Wenige Denker des 19. Jahrhunderts sorgen noch heute für so viel Diskussionsstoff wie Karl Marx. Zu seinem 200. Geburtstag vermarktet, an den Universitäten weitgehend verdrängt, als genialer Denker gefeiert, zum Untergangspropheten gebrandmarkt. Doch seine Theorien gelten selbst seinen KritikerInnen als wegweisend. Unabhängig davon, wie man zu den politischen Ableitungen aus seinem Werk steht, fortschrittliche WissenschafterInnen können von Marx’ Methode und Analyse auch im 21. Jahrhundert einiges mitnehmen.
Marx zwischen Kult und Verdrängung
Karl Marx war im Jahr seines 200. Geburtstags ganz schön populär. Ausstellungen, Lesungen, Kongresse und sogar ein Musical wurden auf die Beine gestellt. Seine Geburtsstadt Trier gestaltete Null-Euro-Scheine mit dem Gesicht und Fußgängerampeln mit einer Comic-Version des bärtigen Revolutionärs. Nach der Finanzkrise 2008 rückte er aber nicht nur als Kultfigur, sondern vor allem wegen seiner scharfen Analyse des Kapitalismus in die öffentliche Aufmerksamkeit. Sein ökonomisches Hauptwerk „Das Kapital“ musste angesichts der stark gestiegenen Nachfrage neu aufgelegt werden.
Gleichzeitig ist Marx in der ökonomischen Ausbildung an den Universitäten weitgehend an den Rand der Lehrpläne gedrängt worden oder sogar komplett verschwunden. Dabei könnten kritische ÖkonomInnen von seiner wissenschaftlichen Methode und seinen Erkenntnissen über die Funktionsweise des vorherrschenden Wirtschaftssystems auch im Jahr 2019 eine Menge mitnehmen. Es gilt die Aufforderung der bekannten Wirtschaftswissenschafterin Joan Robinson, Marx als Nationalökonomen ernsthaft zu studieren, statt ihn „einerseits als unfehlbares Orakel und andererseits als Zielscheibe billiger Epigramme“ zu behandeln. Gerade der Wirtschaftswissenschaft würde es nach der Finanzkrise gut anstehen, mit einem undogmatischen Blick zu versuchen, das Beste aus allen Denkschulenzu verbinden.
Bewegungsgesetze des gesellschaftlichen Fortschritts entschlüsseln
Die ökonomischen Ansätze von Karl Marx müssen als Teil seines interdisziplinären Gesamtwerks verstanden werden und nicht als isolierte Theoriebausteine. Er war mehr Gesamt- denn Partialanalytiker und bestrebt, den Entwicklungsprozess menschlicher Gesellschaft einzufangen sowie dessen Bewegungsgesetze zu entschlüsseln. Marx begriff Ökonomie als gesellschaftliches Verhältnis mit starken Interessenkonflikten und leitete daraus wichtige Schlussfolgerungen ab. So sind die herrschenden Produktionsverhältnisse für ihn keine „natürliche“ Wirtschaftsordnung, sondern ein Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse, Auseinandersetzungen und Klassenkonflikte.
Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Entwicklung sind nach Marx die Produktionsverhältnisse, deren Motor Klassenwidersprüche sind. Marx war überzeugt, dass die Konflikte zwischen gesellschaftlichen Klassen zu Fortschritt und schließlich zu neuen Gesellschaftsformationen führen. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, lautet einer seiner meistzitierten Sätze. Unterschiedliche Interessen von Gruppen ergeben sich bei ihm aus der Stellung im gesellschaftlichen Produktions- und Verteilungsprozess – meist werden sie vereinfacht auf Arbeit und Kapital reduziert. Diese Perspektive kann WissenschafterInnen als Ausgangspunkt dienen, um die Entwicklung und Dynamik von Wirtschaftssystemen und der Verteilung des produzierten Reichtums näher zu beleuchten. Eine anschauliche Darstellung der Interessengegensätze bietet die funktionale Einkommensverteilung, die die Aufteilung des Volkseinkommens zwischen Arbeits- und Gewinneinkommen abbildet. Die sinkende Lohnquote in der Grafik zeigt den langfristig schrumpfenden Anteil der Lohnabhängigen am Volkseinkommen in Österreich.