Angst und Hoffnung

26. September 2022

Das menschliche Dasein wird durch unterschiedliche Ungerechtigkeitserfahrungen geprägt. Schlechte Behandlung durch Chef:innen oder auf Ämtern, drohender Jobverlust oder Kürzung von Sozialleistungen, Verlust der Wohnung oder verwehrte Aufstiegschancen zählen dazu ebenso wie Armut unter Kindern oder Missstände in der Pflege. Um abstrakte Debatten zu Gerechtigkeitsprinzipien oder utopischen Gesellschaftsordnungen geht es hingegen nur im Leben der wenigsten. Wir legen in unserem neuen Buch „Angst und Angstmacherei“ deshalb den Fokus auf konkrete Lebenserfahrungen und Angstgefühle.

Statusangst und Versagensangst prägen unsere Gesellschaft. Beide Angstformen stehen in engem Zusammenhang mit der herrschaftsabsichernden Ideologie des Neoliberalismus. Diese schreibt den Vermögenden Leistungsstärke und hohen gesellschaftlichen Status zu, den Armen hingegen einen niedrigen. Da Arme diese Fremdzuschreibung individuell übernehmen, geht Versagensangst damit einher. Beide Angstformen weisen auf die wohl tiefste Angst hin: jene vor gesellschaftlicher Ächtung und Vereinsamung. Die Angst, ausgestoßen zu werden, ist vermutlich eines unserer stärksten Gefühle.

Die „Vermögensverteidigungsindustrie“ (Jeffrey Winters) präsentiert uns Reichtum als logische Folge von harter Arbeit, herausragender Intelligenz und bahnbrechender Innovation. Der Umkehrschluss müsste dann suggerieren, den Armen fehle es genau an diesen Fähigkeiten. Die Absurdität des Arguments legt seinen ideologischen Charakter offen. Die neoliberale Denkweise gesteht den Armen gerade einmal den Erwerb von Bildung zu. Mehr Bildung und bessere Schulen für talentierte arme Kinder sind jene akzeptierten Instrumente, welche Chancengleichheit versprechen. Die tüchtigen Kinder der Armen sollen eine Chance bekommen, aber strukturell soll sich nichts ändern. Würde Chancengleichheit ernst genommen, so müsste die Gesellschaft in alle Kinder aus benachteiligten Verhältnissen überproportional investieren und Vermögen und Erbschaften radikal besteuern. Der neoliberale Ökonom Friedrich August von Hayek hat dies zwar erkannt, aber abgelehnt. Er schrieb: „Die Menschen in Umstände zu versetzen, wo jeder gleiche Chancen hat, ist extremer Totalitarismus.“ Radikal verstandene Chancengleichheit würde Vermögen und Freiheit der wirtschaftlichen Eliten eben drastisch einschränken.

Was fehlt, ist eine offene gesellschaftspolitische Auseinandersetzung über die Frage höherer sozialer Mindeststandards im Zusammenspiel mit einer Begrenzung privaten Reichtums. Wir versuchen dies mit unserem Debattenbeitrag zu ändern.

Angst und Angstmacherei

Manche Ängste wie jene vor dem Tod sind unvermeidbar. Nicht alle Ängste erfordern ein politisches Handeln. Oft bestimmen die Sorgen der Kleinunternehmer:innen, kleinen Landwirt:innen, kleinen Häuselbauer:innen, die nicht selten bei genauem Hinsehen so klein gar nicht sind, die politische Debatte. Klein ist auch das Vermögen von Herrn Mateschitz im Vergleich zu jenem von Herrn Bezos. Doch ein tatsächliches Leiden wäre bei einer Minderung seines Vermögens nicht zu erkennen.

Viele Ängste gehen hingegen tief, sind vermeidbar und müssen auch vermieden werden, weil Menschen darunter leiden und die Ursachen von Angst und Leid beseitigt werden können. Armut und soziale Ausgrenzung können in einer reichen Gesellschaft vollständig verhindert werden. Wohnungslosigkeit ist ein Ergebnis falscher Politik. Fehlende Plätze im Kindergarten und der Ganztagsschule und der damit verbundene Einkommensausfall der Eltern müssen nicht sein. Die fehlende Versorgung im Gesundheits- und Pflegesystem und die damit verbundene Verringerung gesunder Lebensjahre ist vermeidbar.

Angst vor Jobverlust, Angst vor Armut und fehlender Pflege im Alter plagen viele Menschen. Konservative Politik schürt diese Ängste bewusst. Dies ist eine Politik der Angstmacherei mit dem Zweck, Menschen gefügig zu machen und gleichzeitig die Gewinnerzielungschancen für Vermögende auszuweiten.

