Die Klimakrise ist keine Zukunftsprognose mehr, sondern beeinträchtigt bereits jetzt die Lebensperspektiven von Millionen Menschen rund um den Globus. Und sie ist im Bewusstsein der Menschen angekommen: Laut einer weltweiten Umfrage orten bereits zwei Drittel einen „globalen Notfall“. Der nächste Bericht des Weltklimarates wird ein weiterer Weckruf sein. Ein den Medien zugespielter Entwurf enthält dramatische Botschaften.
Dennoch: Die Klimakrise ist kein Schicksal, sondern eine Folge der Art und Weise, wie Milliarden Menschen produzieren und konsumieren. Beides ist mit Energieverbrauch verbunden, und beides gilt es auf erneuerbare Energiequellen umzustellen. Wir befinden uns dabei in einem Wettlauf zwischen der sich verschärfenden Erderhitzung und den Maßnahmen, die die Politik setzt. Ich bin optimistisch, dass wir diesen Wettlauf (noch) gewinnen können, denn der Hebel in Richtung klimaneutraler Wirtschaft ist umgelegt. Wir stehen am Beginn eines disruptiven Jahrzehnts. Mein Optimismus nährt sich aus verschiedenen, sich gegenseitig verstärkenden Entwicklungen, die dazu führen, dass die Nachfrage nach fossilen Energien – die Hauptquelle der menschengemachten Treibhausgasemissionen – massiv zurückgehen wird. Die fossile Industrie steht vor einer grundlegenden Transformation in Richtung Klimaneutralität.
1. Bahnbrechende Dokumente geben die Richtung vor
Es war ein Paukenschlag. Nach dem Klimaabkommen von Paris, dem IPCC-Sonderbericht vom Oktober 2018 und dem Grünen Deal der Europäischen Union folgt nun ein weiterer Weckruf für die fossile Industrie: Am 18. Mai 2021 veröffentlichte die Internationale Energieagentur (IEA) eine Roadmap zum Null-Emissions-Ziel 2050. Die Roadmap listet mehr als 400 sektorale und technologische Meilensteine auf, deren Einhaltung aus Sicht der IEA mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent eine Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5 Grad ermöglicht. Ab sofort darf es dazu weltweit keine Investitionen mehr in Kohlekraftwerke und die Erschließung neuer Erdöl- und Erdgasfelder geben, die Energieeffizienz muss schneller steigen als bisher, der Ausbau von Photovoltaik und Windkraft sich vervielfachen, der Anteil der Elektrofahrzeuge an den weltweit verkauften Autos bis 2030 bei 60 Prozent, bis 2035 bei fast 100 Prozent liegen uvm.
Die IEA-Roadmap ist die bisher deutlichste Warnung an die fossilen Energiekonzerne, dass ihre Geschäftsgrundlage keine Zukunft hat. Jahrzehntelang war die nach der Ölkrise 1974 gegründete Organisation im Grunde ein Sprachrohr der fossilen Energiekonzerne, beharrlich hat sie das disruptive Potenzial der erneuerbaren Energien unterschätzt. Das ist jetzt vorbei.
2. Das Potenzial der erneuerbaren Energien sprengt alle Erwartungen
Erneuerbare Energien werden zur wichtigsten Energiequelle. Viele Studien bestätigen, dass eine weltweite Umstellung auf erneuerbare Energien machbar ist (siehe hier, hier, hier). Zudem wird es auch in Zukunft technologische Durchbrüche geben (z. B. höherer Wirkungsgrad bei Solarzellen, effizientere Windkraftanlagen). Im Stromsektor ist der rasante Zubau an erneuerbaren Energien atemberaubend und wird sich fortsetzen.
Die IEA-Roadmap geht davon aus, dass im Jahr 2050 zwei Drittel der gesamten Energieversorgung durch Wind, Sonne, Bioenergie, Geothermie und Wasserkraft abgedeckt wird. Die Nutzung fossiler Brennstoffe geht massiv zurück und sinkt von vier Fünftel der gesamten Energieversorgung 2020 auf ein Fünftel im Jahr 2050. Der verbleibende Rest findet Verwendung in Kunststoffen, in Anlagen, die mit CCUS-Technologie (carbon capture, utilisation and storage) ausgestattet sind, und in schwer dekarbonisierbaren Sektoren. Die Atomenergie wird weiterhin eine Rolle spielen, von einer Renaissance kann aber keine Rede sein.
