Armut abschaffen heißt, Kindeswohl schützen und Chancen eröffnen

11. August 2022

Mit dem Fokus auf aggregierte Statistiken droht zunehmend der Bezug zu den „Menschen hinter den Zahlen“ verloren zu gehen. Dabei sind es ihre Erfahrungen, die wesentlich sind. Was bedeutet das, wenn es heißt: „368.000 Kinder und Jugendliche sind armuts- und ausgrenzungsgefährdet“? Dank sozialer Hilfen, Kollektivverträgen oder des freien Zugangs zu Bildung geht es doch selbst jenen halbwegs gut, die wenig haben? Eine Analyse von Interviews mit neun Aufsteiger:innen zeigt, wie sehr Armut mit Leid und der Weg aus der Armut mit sozialen Begegnungen verknüpft ist. Armutsbekämpfung braucht höchste Priorität!

Armut schafft eine parallele Realität

Chloe wohnt mit drei ihrer sechs Geschwister am Dachboden. Auch Alena schläft (und spielt) zu dritt, manchmal gar zu viert in einem 12-Quadratmeter-Zimmer. An Privatsphäre ist bei beiden kaum zu denken. Konstis Mutter versucht mit zwei Kindern als Alleinerzieherin über die Runden zu kommen. Wenn sie keine Anstellung als Hilfsarbeiterin bekommt, ist sie auf Sozialleistungen angewiesen. Zu dritt wohnen sie in einer 2-Zimmer-Substandardwohnung der Stadt Wien. Neben dem Schimmelbefall macht ihnen das fehlende Warmwasser zu schaffen. Konsti kann seiner Körperhygiene nicht angemessen nachkommen, neue Kleidung kann sich die alleinerziehende Mutter nicht leisten. Auch Sophies Mutter ist alleinerziehend. Aufgrund psychischer Probleme fällt es ihr schwer, eine Arbeit zu halten, Hilfen zu beantragen oder Sophie altersadäquat zu versorgen. Sophie hat Angst, denn Essen oder Medikamente sind nicht immer leistbar. Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr ist Sophie 13-mal umgezogen. Fast immer müssen Mutter und Tochter ihr Hab und Gut zurücklassen. Urlaube oder die Förderung von Interessen sind, wenn sie nicht als „Sozialprojekt“ angeboten werden, fernab jeglicher Realität der Familien.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Armut bedeutet Ausschluss, Abwertung und Einsamkeit

Um an Aktivitäten mit Gleichaltrigen teilzunehmen, sie nach Hause einzuladen oder Hobbys nachzugehen, fehlt es an Geld, Zeit oder Wissen. Dieser gesellschaftliche Ausschluss führt aber nicht einfach dazu, dass sich Armutsbetroffene als „nicht beliebt“ beschreiben. Viele ihrer Erinnerungen zeugen von schweren Abwertungen. Die Schule ist häufig ein Ort des Schreckens. Dass Konsti sich nicht waschen kann, Sophie sich selbst versorgen muss oder Alena übergewichtig ist, resultiert in massivem Mobbing im Schulkontext. Lehrpersonal kann dieses nicht nur nicht unterbinden – teilweise beteiligt es sich sogar daran. Das Aufwachsen ist daher geprägt von dem Gefühl, allein zu sein und allein gelassen zu werden.

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Aufstieg durch Leistung?

Wie entkamen aber diese Menschen, mit denen die Interviews geführt wurden, der Armut? Eines vorweg: Alle arbeiteten hart für ihren Aufstieg. Schon während ihres Aufwachsens leisteten sie Sorgearbeit. Die meisten begannen vor dem 18. Lebensjahr mit Lohnarbeit, manche arbeiteten schon vor dem 15. Geburtstag informell (Babysitten, Putzen oder Nachhilfe). Youma etwa versorgte ihre Geschwister, weil ihre Mutter zum Deutschkurs musste. Den Vater erlebten sie und ihre Geschwister als abwesend. Schon mit neun Jahren kümmerte sich Youma um das Haushaltsbudget. Und wie Alena, Katherina oder Tatjana arbeitete sie neben der Schule.

