Der Anteil der Menschen in Österreich, die von Armut betroffen sind, ist im letzten Jahrzehnt gesunken. 2019 haben 13,3 Prozent der Menschen in Österreich unter der Armutsgefährdungsschwelle gelebt, 2008 waren es noch 15,2 Prozent. Die aktuellen Entwicklungen rund um COVID-19 haben die Situation in den letzten Monaten aber völlig verändert. Was steht Österreich in den kommenden Jahren bevor?
Ein durchwachsenes Jahrzehnt
Der Anteil der armutsgefährdeten Menschen in Österreich hat in den letzten Jahren stetig abgenommen. Der Rückgang von 14,3 Prozent 2018 auf 13,3 Prozent 2019 ist zwar zu gering, um sich statistisch sicher sein zu können, dass es tatsächlich zu einem Rückgang gekommen ist. Langfristig ist die Situation allerdings eine andere: Der Rückgang von 15,2 Prozent 2008 auf 13,3 Prozent 2019 ist statistisch signifikant. Das bedeutet, dass die Armutsgefährdung in Österreich seit 2008 merklich gesunken ist.
Das liegt zum einen an der guten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre. Sie hat dazu geführt, dass viele Menschen eine Beschäftigung gefunden haben und dadurch über ein Einkommen über der Armutsgefährdungsschwelle verfügen. Zum anderen an der Tatsache, dass zu Beginn des oben genannten Vergleichszeitraums die Finanzkrise von 2008 gewütet hat. Viele Menschen waren damals von den Auswirkungen der Krise betroffen. Die Zahl der Armutsgefährdeten war entsprechend hoch. Sobald der Höhepunkt der Krise überschritten war, war der Rückgang daher eine zu erwartende Folge.
Im Gegensatz zum Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre wird die Einführung der Sozialhilfe, die die bisherige Mindestsicherung ersetzt, voraussichtlich negative Auswirkungen auf armutsgefährdete Menschen haben. Die beschlossenen Verschlechterungen für Paare, Familien und Wohngemeinschaften führen dazu, dass diese Gruppen in Zukunft weniger Geld zur Verfügung haben werden als bisher.
Insgesamt ist die Armutsgefährdung in Österreich, verglichen mit anderen europäischen Ländern, jedoch niedrig. Das ist sehr erfreulich und – man kann es nicht oft genug schreiben – ein untrügliches Zeichen eines funktionierenden Sozialstaats. Wären wir alle allein auf die Einkommen aus Erwerbsarbeit angewiesen, würde die Zahl der Armutsgefährdeten weit höher sein (44,9 Prozent statt 13,3 Prozent). Die Leistungen in Bereichen wie Arbeitslosigkeit, Alter, Gesundheit, Familie, Wohnen oder Hinterbliebene ermöglichen eine im europäischen Vergleich relativ gleiche Verteilung der verfügbaren Einkommen in Österreich.
Auf dem Weg in die soziale Katastrophe?
Was ist für die absehbare Zukunft zu erwarten? Der für 2020 prognostizierte Rückgang der Wirtschaftsleistung liegt COVID-19-bedingt laut neuerer Prognosen weit über jenem in der Finanzkrise von 2008. Damals fiel das Bruttoinlandsprodukt um 3,8 Prozent – der bis dahin stärkste Rückgang seit dem Zweiten Weltkrieg. Für 2020 rechnet beispielsweise das Österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) mit einem Rückgang von 7,5 Prozent.
Die Auswirkungen sind bereits seit März erkennbar: stark steigende Arbeitslosigkeit, verbunden mit deutlich mehr Menschen, die deshalb auf die Leistungen der Arbeitslosenversicherung angewiesen sind. Gleichzeitig waren viele der Betroffenen in Bereichen mit niedrigen Löhnen beschäftigt, wie dem Tourismus oder dem Gastgewerbe. Als Folge beziehen sie jetzt ein niedriges Arbeitslosengeld. Innerhalb der Bundesregierung wird derzeit laut über eine Reform des Arbeitslosengelds nachgedacht. Die bereits beschlossene einmalige Zahlung für einige der Betroffenen wird jedenfalls keine nachhaltige Verbesserung bringen. Auch wenn ein Teil der jetzt Arbeitslosen kurz- bis mittelfristig wieder eine Beschäftigung findet, müssen viele andere mit deutlich weniger Geld auskommen als bisher. Das wird sich in der Erhöhung der Armutsgefährdungsquote niederschlagen. Dazu kommt, dass jene Menschen, die bereits vor Ausbruch von COVID-19 arbeitslos waren, nun noch schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt vorfinden.
