderen Ländern geprüft. Dadurch soll die Konsistenz des Bewertungsprozesses gewährleistet werden.

Erste Fairwork-Studie für Österreich – prekär und am Rande der Armutsschwelle

Die erstmals 2022 für Österreich durchgeführte Fairwork-Studie nimmt die Situation der österreichischen Plattformökonomie in den Blick, wobei sechs Plattformen in den Branchen Essens- und Lebensmittellieferung, Personentransport sowie Reinigung untersucht wurden. Die Ergebnisse zeigen dabei ein sehr heterogenes Bild, wobei sich insgesamt sagen lässt, dass die Plattformökonomie auch in Österreich durch die Schaffung prekärer Arbeitsverhältnisse und niedriger Verdienstmöglichkeiten sowie einen geringen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad gekennzeichnet ist. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Plattformen vorrangig (Schein-)Selbstständigkeit nutzen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Das Fairwork-Rating 2022 spiegelt sehr klar die Diversität der Plattformökonomie in Österreich wider. Während drei Plattformen – Bolt, Uber und Alfies – nur ein oder zwei Basispunkte erhielten, lagen Mjam und Extrasauber im Mittelfeld. Lieferando schnitt mit 8 Punkten am besten ab, was primär darauf zurückzuführen ist, dass hier den Fahrradbot:innen ein Arbeitsverhältnis geboten wird und ein Branchenkollektivvertrag gilt.

Arbeiten überwiegend nahe der Armutsgefährdung

Konkret ergab sich bezüglich der fünf Fairwork-Prinzipien folgendes Bild: Hinsichtlich des ersten Fairwork-Prinzips – faire Bezahlung – wird deutlich, dass nur drei Plattformen in Österreich nachweisen konnten, dass die Bezahlung über der Armutsgefährdungsschwelle liegt. Nur eine Plattform konnte zeigen, dass sie allen Beschäftigten einen Stundenlohn bezahlt, der darüber hinausgeht und auf einem Mindestlohn entsprechend dem Kollektivvertrag basiert. Dies ist ein Indikator dafür, dass in der österreichischen Plattformökonomie vornehmlich Bedingungen geschaffen werden, die Armut trotz Erwerbsarbeit („working poor“ befördern.

Kaum Risikovorsorge durch die Plattformen

Bei den Arbeitsbedingungen (faire Bedingungen) in der Plattformökonomie gilt es die unterschiedlichen Risiken hervorzuheben, die von Verkehrssicherheit, Umgang mit gefährlichen Stoffen bis hin zu Gewalt und Übergriffen reichen können. Einige Plattformen zeigten insbesondere Bemühungen, die Arbeitenden vor aufgabenspezifischen Risiken sowie Gesundheitsrisiken im Zuge der Covid-19-Pandemie zu schützen. Nur einer Plattform gelang es jedoch, Nachweise für ein Sicherheitsnetz zu erbringen, was mit der Art des Arbeitsverhältnisses zusammenhängt: Zugang zu bezahlten Krankheits-, Urlaubs- und Elternkarenzoptionen sind mit einem regulären Arbeitsvertrag möglich. Wenn Plattformen auf freie Dienstnehmer:innen oder (Schein-)Selbstständigkeit bauen, sind diese Sicherheiten meist nicht in gleichem Maße gewährleistet.

Unfaire Vertragsklauseln üblich

Hinsichtlich fairer Verträge konnten alle Plattformen zwar klare und verständliche Verträge bzw. Geschäftsbedingungen vorweisen, jedoch fielen auch unfaire Klauseln auf (z. B. Aus-schluss jeglicher Haftung), und diejenigen, die mit Subunternehmen kooperieren, konnten nur selten die Einhaltung der Branchenstandards garantieren.

Managementprozesse verbesserungswürdig

In Bezug auf faire Management-Prozesse konnten die meisten Plattformen Kanäle vorwei-sen, über die mit menschlichen Vertreter:innen der Plattformen kommuniziert werden kann. Allerdings konnten nur drei Plattformen belegen, dass damit Verfahren zur Anwendung kommen, durch die bspw. Disziplinarmaßnahmen angefochten werden können. Trotz des hohen Anteils an migrantischen Arbeitskräften konnten nur wenige Plattformen glaubhaft machen, dass sie über effektive Anti-Diskriminierungsmaßnahmen verfügen.

Wenig Mitbestimmung

Faire Mitbestimmung als fünftes Fairwork-Prinzip wurde von drei Plattformen insofern zumindest grundlegend erfüllt, als dass bestimmte Mechanismen implementiert wurden, die den Arbeitenden eine Stimme geben. Jedoch erkennt keine Plattform derzeit ein kollektives Gremium an, das alle Arbeitenden unabhängig von ihrem vertraglichen Status vertritt.

