Digitalisierung – ein Blick hinter die Kulissen

02. Dezember 2019

Die kurzfristigen Auswirkungen des technologischen Wandels (Digitalisierung) werden häufig überschätzt und die langfristigen Wirkungen unterschätzt. Dies zeigt eine Praxisanalyse von ExpertInnen der Arbeiterkammer Oberösterreich und der Gewerkschaften, die über ein Jahr Betriebe und Institutionen besuchten und analysierten. Aus ArbeitnehmerInnen-Perspektive muss man sich jetzt in die Konstruktion der Arbeitswelt und Gesellschaft der Zukunft einbringen – jetzt wird der Grundstein dafür gelegt.

Digitalisierung – was ist das überhaupt?

Rein technisch gesehen, ist es denkbar einfach: Digitalisierung ist die Umwandlung analoger Werte in digitale Formate und ihre Verarbeitung oder Speicherung in einem digitalen System. Unter dem Hype-Begriff Digitalisierung verbergen sich unterschiedlichste Buzzwords (Schlagwörter). Waren es vor einigen Jahren die gehypten Begriffe Industrie und Arbeit 4.0, die ja eigentlich die Debatte um die sogenannte vierte industrielle Revolution im deutschsprachigen Raum einleiteten, so scheinen es jetzt Trendwörter wie künstliche Intelligenz (Artificial Intelligence), maschinelles Lernen (Machine Learning) und virtuelle Realität (Virtual Reality) zu sein. Artificial Intelligence rangiert beim gegenwärtigen Ranking der Buzzwords ganz oben und scheint der momentane Shootingstar im Wettbewerb der Schlagwörter zu sein.

Begriffe Digitalisierung © A&W Blog
© A&W Blog

Außer Frage steht, dass Digitalisierungsprozesse die Arbeitswelt und die Gesellschaft insgesamt verändern. In welche Richtung geht diese Veränderung und welche Konsequenzen wird diese für die Menschen und Beschäftigten haben? Welche Entwicklungen zeigen sich jetzt schon und wie reagieren Beschäftigte darauf? Dabei sind die Spekulationen in den Medien über Risiken und Chancen der Digitalisierung vielfältig und reichen von euphorischen Zukunftsvisionen, die die Freiheitsgewinne für die Beschäftigten und die Aufwertung der Arbeit betonen, bis hin zu dystopischen Bildern (Horrorszenarien) einer Welt mit menschenleeren Fabriken, aber permanent erreichbaren und dauerüberlasteten Büro- und Dienstleistungsangestellten. Beide Szenarien sind vermutlich weit übertrieben.

Digitalisierung als Verteilungsfrage

Der Digitalisierungsdiskurs führt unweigerlich zur Frage der fairen Verteilung von Digitalisierungsgewinnen. Wird es so sein, dass die sogenannte GAFA-Ökonomie (Google, Amazon, Facebook und Apple) weitere Geschäftsfelder erschließt, astronomische Gewinne einfährt und kaum bis gar keine Steuern, wie im Fall von Amazon, bezahlt? Amazon erwirtschaftete 2018 einen weltweiten Umsatz in Höhe von rund 210 Mrd. Euro. Der Betriebsgewinn belief sich auf rund 11 Mrd. Euro, dennoch zahlte Amazon in einem Zeitraum von 2003 bis 2014 für 75 Prozent seiner EU-Umsätze aufgrund eines mit den Luxemburger Finanzbehörden vereinbarten Steuervorbescheides keine Steuern. Google kauft Versicherungen, Apple baut Krankenhäuser, es finden generelle Milliarden-Investments in Genetik, Bio-Tech und Pharma statt, und letztlich werden diese Player zu Gesamtanbietern („All in one“-Anbieter). Die GAFAs sind groß, größer, am größten – zusammen mit Netflix verfügen diese vier Internet-Giganten mittlerweile über eine Marktkapitalisierung von rund drei Billionen Euro. Dies ist doppelt so viel wie alle DAX-Konzerne (1,2 Billionen Euro) gemeinsam. Zum Vergleich hat der österreichische Leitindex ATX eine Marktkapitalisierung von 81,5 Milliarden Euro. Durch Digitalisierung verschärft sich die Verteilungsfrage und damit die Ungleichheit weiter, zumal die Dividenden und Aktienkurse der Internet-Konzerne weiterhin steigen.