Das ist jedoch nur ein Teil des Problems. Es ist noch keineswegs absehbar, wie viele Unternehmen die aktuelle Krise überstehen werden. Und selbst wenn das Schlimmste verhindert werden kann, sind Arbeitsplatzverlust und Gehaltseinbußen für viele Menschen ein sehr reales Szenario – und eines, das leicht in die Armut führen kann.
Wer wird für die Folgen der Krise bezahlen?
Doch auch das ist sehr wahrscheinlich noch nicht das Ende der Probleme. Aktuell werden enorme Summen bewegt, um die Wirtschaft zu stützen. Vom Arbeitsmarktservice finanzierte Kurzarbeit, Hilfsfonds für Unternehmen und Private und anderes mehr. Dazu kommt eine vorgezogene Lohnsteuerreform. Gleichzeitig sinken die Einnahmen des Staates durch die Arbeitslosigkeit und die Umsatzrückgänge der Unternehmen. Steuern und Sozialversicherungsbeiträge gehen stark zurück. Grundsätzlich ist das sehr sinnvoll. Wenn es ArbeitnehmerInnen und Unternehmen schlecht geht, sollen sie weniger Abgaben zahlen. In der aktuellen Situation handelt es sich jedoch um ganz andere Größenordnungen bei den Einnahmenausfällen als bei einem normalen Wachstumsrückgang. Die Frage der Refinanzierung der öffentlichen Ausgaben wird sich früher oder später stellen müssen.
Unser Sozialsystem finanziert sich zu rund zwei Dritteln aus den Sozialversicherungsbeiträgen der Beschäftigten und Unternehmen. Wenn diese Beiträge stark sinken – wie in der aktuellen Situation –, müssen entweder zusätzliche Einnahmequellen erschlossen werden (neue oder höhere Steuern), oder es muss zu Einsparungen kommen. Gleichzeitig entfallen etwa 60 Prozent aller öffentlichen Ausgaben in Österreich auf unser Sozialsystem. Einsparungen würden daher mit großer Sicherheit in diesem Bereich stattfinden. Und damit mit großer Sicherheit jene Menschen besonders hart treffen, die von den Leistungen des Sozialsystems besonders stark abhängig sind: Armutsgefährdete.
Das bedeutet, dass die reale Gefahr besteht, dass finanziell schlecht gestellte Menschen die doppelten VerliererInnen der COVID-19-Krise werden. Zuerst sind sie besonders stark gefährdet, den – schlecht bezahlten – Job zu verlieren oder sind bereits arbeitslos und haben dadurch derzeit kaum Möglichkeiten, Leistungen aus Hilfsfonds zu erhalten. Wenn es dann zu Einsparungen und Kürzungen öffentlicher (Sozial-)Ausgaben kommt, sind sie die Ersten, die davon betroffen sind.
Corona-Krise trifft auf verschlechterten Schutz der neuen Sozialhilfe
Das letzte Jahrzehnt hat im Bereich der Armutsbekämpfung insgesamt Verbesserungen gebracht. Dennoch fanden in den Jahren nach Ausbruch der Finanzkrise erhebliche Rückschläge statt, sodass ein erheblicher Teil der Fortschritte in den Jahren nach 2008 lediglich darin bestand, die im Zuge der Krise erhöhte Armutsgefährdung wieder zu reduzieren.
Die COVID-19-Krise hat nun eine dramatische Lage auf dem Arbeitsmarkt geschaffen. Sie trifft zudem auf ein System der sozialen Unterstützung, das durch die Einführung der Sozialhilfe geschwächt wurde.