Fazit: Arbeitsrecht wirkt!

Auch die erste österreichische Fairwork-Studie zeigt sehr klar, dass gute Arbeitsbedingungen im Wesentlichen nur durch die Anwendung des Arbeitsrechts gewährleistet sind. Die Plattform, die klar am besten abgeschnitten hat, ist jene, die Arbeitsverträge mit den über sie Beschäftigten abschließt. Nur so ist die Anwendung von Kollektivverträgen, insbesondere die dort vorgesehenen Mindestlöhne samt Sonderzahlungen, Kündigungsfristen, Entgeltfortzahlung und bezahlter Urlaub, ebenso gewährleistet wie eine betriebliche Interessenvertretung. Alle anderen untersuchten Plattformen bieten hingegen lediglich unterschiedliche Formen der Selbstständigkeit an oder sie verlagern die Verantwortung für die Einhaltung von Mindestarbeitsstandards an Subauftragnehmer:innen, ohne diese aber effektiv zu überwachen.

Flucht aus dem Arbeitsrecht

Interessant ist, dass sich auch die Interviewten der Unterschiede zwischen Selbstständigkeit und einem Arbeitsverhältnis durchaus bewusst sind. Sie wählen aber dennoch zum Teil die (Schein-)Selbstständigkeit ohne umfassenden Schutz, da sie es schätzen, zumindest formal größeren Einfluss auf das Arbeitsvolumen und die Arbeitszeit nehmen zu können. Es kommt hier somit zum Austausch von vermeintlicher Freiheit gegen Schutz. Die Plattformen suggerieren dabei geradezu, dass wer mehr Freiheit haben möchte den arbeitsrechtlichen Schutz zumindest teilweise aufgeben muss. Das ist arbeitsrechtlich schlicht falsch – es gibt natürlich auch Arbeitsverträge, die Gleitzeit ohne Kernzeit und mobiles Arbeiten, d. h. Flexibilität im Sinne der Beschäftigten, problemlos ermöglichen. Was jedoch rechtlich nicht zulässig ist, ist eine Hyperflexibilität für die Arbeitgeber:innen, wie sie z. B. die berüchtigten Null-Stunden-Verträge vorsehen. Damit wird auch klar, warum Arbeitsverträge vonseiten der Plattformen zumeist nicht gewollt sind. Da aber in vielen Fällen bei rechtlich richtiger Einordnung Dienstverträge bestehen, liegt gar nicht so selten Scheinselbstständigkeit vor.

Was auf EU-Ebene geregelt werden soll

Scheinselbstständigkeit ist aber nicht unbedingt leicht aufzudecken, da die für den Arbeitsvertrag konstitutive „persönliche Abhängigkeit“ gerade bei der Plattformarbeit oft nur schwer zu beweisen ist. Die dort Arbeitenden sind mit einer App konfrontiert, die die Arbeit organisiert – wie und unter welchen Kriterien die über diese erfolgten Angebote und Anweisungen zustande kommen, das wissen sie freilich nicht. Sie stehen einer digitalen Black Box gegenüber, was zu einem Beweisnotstand führt und es ihnen fast unmöglich macht, das Vorliegen persönlicher Abhängigkeit zu beweisen. Das ist eine unbefriedigende Situation, da die so nur schwer aufzudeckende Scheinselbstständigkeit einen starken Anreiz dafür schafft, Plattformbeschäftigte falsch einzuordnen und damit das Arbeitsrecht zu vermeiden. Und tatsächlich werden in der Praxis bei zahlreichen Plattformen die dort Beschäftigten als Selbstständige angesehen. Es verwundert daher nicht, dass ein wesentlicher Teil der Plattform-Initiative der Europäischen Kommission der Erleichterung der Durchsetzung des Arbeitnehmer:innenstatus gewidmet ist und dann dabei insbesondere vorgeschlagen wird, mit der widerleglichen Vermutung eines Arbeitsvertrages zu operieren, um das Aufdecken von Scheinselbstständigkeit zu erleichtern. Der Vorschlag der Europäischen Kommission befindet sich derzeit im Verhandlungsstadium mit dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat, dem sogenannten Trialog. Es bleibt spannend, inwieweit dieser weiter verwässert wird oder ob er tatsächlich ein effektives Mittel zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit zumindest in der Plattformwirtschaft wird und so zur Verbesserung der dortigen Arbeitsbedingungen beitragen kann.

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