Digitalisierung ist auch eine Verteilungsfrage zwischen Arbeitszeit und Kapital. Eine Interviewpartnerin, die im Rahmen der Praxisanalyse befragt wurde, brachte sehr deutlich zum Ausdruck, dass digitale Tools, wie neue Maschinen, Robotik etc., ganz bestimmt nicht mehr Zeit für die MitarbeiterInnen bringen werden, das wäre völlig naiv und widerspreche der kapitalistischen Logik. „[…] grundsätzlich ist das Potenzial ja total groß, wenn Roboter, KI oder Maschinen dem Pflegepersonal Arbeiten abnehmen könnten, nicht die Arbeit wegnehmen, sondern Arbeiten abnehmen, dann bleibt hoffentlich mehr Zeit für das, was sie eigentlich tun können. Das ist total naiv, weil so wird das nicht sein, weil dann dementsprechend weniger Personal zur Verfügung stehen wird.“

Die Trennlinien bzw. der Digital Divide (digitale Spaltung) verläuft nicht nur zwischen den jungen, vermeintlich digital affinen Personen (Digital Natives vs. Digital Immigrants) und der älteren, irrtümlicherweise als weniger digital affin bezeichneten Generation, sondern auch quer durch die gesamte Betriebslandschaft. Kleinere, weniger finanzkräftige Betriebe werden sich aus Kostengründen Digitalisierung nicht leisten können, wie ein Gespräch mit einem Betriebsrat in einem Tischlereibetrieb ergab. „Die Einführung von digitalen Tools muss man sich auch leisten können“, so die Aussage des Betriebsrats.

Digitalisierung muss mit den ArbeitnehmerInnen gestaltet werden!

Technische Systeme, digitale Tools – vielfach wird diesen Objektivität und Neutralität zugrunde gelegt – und deren Anwendung sind immer Ergebnis von Gestaltungsprozessen. Bei der Implementierung von technischen Systemen ist die Frage zu stellen, wer über die Gestaltung dieser Systeme entscheidet und welche Ziele damit verfolgt werden. Digitalisierung und die gelingende Transformation der Arbeitswelt und Gesellschaft müssen gemeinsam mit den ArbeitnehmerInnen gestaltet werden, wenn diese Gruppe von den Digitalisierungsgewinnen profitieren will. Das macht schon allein deswegen Sinn, weil die Beschäftigten die ExpertInnen ihrer eigenen Arbeitsumgebung sind und daher am besten über ihre Arbeitsbedingungen, -prozesse etc. Bescheid wissen.

Eine Befragung der Bertelsmann Stiftung (Was Deutschland über Algorithmen weiß, 2018) hat ergeben, dass 45 Prozent der Befragten mit Begriffen wie Algorithmus etc. nichts anzufangen wissen. Wichtig ist es, zu sensibilisieren, ein Grundverständnis über die Grundtechniken von Algorithmen etc. zu geben, diese Begriffe zu erklären und auf die Gestaltungsoptionen hinzuweisen. „Algorithmen sind nicht per se gut oder böse, sie werden von Menschen programmiert. Das heißt, es ist eine bewusste Entscheidung, wie man sie programmiert – man kann auch soziale Werte und Menschenrechte hineinprogrammieren“, so eine Interviewpartnerin.

Algorithmen, künstliche Intelligenz sind von Menschen gemacht und können daher auch zum Besseren beeinflusst werden. Sie sind nicht per se diskriminierungsfrei, effizient und super-objektiv, wie immer wieder Beispiele eindrücklich belegen (z. B. Amazon-Personalrekrutierung oder Kreditvergaben). Eine Interviewpartnerin sprach es mit dem Bild der „Garbage in – garbage out“-Problematik („Müll rein – Müll raus“) sehr treffend an. Was soll am Ende rauskommen, wenn bereits in der Konstruktion von Algorithmen bewusst oder auch unbewusst Fehler, Vorurteile, sei es durch fehlerhaftes Datenmaterial, programmiert wurden und in weiterer Folge auf fehlerhafter, quasi-objektiver Basis Entscheidungen getroffen werden (z. B. Vergabe oder Nichtvergabe von Krediten beim Credit-Scoring oder bei Therapien).