Gesellschaftspolitische Basis: Liberalismus der Furcht

Wir bauen unsere Überlegungen auf dem theoretischen Ansatz eines Liberalismus der Furcht der amerikanischen Politologin Judith Shklar auf. Diese liberale politische Theoretikerin argumentierte, dass die Lebenserfahrungen der Leidenden keine Beachtung bei den Herrschenden finden. Angst ist eine der tiefsten Emotionen im Leben und die darauf basierende Angstmacherei dient der Absicherung von Herrschaft. Der Anspruch auf ein Leben ohne Furcht bildet einen minimalen Standard für eine liberale Gesellschaft. Die politische Ordnung muss daher auf einer Vermeidung von Furcht aufgebaut werden.

Shklar verficht eine von Rousseau geprägte Sicht. Es geht ihr um eine Gesellschaft, „in der niemand so arm wäre, sich verkaufen zu müssen, und niemand so reich, andere kaufen zu können“. Dies ist keine romantisch-naive Träumerei, sondern eine geradlinige Festlegung, welche Gesellschaftsordnung erwünscht und welche abzulehnen ist. Sie ist auch im 21. Jahrhundert noch relevant: 50 Millionen Menschen sind laut Angaben der ILO 2021 von moderner Sklaverei betroffen. Gleichzeitig gibt es weltweit 2.750 Milliardär:innen, darunter solche, die auf dem Rücken ausgebeuteter Arbeiter:innen den Weltraum zu erobern suchen.

Eine Frage der Perspektive

In gesellschaftspolitischen Debatten ist es wichtig, die eigene Perspektive offenzulegen, dann erst kann von anderen verstanden werden, warum jemand sieht, was er oder sie sieht. Wer die Welt als Immobilieneigentümer betrachtet, sieht andere Dinge als eine Mieterin. Wer als Unternehmer in jeder Krise nach staatlicher Hilfe ruft und sie auch bekommt, hat wenig Bezug zur sozialen Lage ausgebeuteter 24-Stunden-Betreuer:innen. Uns fällt auf: Gerade bei Ökonom:innen fehlt diese Selbstreflexion oft. Vom Katheder herab werden Maßnahmen empfohlen, ohne einschränkend zu sagen, dass man etwas nur verkürzt sieht, weil man eben an einem bestimmten Ort steht.

Wenn sie von besseren Arbeitsanreizen reden, dann berichten die wirtschaftlichen Eliten uns nichts über ihre Motivation zur eigenen Arbeit. Nein, sie sprechen über Anreize für andere und wollen damit einer mit Dauer der Arbeitslosigkeit sinkenden sozialen Absicherung für Arbeitslose oder einer Wartefrist auf das Arbeitslosengeld das Wort reden. Und immer sind es strenge Vorgaben für die Einkommensschwachen und nie für die Reichen. Doch was wissen Eliten über Arme und prekär Beschäftigte und was wollen sie überhaupt wissen? Die Lebenserfahrungen unten in der Gesellschaft interessieren kaum. Sie würden auf komplexe Probleme verweisen, auf lebensgeschichtliche Brüche, auf unerfüllte Hoffnungen und vergebliche Anstrengungen.

Politischer Druck auf die Benachteiligten dient der Angstmacherei. Arbeitslose ringen um ihr Auskommen und ihnen wird mit Kürzung der ohnehin weit unter der Armutsschwelle liegenden Notstandshilfe gedroht. Prekär Beschäftigte trauen sich nicht für ihre Rechte einzustehen, weil sie wissen, dass Arbeitslosigkeit Armut bedeutet. Menschen können ohne leistbare Wohnungen nicht leben, und dennoch werden Mietverträge befristet und Mietenregulierung abgebaut. Menschen wollen auf soziale Absicherung im Alter vertrauen, stattdessen wird ihnen die Unfinanzierbarkeit des Pensionssystems vorgegaukelt. Mit dieser Angstmacherei sind Profitinteressen verbunden. Unerwähnt bleibt zumeist das schnöde Interesse an billiger Arbeit, an hohen Mieteinnahmen, an immer noch höheren Erträgen aus Pensionsfonds, an den Milliardengewinnen aus privatisierten Unternehmen, persönlicher Dienstleistung.

Wir legen unsere eigene Perspektive offen. Unsere Prinzipien sind jene von gelebter Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, hoher Lebensqualität und mehr Freiheit für alle, Gleichheit und Unantastbarkeit der menschlichen Würde. Dieses normative Rüstzeug schmuggeln wir nicht in die ökonomische Analyse hinein, sondern wir weisen es aus. Besonders wichtig sind uns der Schutz und die Erweiterung der Demokratie. Das ist vielleicht für Ökonom:innen ungewöhnlich. Denn viele sehen die technokratischen Empfehlungen der Expertokratie durch demokratische Entscheidungen gefährdet. Friedrich August von Hayek wollte die Demokratie beschränken, um Sozialstaat und progressive Besteuerung in die Schranken zu weisen und die Freiheit der wirtschaftlichen Eliten zu garantieren. Wir weisen die Demokratiefeindlichkeit des Neoliberalismus entschieden zurück.

