Deutsche Schuldenbremse: die wahre Belastungsprobe steht noch aus!

14. November 2016

Seit dem Sommer 2009 steht die so genannte Schuldenbremse im deutschen Grundgesetz. Mit dem Bundeshaushalt 2016 ist die Übergangsfrist für den Bund abgeschlossen und die endgültige Regelobergrenze einer maximalen strukturellen Nettokreditaufnahme von 0,35 % des BIP ist in Kraft getreten. Aus diesem Anlass haben wir die Schuldenbremse des Bundes einer ausführlichen rückblickenden Evaluation unterzogen. Wir zeigen, dass die deutschen Erfolge bei der Haushaltskonsolidierung insbesondere das Ergebnis der sehr günstigen Arbeitsmarktentwicklung waren. In konjunkturell schlechten Zeiten könnte die Regel jedoch zum Problem werden. Die eigentliche Belastungsprobe steht also noch aus.

Das vermeintliche Erfolgsmodell auf den Prüfstand gestellt

Die politische Bedeutung der deutschen Schuldenbremse als vermeintliches Erfolgsmodell kann kaum überschätzt werden. So wurde die deutsche Schuldenbremse zur Blaupause für die Verschärfung des fiskalischen Regelwerks und die angestrebte verfassungsmäßige Verankerung von Beschränkungen der öffentlichen Defizite durch den EU-Fiskalpakt. In Österreich (und in Spanien) wurde sie bereits kurz vor dem Fiskalpakt eingeführt – eindeutig in Anlehnung an die Deutsche Bestimmung.

Die Frage nach dem Erfolg der deutschen Schuldenbremse mag angesichts der weitverbreiteten Stimmungslage fast wie eine rhetorische Frage anmuten, denn die öffentlichen Finanzen in Deutschland scheinen im zeitlichen und internationalen Vergleich im sechsten Jahr seit der erstmaligen Anwendung der Schuldenbremse im Bundeshaushalt 2011 gut dazustehen: Im vergangenen Jahr verzeichnete der Gesamtstaat in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) einen Überschuss von 0,7 % des BIP. Deutschland erfüllte zudem als eines von nur wenigen Euroraum-Ländern alle Anforderungen der europäischen Fiskalregeln. Der gesamtstaatliche Überschuss des vergangenen Jahres von 0,7 % des BIP war zu rund der Hälfte auf den Bund zurückzuführen, der in der Abgrenzung der VGR einen Überschuss von 10,7 Mrd. Euro (0,35 % des BIP) auswies. Zum zweiten Mal in Folge kam der Bundeshaushalt 2015 ohne eine weitere Nettoneuverschuldung aus, was zuvor seit den 1960er Jahren nicht mehr vorgekommen war.

Übererfüllung durch unerwartetes Konjunkturglück

Der Bund hat die Vorgaben der Schuldenbremse seit 2011 nicht nur eingehalten, sondern bei weitem übererfüllt. Dabei hat er kumuliert auf eine zulässige Nettoneuverschuldung von 142,2 Mrd. Euro verzichtet. Wie war das möglich? Aufschlussreich ist der Vergleich der Soll-Werte gemäß Haushaltsplan mit den realisierten Ist-Werten des Budgets. In allen Jahren waren die realisierten Haushaltsalden besser als die geplanten:

Schuldenbremse © A&W Blog
Quelle: Bundesministerium der Finanzen. © A&W Blog
Quelle: Bundesministerium der Finanzen.

In den ersten beiden Jahren des Übergangszeitraums waren in den Haushaltsplänen noch eine hohe Nettoneuverschuldung und nur eine relativ geringe Übererfüllung der Vorgaben vorgesehen. Die Übererfüllung der Schuldenbremse ergab sich großenteils im Haushaltsvollzug. Ab dem Jahr 2013 wurde die Planung deutlich ambitionierter. Eine erhebliche Übererfüllung der Schuldenbremse wurde bereits mit dem Haushaltsplan angestrebt. Das 2014 realisierte Ergebnis eines Bundeshaushalts ohne Neuverschuldung wurde zum neuen Ziel für die kommenden Jahre erhoben. Wenngleich die Schuldenbremse dem Bund noch eine strukturelle Neuverschuldung von 0,35 % des BIP (etwa 10 Mrd. Euro) erlaubt, wird ein Haushaltsausgleich, die sogenannte „schwarze Null“ angestrebt.

Schuldenbremse © A&W Blog
Quelle: BMF, Bundeshaushaltsgesetze, Berechnungen des IMK. © A&W Blog
Quelle: BMF, Bundeshaushaltsgesetze, Berechnungen des IMK.

Die Übererfüllung kam ohne zusätzliche Konsolidierungsmaßnahmen im Haushaltsvollzug zustande. Aus der Grafik ist klar ersichtlich, dass die Abweichung der Ist-Werte vor allem auf die überplanmäßigen Steuereinnahmen und die unterplanmäßigen Zinsausgaben zurückgehen. In der Folge konnte der Bundesfinanzminister weiter an der Politik der „schwarzen Null“ festhalten, ohne dafür Einschränkungen in Kauf nehmen zu müssen – im Gegenteil: Über die Zeit konnte er immer wieder spürbare Mehrausgaben tätigen (Förderung kommunaler Investitionen, Fluthilfefonds, Ausgaben für Flüchtlinge).

Dies bedeutet nicht, dass die Finanzpolitik des Bundes expansiv oder gar überexpansiv gewesen sei. Im Ergebnis war sie restriktiv und eine expansivere Ausrichtung wäre sowohl makroökonomisch als auch zur besseren Versorgung der Bürger_innen mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen gut zu rechtfertigen gewesen. Es bedeutet aber, dass die Einhaltung und die Übererfüllung von der Finanzpolitik nicht mühsam erarbeitet werden musste, sondern dass sie ihr gleichsam in den Schoß gefallen ist.