3. Gerichtsurteile erzwingen forcierten Klimaschutz
Das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVG) hat im März 2021 ein historisches Urteil gefällt. Deutschland muss seine Klimapolitik verschärfen, weil die bisherigen Ziele bedeuten, dass die junge Generation ab 2030 unverhältnismäßig in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt würde. Die Logik dahinter ist so einfach wie bahnbrechend: Je weniger Treibhausgase bis 2030 reduziert werden, desto steiler wird der Reduktionspfad nach 2030 ausfallen müssen, was womöglich nur „um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit“ erreicht werde könnte. Darauf aufbauend wurde das Klimaschutzgesetz rasch novelliert (Reduktion der Treibhausgasemissionen um 65 Prozent bis 2030 gegenüber 1990, Klimaneutralität schon 2045).
Im Mai 2021 folgte ein weiteres bahnbrechendes Urteil, das den britisch-niederländischen Konzern Shell zu mehr Klimaschutz verpflichtet. Das Urteil ist in zweifacher Hinsicht von historischer Bedeutung:
- Erstmals wird ein privater Konzern per Gerichtsurteil verpflichtet, seine CO2-Emissionen zu senken, und zwar um mindestens 45 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 2019.
- Erstmals werden auch die sogenannten Scope-3-Emissionen angesprochen, die auch Emissionen durch die Nutzung der verkauften Produkte des Unternehmens durch Endkonsumierende beinhalten. Das ist wichtig, weil Konzerne zunehmend versuchen, ihre Verantwortung für die CO2-Emissionen auf die KundInnen abzuwälzen. Ein schönes Beispiel lieferte OMV-Chef Seele mit den Worten: „Ich stelle das Benzin her, aber die Emissionen macht ihr.“
Shell-CEO Ben van Beurden hat bereits angekündigt, dass sich der Konzern dieser neuen Herausforderung stellen wird. Shell ist auch gut beraten, dieses Urteil ernst zu nehmen. Der Ölmulti gehört zu den Konzernen mit dem größten CO2-Fußabdruck und wusste bereits vor über 30 Jahren, was auf die Welt zukommt. Der Konzern entschied sich aber, dieses Wissen für sich zu behalten, und gründete stattdessen mit den anderen Ölmultis wie Chevron, BP und Exxon die Lobbyorganisation „Global Climate Coalition“, die leider sehr erfolgreich darin war, Zweifel am menschengemachten Klimawandel zu säen.
4. Emissionsfreie Mobilität kommt mit voller Wucht
Der beste emissionsfreie Verkehr ist der öffentliche Verkehr, der schon im hohen Maße elektrifiziert ist (Eisenbahn, U-Bahn, Straßenbahn, O-Busse). Dennoch wird die automobile individuelle Mobilität auch in Zukunft eine Rolle spielen, aber diese muss weitgehend emissionsfrei erfolgen. Der disruptive Wandel zur Elektromobilität hat begonnen und wird mithelfen, das Ölzeitalter zu beenden. Wir stehen kurz vor Erreichen jener Kipppunkte in Bezug auf Preis, Ladezeit und Reichweite, ab denen der Umstieg auf Elektroautos zu einem Massenphänomen werden wird. Und es gibt weitere Kipppunkte: Immer mehr Autokonzerne beschleunigen den Wandel zur Elektromobilität, immer mehr Staaten forcieren ein Verkaufsverbot für Verbrennerfahrzeuge bzw. haben dieses bereits beschlossen. Im Rahmen ihres „Fit for 55“-Pakets hat die EU-Kommission kürzlich vorgeschlagen, dass Neufahrzeuge ab 2035 kein CO2 mehr ausstoßen dürfen, was faktisch ein Zulassungsverbot für fossil betriebene Verbrennerfahrzeuge bedeuten würde“.
Von den vielen überzeugenden Argumenten für die batteriebetriebene Elektromobilität sticht eines besonders hervor: Abseits des öffentlichen Verkehrs gewährt kein anderes Antriebssystem einer großen Zahl privater NutzerInnen die Möglichkeit, sich bei der Ausübung ihrer individuellen Mobilitätsbedürfnisse zu einem beträchtlichen Ausmaß von den Energiekonzernen unabhängig zu machen. In Österreich lebten 2019 knapp 46 Prozent der Bevölkerung in Einzelhäusern, 7,5 Prozent in Doppelhäusern. Jedes Haus ist potenziell eine autarke Stromtankstelle – eine durchschnittliche Photovoltaikanlage am Dach liefert genug Energie für die täglichen Mobilitätsbedürfnisse der meisten Menschen.
Emissionsfreie Mobilität heißt nicht automatisch batteriebetriebene Mobilität. Es gibt drei nennenswerte Pfade in eine klimaneutrale Mobilitätszukunft: Batterie, grüner Wasserstoff/Brennstoffzelle, synthetische Kraftstoffe. Die Forderung nach Technologieoffenheit ist berechtigt, Kriterium muss aber die Effizienz sein. Energetische Basis aller nichtfossilen Antriebssysteme ist erneuerbarer Strom, und dieser muss so effizient wie möglich eingesetzt werden. Die Energieverluste von der Quelle bis zur Straße sind beim Elektroauto am geringsten; oder anders formuliert: Mit 15 kWh Primärenergieeinsatz bietet ein Batterieauto die größte Reichweite. Grüner Wasserstoff/Brennstoffzellen und/oder synthetische Kraftstoffe sollten vorrangig in schwer dekarbonisierbaren Mobilitätssektoren, wie bspw. in der Luftfahrt, im Schiffsverkehr, im Schwerlastverkehr und bei Baumaschinen, eingesetzt werden.
5. Die USA sind zurück und erkennen den Ernst der Lage
Mit Joe Biden hat ein US-Präsident die politische Bühne betreten, der mit Worten und Taten ein überzeugendes Gegenmodell zu der nicht nur klimapolitisch bleiernen Zeit der Trump-Ära darstellt. Die USA können den Ernst der Lage nicht mehr länger ignorieren. Biden spricht von einem entscheidenden Jahrzehnt, um die schlimmsten Folgen der Klimakrise zu vermeiden, und weiß, dass jetzt alles schneller gehen muss – vom Ausstieg aus der Kohle, dem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien bis hin zum Übergang zur Elektromobilität. Und den Worten folgen neue Ziele (Reduktion der US-Treibhausgasemissionen um mindestens 50 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 2005, 100 Prozent erneuerbaren Strom bis 2035, Klimaneutralität bis 2050) und Taten (siehe Clean Future Act und American Jobs Plan).
Noch stößt Biden bei der Umsetzung seiner Klimapläne auf erbitterten Widerstand der Republikaner, Widerstand gibt es aber auch in den eigenen Reihen. Die Hitzewelle in den USA und Kanada sowie die Warnung, dass dem Westen der USA eine Megadürre bevorsteht, spielen Biden in die Hände. Letztlich werden mehr und mehr US-BürgerInnen, die in der Klimafrage nach wie vor gespalten sind, anerkennen, dass es in der Klimapolitik nicht um Glaubensfragen, sondern ums schlichte Überleben geht.
6. Finanzmärkte werden zu einer transformativen Kraft in Richtung Klimaneutralität
Die Finanzwirtschaft entwickelt sich zu einem wichtigen Hebel im Kampf gegen die Klimakrise. Ausgehend von dem Konzept der „Kohlenstoffblase“ (Carbon bubble) ist mittlerweile anerkannt, dass enorme Mengen an Öl-, Gas- und Kohlevorkommen im Boden bleiben müssen, um die Klimaerhitzung auf ein noch erträgliches Maß zu begrenzen. Damit ist die fossile Wirtschaft mit „gestrandeten Vermögenswerten“ (stranded assets) konfrontiert, was von den Finanzinvestoren aufmerksam registriert wird. Im Grunde hat die fossile Industrie nur eine Chance: Sie muss sich glaubhaft und glaubwürdig als Partner auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft erweisen, um ihre Investoren nicht zu verlieren.
Von guten Beispielen lernen
Die angeführten Entwicklungen zeigen: Der Hebel ist umgelegt, der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft eingeleitet. Ich halte diese Entwicklungen für unumkehrbar und gehe sogar von einer Beschleunigung aus, auch wenn es zahlreiche Widerstände gibt. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ – die fossilen Energiekonzerne sind gut beraten, so rasch wie möglich den Umbau ihrer Geschäftsgrundlage in Richtung erneuerbare Energien, grüner Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe glaubhaft anzugehen. Zum Teil geschieht dies bereits, allerdings zeigen Untersuchungen, dass die bisher vorgelegten Klimapläne verschiedener Konzerne nicht mit dem Pariser Klimaziel kompatibel sind. Die beste Option für die fossilen Energiekonzerne ist die „Orsted-Option“: Der dänische Öl- und Gaskonzern schaffte den Übergang zum größten Offshore-Windunternehmen der Welt. Das sollte ein motivierendes Vorbild sein. Die Politik wiederum muss sicherstellen, dass der Übergang fair erfolgt und niemanden zurücklässt.