Die Corona-Pandemie als Brennglas gesellschaftlicher Bruchlinien

04. September 2020

Die Krisenerfahrung vollzieht sich in einer bereits ungleichen Gesellschaft und wird zum Brennglas bestehender gesellschaftlicher Bruchlinien. Anfangs bestand ein Optimismus, die Krise könne zum Bindemittel gesellschaftlichen Zusammenhalts und zum Gleichmacher einer ungleichen Gesellschaft werden. Allerdings gibt es reichlich Hinweise, dass Katastrophen und ihre Bewältigung bestehende Ungleichheiten vielmehr fortschreiben oder gar verstärken, auf einer neuen Ebene einführen oder neue Bruchlinien einziehen.

Das Virus als Bedrohung der Gesellschaft

Mit dem Auftauchen des neuartigen Corona-Virus und seiner globalen Verbreitung wurde eine Situation fundamentaler Ungewissheit eingeleitet. Überwältigt vom vermeintlichen „Einbruch“ eines Unbekannten, steht die Gesellschaft einer zunächst möglichen, dann drohenden katastrophischen Entwicklung gegenüber, die zu raschem und dringlichem Handeln auffordert – andernfalls drohen Leid und unverhoffter Tod als Grunddilemma der Menschheit.

Rasch avancierte das Virus zum Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und der durch die biomedizinische Perspektive dominierte Kampf gegen das Virus zum Taktgeber des sozialen Universums. Angesichts der sich abzeichnenden „Kollateralschäden“ in sämtlichen Teilbereichen der sozialen Welt wurden sodann auch Stimmen laut, die auf vielfältige „soziale Begleitkrisen“ der Pandemie verwiesen. Schließlich wurde ein Rettungspaket nach dem anderen geschnürt, um diese zu lindern oder zu kompensieren.

Die soziale Dimension der Corona-Pandemie

Ein solcher Zugang, der die Corona-Krise als ein externes, die Gesellschaft bedrohendes „Etwas“ versteht, verkennt allerdings, dass das Krisenhafte der Corona-Pandemie nicht nur in der faktischen Existenz des Virus selbst liegt. Das, was eine Katastrophe zur Katastrophe macht, ist grundlegend sozial:

Erstens ist sie sozial in ihren Folgen, indem sie gesellschaftlich als zentral erachtete Werte bedroht oder zerstört. Was gesellschaftlich als relevant gilt (z. B. Gesundheit, Eigentum), variiert allerdings entlang des jeweiligen historischen und kulturellen Kontexts.

Zweitens ist sie sozial in ihrem Geworden-Sein. Katastrophen erwachsen aus der gesamtgesellschaftlichen Ordnung selbst. Sie sind in dem, was wir „Normalität“ heißen, immer schon mitangelegt und ein Indikator für die grundlegenden Fehlanpassungen der Gesellschaft an ihre grundlegendsten Probleme des Daseins. Dabei besteht die Katastrophenerfahrung gerade im krisenhaften Verlust der kulturellen Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten (der „Normalität“ also). Sie lässt sich damit per se immer nur in Relation zur bestehenden Sozialordnung denken.

Drittens ist sie schließlich sozial als Konzept der Wahrnehmung. Zur Katastrophe wird erst, was als Bedrohung erkannt und anerkannt wird. Insbesondere die Corona-Krise führt die Definitions- und Deutungskämpfe, die nicht nur über die konkreten Ursachen und Folgewirkungen, sondern allein schon um die faktische Existenzder Pandemie geführt werden, deutlich vor Augen.

Nivellierungseffekt der Katastrophe?

Krisen oder Katastrophen erscheinen nun zunächst als eine Art gesellschaftliches Bindemittel: Die Vorstellung, die Gemeinschaft werde von außen angegriffen, stiftet Solidarität nach innen. Vorab bestehende Konflikte treten in Vergessenheit zugunsten des gemeinsamen Ziels, die bedrohten Werte zu bewahren und die Bedrohung abzuwehren – Konflikt weicht Konsens, so scheint es, und altruistisches und solidarisches Handeln überwiegen. Solche Denkmuster beflügeln auch utopische Vorstellungen einer Gesellschaft, die wie ein Phönix aus der Asche gestärkt aus der Krise hervorgehen könnte.

Blickt man insbesondere auf die Anfangsphase der Corona-Pandemie, ist dieses Denkmuster allgegenwärtig. „Wir lassen niemanden zurück“, kündigte die Regierungsspitze wiederholt an. Es schien ganz so, als würde dem sozialen Kitt neues Leben eingehaucht. Es gelte, Solidarität mit den Schwächsten zu zeigen, gleichzeitig solle man aber nicht vergessen, dass das Virus jede und jeden bedrohe. Die Gesellschaft avancierte zur Solidargemeinschaft. Bald schon wurden auch bestehende Benachteiligungen verurteilt; prekär beschäftigte „SystemerhalterInnen“ wurden etwa zu den HeldInnen der Krise erkoren, denen man abends kräftig applaudierte und Sondergratifikationen herbeiwünschte. Der Grundtenor war, dass diese aus der Krise als die SiegerInnen hervorgehen würden – nein, sollten – und endlich für ihre Leistung hinreichend honoriert werden. Corona, so schien es, könnte zum Reißbrett einer gerechten und egalitären Gesellschaft werden.