Was wäre gewesen, wenn? – Die Bundesfinanzen seit 2010 ohne Konjunkturglück

In unserer Analyse haben wir simuliert, wie sich wesentliche finanzpolitische und makroökonomische Größen unter der Schuldenbremse entwickelt hätten, wenn sich die deutsche Konjunktur 2010 und 2011 nicht mit Wachstumsraten von 4,1 % und 3,7 % erholt hätte, sondern, wenn sich die Prognosen vom Frühjahr 2009 und 2010 bewahrheitet hätten. Dann wäre die deutsche Wirtschaft im Jahr 2010 noch um -0,5 % geschrumpft und 2011 nur um 1,4 % gewachsen. Vom Jahr 2012 an verwenden wir die tatsächlichen Werte.

Wachstumseinbußen im angenommenen Umfang hätten zu starken Einbrüchen bei den Einnahmen und zu konjunkturbedingten Mehrausgaben geführt; das Budgetdefizit wäre gestiegen. Unter der Schuldenbremse ist eine Ausweitung des Defizits aber nur zulässig, sofern die Methode der Konjunkturbereinigung einen entsprechenden Konjunkturabsturz durch eine wachsende negative Produktionslücke signalisiert und damit entsprechend größere Kreditspielräume einräumt. Andernfalls würde das zulässige Defizit überschritten, und die Ausgaben müssten entsprechend gekürzt werden. Ausgabenkürzungen führen infolge ihrer Multiplikatorwirkung zu zusätzlichen BIP-Minderungen, die dann wiederum zu Anpassungen bei der Konjunkturbereinigung und bei den zulässigen Defiziten führen.

Die Ergebnisse der Berechnungen sind wie folgt. Der Einbruch des BIP im Jahr 2010 und 2011 führt zu kräftigen Einnahmeausfällen. Dies resultiert zwar in höheren Budgetdefiziten, ist im Jahr 2011 aber noch nicht problematisch, weil das gesunkene BIP zu einer starken betragsmäßigen Vergrößerung der Produktionslücke führt, so dass die durch die Schuldenbremse vorgegebene maximale Nettokreditaufnahme nicht überschritten wird. Aber schon im Jahr 2012 macht sich die prozyklische Methode der Konjunkturbereinigung bemerkbar, und die erlaubte Nettokreditaufnahme ist zu gering, um die konjunkturbedingten Einnahmenausfälle, die höheren Zuweisungen an die Sozialversicherungen und die (leicht) steigende Zinsbelastung aufgrund des gestiegenen Schuldenstandes aufzufangen.

Die Schuldenbremse greift nun und führt zu Ausgabenkürzungen. Zur Einhaltung der Schuldenbremse müssen die Ausgaben dann im Zeitablauf im Verhältnis zu den unbeschränkten Werten immer weiter gekürzt werden. Vom Jahr 2015 an liegen sie deutlich unter den tatsächlichen Werten im Referenzszenario, obwohl in ihnen mittlerweile zusätzliche Zuschüsse an die Sozialversicherung und Zinsen von gut 15 Mrd. Euro enthalten sind.

Insgesamt hätten die Ausgaben bis zum Jahr 2016 um 41 Mrd. Euro oder 12 % gekürzt werden müssen. Die Kürzungen führen durch die Multiplikatorwirkung zu weiteren BIP-Rückgängen und Einnahmeausfällen. Der Wirtschaft wäre das nicht gut bekommen; sie hätte durch die schuldenbremsenbedingten Kürzungen zusätzlich zur ohnehin katastrophalen BIP-Entwicklung weitere 1,4 % an Wachstum eingebüßt. Die Schuldenstandsquote des Bundes läge heute um etwa 8,5 Prozentpunkte über dem aktuellen Wert, von großen Konsolidierungserfolgen wäre nicht die Rede.

Schuldenbremse Prognose ex ante © A&W Blog
Quelle: BMF; eigene Berechnungen, 2016 Prognose. © A&W Blog
Quelle: BMF; eigene Berechnungen, 2016 Prognose.

Die wirkliche Belastungsprobe der Schuldenbremse steht noch aus

Die finanzpolitischen Schlussfolgerungen sind klar: Erstens war es voreilig die deutsche Schuldenbremse zum Vorbild für die Finanzpolitik in Europa hochzustilisieren. Die deutschen Erfolge bei der Haushaltskonsolidierung waren Ergebnis der vergleichsweise guten Konjunktur und insbesondere einer sehr günstigen Arbeitsmarktentwicklung – und nicht etwa Ergebnis einer besonders restriktiven Finanzpolitik. Anstatt auf europäischer Ebene als finanzpolitischer Lehr- und Zuchtmeister aufzutreten, hätte der Bundesregierung eine größere Bescheidenheit besser zu Gesicht gestanden, da ihre finanzpolitischen Erfolge nicht Ergebnis überlegener Strategie, sondern schlicht einem großen Konjunkturglück geschuldet waren.

Zweitens muss sich die Finanzpolitik darüber klar werden, dass die Schuldenbremse bislang ausschließlich in einem günstigen makroökonomischen Umfeld getestet wurde. Die eigentliche Bewährung und Belastungsprobe in einer makroökonomischen Krise steht also noch aus.

Dieser Beitrag basiert auf einer Studie, die vom IMK erstveröffentlicht wurde. Zudem ist auf Makronom ein lesenswertes Interview mit zugespitzten Aussagen (“Die Schuldenbremse ist eine Investitionsbremse”) zu diesem Thema zu finden.