Wer nun aber denkt, Aufstieg sei für alle „mit ein bisschen Anstrengung“ möglich, irrt. Die Interviews zeugen von hohen Hürden. Und so erscheint Leistung zwar als notwendig, aber soziale Unterstützung gleichzeitig als grundlegend. Alena zum Beispiel bekam in einer Zufallsbegegnung trotz fehlender Ausbildung eine „gute“ Arbeitsstelle angeboten. Diese war aber an die Aufnahme an einer Hochschule geknüpft. Das Angebot war unterstützend, das Bestehen der Aufnahmeprüfung und des Studiums neben mehreren Jobs ihre Leistung.

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Wohlfahrtsstaatliche Institutionen an der Leistungsgrenze?

Erfahrungen wie jene von Alena geben einerseits Hoffnung. Aber in vielen dieser Begegnungen finden sich besonders engagierte Fachkräfte der Pädagogik und sozialen Arbeit, die ihre Unterstützung außerhalb des beruflichen Kontextes anbieten. So etwa bei Dünya und Konsti, die nach ihrem Auszug aus sozialpädagogischen Wohngemeinschaften weiter unentgeltlich von Pädagog:innen begleitet werden. Oder wenn Youma und Julia von Lehrer:innen außerhalb ihrer Arbeitszeit mit Nachhilfe und Ratschlägen unterstützt werden. Daher stellt sich andererseits umso mehr die Frage: Wie sehr hält unser Sozial- und Bildungssystem noch, was es verspricht?

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Was hilft, was braucht’s

Statistiken (23 Prozent Armutsgefährdung bei Kindern) zeigen, dass diese Lebensrealitäten keine Einzelschicksale sind. Die Erfahrungen hinter den Zahlen erinnern uns aber daran, warum ein armutsfester Sozialstaat notwendig ist. Mindeststandards, die Kinderarmut verhindern, lindern nicht nur akutes Leid. Wie in der EU-Kinderrechtsstrategie und der Europäischen Kindergarantie festgehalten, durchbrechen angemessene Mindeststandards einen Teufelskreis der Exklusion. Die Analyse der Interviews unterstützt die von AK-Expert:innen empfohlenen Maßnahmen zur Reduktion von Armut und betont insbesondere folgende:

  • genügend Geld zum Leben durch faire, armutsvermeidende Löhne, gute Arbeitsbedingungen sowie angemessene Mindestniveaus bei Sozialleistungen,
  • ausreichend niederschwellige psychosoziale und psychiatrische Unterstützungsangebote in Krisen und zur Prävention, insbesondere Fachpersonal bei der Kinder- und Jugendhilfe,
  • flächendeckende Ganztagsschulen und eine gemeinsame Schule bis zum 14. Lebensjahr,
  • Maßnahmen gegen Mobbing und Klassismen an Schulen,
  • Förderung gesellschaftlicher Teilhabe von armutsbetroffenen Kindern (z. B. Summer City Camps)

Der Artikel basiert auf problemzentrierten Interviews mit neun Aufsteiger:innen, die im Rahmen der Masterarbeit „Soziale Mobilität als Grenzgang – Ausbrechen aus prekären Klassenlagen in der Gegenwartsgesellschaft“ (Soziologie/Universität Wien) von Florian Baumgarten geführt und ausgewertet wurden. Ausgangsthese dieser Arbeit ist, dass schon einiges über ungleichheitsreproduzierende Mechanismen bekannt ist. Um dem Diskurs neue Impulse zu geben, wurde in Anlehnung an lösungsorientierte Grundsätze in einem qualitativ-interpretativen Vorgehen untersucht, warum das Entkommen aus der Armutsfalle trotz dieser Barrieren vereinzelt doch funktioniert.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung