Wie kommt Wohlstand bei allen an? Zur aktuellen WIFO-Prognose

21. März 2024

Mit der Schätzung der Einkommensungleichheit und der Armutsgefährdung enthält die WIFO-Prognose neben den Treibhausgasemissionen nun zwei weitere neue Kennzahlen, um die ökonomischen, sozialen und ökologischen Veränderungen in naher Zukunft umfassender abzubilden. Um der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung, der steigenden Arbeitslosigkeit und Armutsgefährdung entgegenzuwirken, sollten rasch ein Beschäftigungs- und Qualifikationspaket geschnürt und öffentliche Investitionen vorgezogen werden – eine Kürzung der Lohnnebenkosten ist hingegen der falsche Weg.

Leichte Erholung 2024, aber Herausforderungen am Arbeitsmarkt

Das WIFO revidiert in der aktuellen Prognose das Wachstum leicht nach unten (reales BIP 2024: +0,2 Prozent; 2025: +1,8 Prozent). Getragen wird der schwache Aufschwung nach wie vor von der Erholung der Haushaltseinkommen, die dank der hohen Kollektivvertragsabschlüsse und ferner der Indexierung vieler Sozialleistungen steigen. Die Inflationsrate sinkt schneller als gedacht und soll bis 2025 auf 2,7 Prozent zurückgehen.

Schwieriger wird die Lage am Arbeitsmarkt: Die Zahl der Arbeitslosen (inkl. Schulungsteilnehmer:innen) wird heuer gemäß WIFO auf 360.800 Personen ansteigen (+19.000 Personen gegenüber 2023) – das ergibt eine Arbeitslosenquote gemäß AMS von 6,7 Prozent im Jahr 2024. Besonders problematisch ist der Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit, die um 11,8 Prozent gestiegen ist.

Neue Kennzahlen über die Verteilung der Einkommen in der WIFO-Prognose

Die Konjunkturprognose des WIFO beinhaltet wichtige Kennzahlen über die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft, allen voran das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die zentrale Stellung dieses Indikators ist jedoch im 21. Jahrhundert (neuerlich) stark in Kritik geraten, weil er eine wichtige gesellschaftliche Frage nur unzureichend beantworten kann – nämlich wie es um die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in einem Land bestellt ist. Würde an diesem Leitindikator in der wirtschaftspolitischen Steuerung festgehalten werden, könnte dies zu fehlgeleiteten Politiken führen, die insbesondere soziale und ökologische Aspekte zu wenig berücksichtigen.

Aus der Kritik entstand eine Vielzahl an Versuchen, sogenannte Beyond-GDP-Indikatoren („Jenseits des BIPs“) zu entwickeln, in Österreich etwa im Rahmen des AK-Wohlstandsberichtes. Zusätzliche Indikatoren, die Aspekte wie soziale Gerechtigkeit oder Umweltschutz umfassen, sollen ein umfassenderes Bild über das Wohlergehen der österreichischen Bevölkerung liefern und helfen, bessere und nachhaltigere politische Entscheidungen zu treffen. Auch das WIFO trug der Beyond-GDP-Debatte Rechnung, indem zum einen die anderen Hauptindikatoren der Prognose stärker thematisiert werden und zum anderen die Indikatorenliste erweitert wird. Den Beginn machte 2022 die Entwicklung der Treibhausgasemissionen – nun werden zwei weitere Kennzahlen eingeführt. Indikatoren zur Einkommensungleichheit und Armutsgefährdung geben Einblicke, wie die Einkommen in der österreichischen Bevölkerung verteilt sind, welche Einkommensgruppen von der Konjunkturentwicklung besonders profitieren und welche eventuell ins Hintertreffen geraten. So können frühzeitig soziale Schieflagen identifiziert und politische Maßnahmen abgeleitet werden.

Aufgenommen werden nun konkret folgende beiden Indikatoren:

  • Das Einkommensquintilsverhältnis (S80/S20): Es vergleicht das Einkommen der ärmsten 20 Prozent der österreichischen Bevölkerung mit dem der reichsten 20 Prozent und misst somit die Einkommensungleichheit. Im Jahr 2023 lag der prognostizierte Wert dieses Indikators bei 4,1. Das bedeutet, dass der Anteil des verfügbaren Nettoeinkommens (inklusive aller Transferleistungen) des reichsten Fünftels etwa 4,1-mal so hoch ist wie der Einkommensanteil des ärmsten Fünftels. Je größer dieser Wert ist, desto ungleicher ist die Einkommensverteilung. Nachteil des Indikators ist die fehlende Aussagekraft für die Mitte, weshalb etwa der AK-Wohlstandsbericht zusätzlich die Entwicklung des Einkommens genau in der Mitte der Verteilung beinhaltet.
  • Die Armutsgefährdungsquote: Sie gibt an, wie hoch der Anteil der Bevölkerung ist, dessen Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle liegt. Diese wird als Grenze von 60 Prozent des mittleren Einkommens in Österreich definiert. Je nach Einkommensentwicklung verschiebt sich die Mitte der Verteilung jährlich, wenn auch nur leicht. Im Jahr 2023 waren 14,2 Prozent der österreichischen Bevölkerung armutsgefährdet.