Corona als Brennglas gesellschaftlicher Ungleichheiten

Dieser anfängliche Grundtenor versiegte rasch. Waren es im Anfangsstadium noch marginalisierte Gruppen, die als Sündenböcke in die Schusslinien gerieten, war es in Zeiten des Social Distancing die Trennlinie zwischen – in den Worten von Bundeskanzler Kurz – „Lebensrettern“ und „Lebensgefährdern“, die neben verfassungsrechtlich fragwürdigen Verwaltungsstrafen auch sozial sanktioniert und kriminalisiert wurde. Die propagierte Solidarität war unschwer als eine fragmentierte zu erkennen: Das „Team Österreich“ (S. Kurz) erschien allen voran als eine durch die Vorstellungen einer natürlichen, epidemiologischen Einheit biologisch unterfütterte nationale Container-Gemeinschaft. Zur Solidarität mit den Schwachen gesellten sich bald rigide Erwartungen an die vermeintlich Begünstigten. Und auch zum Appell auf Honorierung der SystemerhalterInnen gesellten sich allmählich kritische Fragen jener, die sich unrechtmäßig vom Kreis der Anerkannten ausgeschlossen fühlten.

Bald schon traten die bestehenden Ungleichheiten wieder oder in verschärfter Form hervor, und die vermeintlich nivellierende und gesellschaftseinende Wirkung der Krise verebbte. Katastrophen fungieren offenbar nicht als nachhaltiger Gleichmacher. Vielmehr zeigen sie bestehende soziale Ungleichheiten auf, verfestigen oder verschärfen sie gar. Sie vollziehen sich nicht nur in ungleichen Gesellschaften und treffen auch nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleich: Während sie für die einen unsägliches Leid und Verlust bedeuten, finden sich andere als relative (die „Verschonten“) oder absolute „KatastrophengewinnerInnen“ (jene, die die Situation zum eigenen Vorteil nutzen können).

„KatastrophengewinnerInnen“ und „-verliererInnen“ verteilen sich allerdings nicht zufällig, sondern tendenziell entlang bereits bestehender Ungleichheitslinien. Der Nivellierungs- oder „Bumerang-Effekt“ von Risiken besteht demnach lediglich darin, dass sie privilegierte Individuen und soziale Gruppen potenziell auch betreffen – nicht aber, dass sie sie gleich betreffen. Nach wie vor fungiert der soziale Status als „sozialer Filter“ der Risikoverteilung – in anderen Worten sammeln sich Reichtum „oben“ und Risiken „unten“, noch verstärkt durch die ungleiche Verteilung von Bewältigungskapazitäten.

Zunächst konstituiert sich die Betroffenheit auf qualitativ verschiedenen Niveaus: Bedeutet der Shutdown für die einen den Verzicht auf den abendlichen Opernbesuch, entzieht er den anderen die Existenzgrundlage; verweilen die einen in ihrem großzügigen Eigenheim mit Gartenanlage, finden sich die anderen in beengten Wohnräumen mit fehlendem Zugang zu Naherholungsgebieten wieder. Diese Schieflage ergibt sich vor allem aus der hochgradig ungleichen Verteilung von Bewältigungskapazitäten, die bestehende Ungleichheiten in die Corona-Gesellschaft übersetzen.

Ein weiterer, oberflächlich zunächst nur wenig „sozial“ anmutender Übersetzungsmechanismus ergibt sich aus der Zentralstellung des Körpers für die menschliche Existenz und seine Anfälligkeit für das Virus. Die Daten zum Infektionsgeschehen verweisen häufig gerade auf Cluster in Bereichen mit ohnehin schon prekären Arbeitsbedingungen (z. B. Fleischindustrie, Erntehilfe, Pflegesektor etc.), in denen ein hinreichender Schutz vor einer Infektion nicht oder nur unzureichend gegeben ist. Und auch hinter ersten Erkenntnissen zur Morbidität verbergen sich zentrale Ungleichheitslinien: So gelten vor allem ältere Menschen mit Vorerkrankungen (insbesondere Diabetes und Adipositas) als besondere Risikogruppen für einen schweren Verlauf von COVID-19. Dabei ist es relativ gut belegt, dass die genannten Vorerkrankungen überverhältnismäßig häufig bei Menschen mit niedrigerem sozioökonomischen Status auftreten, und auch ältere Menschen werden vermehrt als Zentralkategorie sozialer Benachteiligung diskutiert. In diesem Sinne lässt sich die – wahrlich noch zu prüfende – Behauptung aufstellen: Es besteht für alle die Chance, sich mit dem Corona-Virus zu infizieren und (schwer) an COVID-19 zu erkranken, aber nicht für jeden oder jede ist die Chance gleich hoch.

Fazit

Eine solide Krisenbewältigung darf folglich nicht auf der Annahme der betroffenen Bevölkerung als eine homogene Menge beruhen. Sie muss auf einer Kenntnis der Schieflage in der Vulnerabilität und den Bewältigungskapazitäten von Individuen und sozialen Gruppen im Pandemiefall aufbauen. Es ist zu fragen, wo sich potenzielle Ressourcen finden, wie diese aktiviert werden können, und vor allem, wo es an diesen mangelt. Sodann sind die mittelbaren und unmittelbaren Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die heterogenen Lebenswelten systematisch zu erschließen, und es ist nach den damit einhergehenden, differenzierten Krisenerfahrungen zu fragen. Nur so können Krisenbewältigung und Hilfeleistungen zielgerichtet auf reale Bedarfslagen eingehen, Lücken erkennen und im besten Falle Notlagen mildern oder zumindest nicht gar noch verschärfen. Nur, wenn ein ganzheitlicher Blick auf die Pandemie eingenommen wird, ist es möglich, über eine symptomhafte und reaktive Bearbeitung einer vermeintlich „externen“ Bedrohung hinauszugehen und systemimmanente Probleme an ihrer Wurzel zu packen.

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