Entscheidend wird es sein, wer am Ende des Tages das Datenmaterial, die Algorithmen und die Handlungsanleitungen daraus freigibt und kontrolliert. Um die Fehleranfälligkeit etwa bei der Konstruktion von Algorithmen zu minimieren bzw. zu vermeiden, muss es dafür eine eigene Aufsichtsbehörde/Clearingstelle und ein neues Berufsbild des/der DatenkuratorIn geben. Darüber hinaus sind Belegschaftsorgane in die Konstruktion von Algorithmen einzubinden.

Unter- vs. Überschätzung

Industrie 4.0 gibt es nach unserer Praxisanalyse derzeit nur in den Pilotfabriken.

Digitale Lösungen benötigen mitunter länger in ihrer betrieblichen Implementierung, als vielfach angenommen. InterviewpartnerInnen eines österreichischen Industriebetriebs mit mehreren tausend Beschäftigten haben gesagt: „Auch wenn in den letzten Jahren viel über Industrie 4.0 gesprochen wurde, dauert es, Systeme zu implementieren – vielfach macht der Einsatz keinen Sinn bzw. werden Maschinen mit jahrzehntelangen Lebensdauern nicht beliebig ausgewechselt.“ Auch der Einsatz von Datenbrillen, sogenannten Head-Mounted Displays (HMDs), wie Google Glass, wurde in diesem Unternehmen nach einer kurzen Testphase ausgesetzt, weil die ProbandInnen schon nach kurzer Zeit Kopfschmerzen (Virtual Reality Sickness) bekommen haben, die Technikfolgenabschätzung auf die Gesundheit nicht eindeutig war und der Tragekomfort nicht gegeben war.

Eine Diskussion über den Einsatz von Pflegerobotik in einer Pflegeeinrichtung in Wien hat mit der Realität wenig gemeinsam – erst vor Kurzem wurde dort ein Intranet implementiert. Derzeit scheint die lückenlose elektronische Dokumentation, angefangen vom EKG (Elektrokardiographie) bis hin zum Laborbefund – also keine Papierkrankenhistorie –, eher den tatsächlichen Digitalisierungsstand in diesem Bereich widerzuspiegeln und nicht eine an Science-Fiction-Bilder angelehnte Pflegerobotik. Mancherorts mag es in diesen Einrichtungen schon roboterähnliche Kreaturen wie Pepper geben, die sind aber auch „nichts anderes als eine lustige Kunststoffhülle für irgendeinen einfachen Chatbot, der völlig überschätzt dargestellt wird“, so eine Expertin aus diesem Bereich.

Sinnvoll kann der Einsatz von VR-Brillen sein, wo den BewohnerInnen Bilder von früher eingeblendet werden und sie dadurch an Erlebnisse aus ihrem Leben erinnert werden. Wichtig ist dabei immer ein betreutes Setting, damit die Eindrücke aufgearbeitet und besprochen werden können.

Fazit

Aus ArbeitnehmerInnen-Perspektive gilt es weder völlig euphorisch noch verzagt in die Zukunft zu blicken. Viele der diskutierten Digitalisierungsszenarien sind (noch) nicht betriebliche Realität, und manche von diesen werden es wohl auch nie werden. Entscheidend ist es allerdings, dass man sich jetzt in die Debatte über die Zukunft der Arbeitswelt und Gesellschaft mit all deren zukünftigen Implikationen einbringen muss. Die Fragen über Digitalisierung zeigen, dass sich eine Auseinandersetzung damit nicht auf die Technik allein beschränken soll. Die Diskussion darüber sollte nicht von der Technik ausgehen, sondern von der Arbeit, den Beziehungen zwischen den ArbeitnehmerInnen und Unternehmen sowie den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Damit wäre die Basis zu realistischen Einschätzungen, zu adäquaten Zielsetzungen und vorausschauenden politischen Interventionen gelegt.