Die Verteilung der Einkommen in Österreich hängt von einer Vielzahl von unterschiedlichen Faktoren ab, wie etwa der Entwicklung der Beschäftigung, der Arbeitslosigkeit und der Löhne sowie der Höhe der Zinsen und der Inflation. Zudem spielen auch das Bevölkerungswachstum und die Verteilung von demografischen und sozioökonomischen Merkmalen innerhalb der Gesellschaft – wie etwa Alter, Geschlecht und die Haushaltsgröße – eine wichtige Rolle. Um diese Vielzahl an Variablen zu berücksichtigen, erfolgt die Prognose der Verteilungsindikatoren mithilfe des österreichischen EU-SILC-Datensatzes, der Bevölkerungs- und Haushaltsprognose der Statistik Austria, des Mittelfristgutachtens der Alterskommission und unter Berücksichtigung der klassischen Indikatoren der WIFO-Konjunkturprognose. Änderungen im österreichischen Steuer- und Transfersystem, wie etwa die Abgeltung der kalten Progression oder die Valorisierung der Sozialleistungen (z. B. der Familienbeihilfe und des Kinderbetreuungsgeldes) erfolgen mithilfe des Mikrosimulationsmodells EUROMOD.

Ungleichheitsmaße: stabile Werte über den Zeitverlauf, aber teilweise hohe relative Änderungen

Die ersten Prognoseergebnisse der beiden neuen Indikatoren zeigen, dass die Indikatorenwerte zwischen 2020 und 2025 relativ stabil bleiben und auf den ersten Blick nur leichte Trends erkennbar sind. Das hat vor allem damit zu tun, dass es sich um Verhältnisgrößen handelt: Um den Wert des Einkommensquintilsverhältnisses (Prognosewert für 2022: 4,02) beispielsweise um 0,4 zu senken, müssten die Einkommen des unteren Fünftels um ca. 20 Prozent steigen, wenn jene des obersten Fünftels im durchschnittlich prognostizierten Ausmaß von nominell 7,8 Prozent zulegen.

Betrachtet man die relativen Veränderungen der Kennzahlen zum Vorjahr lassen sich jedoch einige interessante Entwicklungen beobachten. Sowohl die Einkommensungleichheit als auch die Armutsgefährdung sind 2022 (im Vergleich zum Vorjahr) durch das Ende der Pandemie deutlich gesunken. 2023 ist jedoch sowohl die Armutsgefährdungsquote als auch die Einkommensungleichheit wieder leicht gestiegen. Insbesondere die steigende Armutsgefährdungsquote könnte durch die sich verschärfende Lage am Arbeitsmarkt erklärt werden. Die Prognosewerte für 2024 und 2025 zeigen nur relativ geringfügige Veränderungen der beiden Indikatoren an.


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Bei einer Betrachtung der Indikatoren über eine längere Zeitreihe lässt sich jedoch festhalten, dass trotz Krisen in den letzten Jahren bei beiden Ungleichheitsindikatoren mittelfristig nur verhältnismäßig geringe Veränderungen zu beobachten waren. Einerseits unterstreicht das die wichtige Sicherungsfunktion eines funktionierenden Sozialstaats durch die Umverteilung und Stabilisierung der Einkommen. Andererseits ist zu beachten, dass die gewählten Indikatoren für spezifische Fragestellungen zu den besorgniserregenden Entwicklungen der letzten Jahre allein nicht geeignet sind. So können sie etwa keine Auskunft darüber geben, inwieweit das Einkommen zur Deckung der wichtigsten Grundbedürfnisse ausreicht oder wie sich die absolute Armut entwickelt. Dies ist insbesondere in Anbetracht der hohen Teuerung problematisch, die sich bei niedrigem Einkommen deutlich stärker auswirkt, weil hier nicht einfach weniger gespart werden kann.

So wird etwa die schwierige Situation von (Langzeit-)Arbeitslosen nur unzureichend abgebildet, deren Lage sich durch das niedrige und nicht valorisierte Arbeitslosengeld (und Notstandshilfe) in Kombination mit den hohen Teuerungsraten in den letzten Jahren zusehends verschärft hat. Die Betroffenheit spezifischer Gruppen wird bei der alleinigen Betrachtung von einzelnen aggregierten Ungleichheitsmaßen nicht sichtbar. Dennoch ist die Integration der beiden Indikatoren ein erster wichtiger Schritt, um gravierende Entwicklungen bei der Verteilung der Einkommen frühzeitig zu erkennen und geeignete politische Schritte setzen zu können. Ein genauer Blick auf die dahinterliegenden Mechanismen und Dynamiken bleibt jedoch unabdingbar.