Emanzipatorische Politik

In einer Gesellschaft, in der die Macht bei Milliardär:innen und Multimillionär:innen liegt, dient Angstmacherei den Interessen der Herrschenden. Emanzipatorische Politik muss demgegenüber Ängste nehmen und soziale Sicherheit geben. Dies gelingt mit verlässlichen Untergrenzen im Sozialstaat. Eine Mindestsicherung soll das Minimum sichern, Arbeitslosengeld den Lebensstandard bis zum nächsten Job gewährleisten, die Mindestpension ein Auskommen nach Erwerbstätigkeit ermöglichen, der Unterhaltsvorschuss Ein-Eltern-Familien absichern. Kindergärten und Schulen sollen die sozialen, emotionalen und kognitiven Fähigkeiten aller Kinder stärken, unabhängig vom Bildungshintergrund der Eltern. Gesundheits- und Pflegesystem sollen die gute Versorgung aller sicherstellen. Soziales Wohnen und Mietengesetzgebung sollen leistbaren Wohnraum ermöglichen. Kollektivverträge, Arbeitsrecht und Mindestlohn sollen Ausbeutung verhindern und gewährleisten, dass man von Arbeit gut leben kann.

Österreichs Sozialstaat ist das Ergebnis langer sozialer Kämpfe und stellt einen bemerkenswerten zivilisatorischen Fortschritt dar. Doch er hat auch so manche Defizite. Vor allem ist er nicht armutsfest, wie sich spätestens in der Teuerungskrise zeigt. Die Untergrenzen des Sozialstaates müssen deshalb entscheidend angehoben werden. Politisches Lavieren bei der Bekämpfung von Armut mündet in kosmetischen Korrekturen und Einmalzahlungen. Eine erfolgreiche Null-Armut-Strategie hingegen baut auf sozialen Rechten auf. Ihr geht es nicht nur ums Überleben, sondern auch um Ermächtigung. Die Wiedereinführung der bedarfsorientierten Mindestsicherung mit verlässlichen Mindestleistungen in Höhe der Armutsgefährdungsgrenze bildet ein Kernelement dieser Strategie. Der Zugang zu Mindestsicherung muss allen Bedürftigen ohne Beschämung möglich sein. Die Sozialämter müssen unterstützen und dürfen nicht drangsalieren. Eine Erhöhung von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe hilft, nicht den nächstbesten Arbeitsplatz annehmen zu müssen, sondern den nächsten guten annehmen zu können.

Ausreichende Geldleistungen sind wichtig im Kampf gegen Armut. Doch sie bekämpfen nicht die Ursachen von Armut. Hier sind andere Maßnahmen erforderlich. Etwa gute Jobs mit kollektivvertraglicher Absicherung, von deren Einkommen man leben kann. Ein Arbeitskräftemangel wird die Rahmenbedingungen verbessern, weil er die Macht am Arbeitsmarkt endlich wieder verschiebt. So entstehen Chancen für Menschen, die es bislang nicht leicht hatten, einen guten Arbeitsplatz zu finden: Arbeitslose, Frauen mit zu wenig Arbeitsstunden in Teilzeitjobs, Ältere, die aus Arbeitslosigkeit in Pension gehen müssen, und die vielen Beschäftigten in miesen Jobs. Die Politik soll das unterstützen, etwa indem das AMS nur noch auf Arbeitsplätze mit akzeptablem Einkommen vermittelt und jene Betriebe sperrt, die notorisch gegen das Arbeitsrecht verstoßen.

Wohnen ist die neue soziale Frage. Deshalb sind die Versorgung mit leistbarem Wohnbau durch Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen, eine griffige Mietenregulierung und das Ende der befristeten Vermietung essenziell. Sie ist dem Modell des Eigenheims für jeden Haushalt überlegen, das in der Zersiedelung des Landes, zunehmender Bodenversiegelung, hohem Energieverbrauch und teuren Erschließungskosten, Immobilität, hoher Verschuldung und spekulativer Überhitzung am Immobilienmarkt endet. Wenn Wohnungen als Anlageobjekt gesehen werden, was in einer angsterfüllten oberen Mitte zunehmend beliebt ist, so trägt das zu unerwünschtem spekulativem Leerstand und zur Immobilienhausse bei.

Hoffnung

Ein wirtschaftspolitischer Ansatz der Hoffnung will Angst mindern und Freiheitsräume für alle erweitern. Eine emanzipatorische Politik der Untergrenzen muss dabei um eine Politik der Obergrenzen ergänzt werden. Die Beschäftigung mit der Frage „Was ist zu wenig?“ muss um die Frage „Was ist zu viel?“ erweitert werden. Es geht um eine soziale Annäherung von oben und unten, von arm und reich. Eine emanzipatorische Politik muss dabei in drei Bereichen ansetzen.

Erstens in einer progressiven Besteuerung von Vermögen und Erbschaften. Bei einer Besteuerung von Vermögen kann es nicht nur um einen „kleinen Beitrag der Reichen“ gehen. Es muss vielmehr auch um eine Schmälerung sehr hoher Vermögen gehen. Manche Ökonom:innen reden einer reinen Besteuerung von Immobilien und einer Steuerbefreiung von Unternehmensvermögen das Wort. Doch das hieße, eine Vermögenssteuer für die obere Mittelschicht einzuführen, deren Besitz überwiegend aus Immobilien besteht, und die Reichen zu verschonen, die die Unternehmen besitzen. Das wäre keine sinnvolle Vermögenssteuer. Wer an der Vermögensungleichheit etwas ändern will, muss oben und nicht in der Mitte ansetzen. Mit dem Vermögen steigende Steuersätze versprechen trotz hoher Freibeträge ein milliardenhohes Aufkommen, welches für eine Null-Armut-Strategie, für bessere soziale Dienste von Bildung bis Pflege und für geringere Abgaben auf Leistungseinkommen aus Arbeit verwendet werden soll.

Eine Erbschaftssteuer muss progressiv mit dem Erbvolumen steigen und im Durchschnitt wenigstens die Lohnsteuerquote von etwa 15 Prozent erreichen. Niedrige Freibeträge beachten, dass alle Erbschaften leistungsfrei anfallen. Ihr Aufkommen in Milliardenhöhe soll für den Ausbau des sozialen Pflegesystems zweckgebunden sein.

Zweitens eine Auseinandersetzung über die Beschränkung von Eigentumsrechten zugunsten der Allgemeinheit. Das Waldgesetz 1975 erlaubt der Bevölkerung das Verweilen im Wald zum Zweck der Erholung, des Beerensammelns und Wanderns. Es schränkt die Freiheit der Waldbesitzer:innen ein und weitet die Freiheit der Erholungssuchenden aus. Nach diesem Vorbild muss heute etwa der Zugang der Allgemeinheit zu den Badeseen besprochen werden.

Drittens eine Debatte um ein Maximalvermögen. Zu groß ist der Einfluss der Milliardär:innen auf Politik, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft. Allein die Möglichkeiten der Vermögenden gefährden die Demokratie. Die Höhe eines Maximalvermögens muss in einem demokratischen Prozess besprochen und ausgehandelt werden.

Eine Wirtschaftspolitik der Hoffnung ermöglicht Freiheit und Selbstbestimmung aller. Denn diese basiert auf sozialer Sicherheit. Freiheit durch Privateigentum hingegen schließt Nicht-Eigentümer:innen aus. Eine nicht ausgrenzende Freiheit entsteht im Miteinander. Nur von neoliberaler Seite wird geglaubt, bei Freiheit gehe es allein um den Abbau staatlicher Beschränkungen. In den Lebenserfahrungen aller wird die Freiheit durch Ängste vor ausbeuterischen Chefs, empathielosen Mitmenschen und narzisstischen Milliardär:innen eingeschränkt. Freiheit entsteht durch Vermeidung von Ängsten, durch soziale Sicherheit, durch Hoffnung auf ein besseres Leben. Freiheit hat Voraussetzungen.

Uns allen werden im Leben konkrete Grenzen gesetzt. Geboren an einem bestimmten Ort, aufgewachsen in einer bestimmten Familie, leben wir für eine begrenzte Zeit auf Erden. Dies ist uns gemeinsam. Doch welche Möglichkeiten wir in diesem begrenzten Leben haben, hängt von anderen Begrenzungen und Grenzziehungen ab. Diese Grenzen müssen politisch neu gezogen werden. Wir arbeiten an und hoffen auf Untergrenzen im Sozialstaat und demokratieverteidigende Obergrenzen beim Vermögen. Und „Hoffnung ersäuft die Angst“, wusste schon der marxistische Philosoph Ernst Bloch.



Markus Marterbauer, Martin Schürz:
Angst und Angstmacherei.
Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht
Zsolnay Verlag, 384 Seiten,
€ 26,80



Das Buch von Markus Marterbauer und Martin Schürz erscheint am 26. September 2022.

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