Steigender Arbeitslosigkeit entgegenwirken

Die neue Prognose zeigt, dass die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eingetrübt bleibt. Mehr Fortschritte gab es zuletzt bei den Treibhausgasemissionen, doch auch hier stockt nun der weitere Abbau. Um die Konjunktur anzukurbeln und der angespannten Situation am Arbeitsmarkt bzw. der verlangsamten CO2-Reduktion entgegenzuwirken, sind politische Initiativen über das Wohnbaupaket hinaus unerlässlich.

Ein Vorschlag, der zuletzt von manchen gefordert wurde, ist eine Kürzung der Lohnnebenkosten. Dies ist aber der falsche Weg. Die aktuelle Forschung zeigt, dass Unternehmen diese Kostensenkung großteils nicht an die Beschäftigten weitergeben, unter anderem weil diese von den Arbeitsmarktbedingungen abhängt. Gleichzeitig besteht ein Großteil der Lohnnebenkosten aus wichtigen Sozialversicherungsleistungen wie etwa Kranken-, Pensions- und Arbeitslosenversicherung sowie Familienleistungen, die den Arbeitnehmer:innen direkt zugutekommen. Bei einer Kürzung – ohne gleichzeitige Einführung neuer Finanzierungsquellen – droht die Gefahr niedrigerer oder schlechterer Familien-, Pflege- und Gesundheitsleistungen. Dies könnte auch die Nachfrage und die Beschäftigung beeinträchtigen.

Ein gut funktionierender Sozialstaat, insbesondere in den Bereichen Gesundheit und soziale Sicherheit, ist ein klarer Standortvorteil Österreichs. Zudem hat Österreich in den letzten Jahren bereits viele Subventionen intransparent an Unternehmen vergeben, eine Kürzung der Lohnnebenkosten wäre ein weiteres Geschenk mit der Gießkanne ohne klare Vorgaben.

Wichtiger wären derzeit mehr öffentliche Investitionen, die Beschäftigung direkt ankurbeln und den sozialökologischen Umbau vorantreiben. Wenn der Konsum weiter gestärkt werden soll, kann dies etwa durch eine Neugestaltung der Familienleistungen erreicht werden, z. B. durch die Umgestaltung des Familienbonus Plus von einem Freibetrag, der Besserverdienenden mehr nützt, zu einer Erhöhung der Familienbeihilfe, die auch geringverdienenden Familien voll zugutekommt, deren Sparquoten niedriger sind. Das Arbeitslosengeld muss erhöht werden, um fortschreitende Verarmung von Langzeitarbeitslosen zu verhindern und Menschen die Möglichkeit zu geben, Arbeit zu finden, die zu ihrer Qualifikation passt.

Ein Beschäftigungs- und Qualifizierungspaket ist nötig

Die steigende Arbeitslosigkeit erfordert ein Maßnahmenpaket, das auf Beschäftigung und Qualifizierung fokussiert ist. Je mehr Menschen in einen gut bezahlten Job mit guten Arbeitsbedingungen wechseln können, desto höher der Wohlstand. Gemeinsam mit guten kollektivvertraglichen Lohnabschlüssen kann zudem die Einkommensungleichheit gesenkt werden.

Die Bundesregierung setzt mit dem jüngst verkündeten Konjunkturpaket „Wohnraum und Bauoffensive“ einen ersten Impuls für die Sicherung von Beschäftigung und leistbaren Wohnraum. Eine Milliarde ist für drei Jahre jedoch zu wenig. Auch bei den Klimainvestitionen bleibt viel zu tun. Eine Sanierungsoffensive auch für öffentliche Gebäude sowie der Ausbau des öffentlichen Verkehrs und der Energienetze würde die Konjunktur stärken und die Treibhausgasemissionen reduzieren. Allein für den Um- und Ausbau des öffentlichen Vermögens (Verkehr, öffentliche Gebäude, Energie) besteht in Österreich ein Potenzial von 87 Milliarden Euro; v.a. ab 2025 sollten die kommunalen Investitionen stärker gestützt werden, da der kommunale Investitionsfonds ausläuft.

Der Ausbau der Pflege und des Bildungssektors inkl. Kinderbetreuung stärkt die Beschäftigung doppelt: durch die unmittelbar neu Beschäftigten und indirekt, indem aufgrund von Betreuungspflichten unfreiwillig Teilzeit oder gar nicht Arbeitende ihre Erwerbstätigkeit ausweiten können. Das wirksamste Mittel gegen steigende Langzeitarbeitslosigkeit ist zudem die Schaffung geeigneter Jobs. Erfolgreiche Initiativen wie das Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal (MAGMA) schaffen sinnvolle Beschäftigung in den Kommunen, um Langzeitarbeitslose erfolgreich in den Arbeitsmarkt zu integrieren und lokale Bedürfnisse wie Grünraumpflege, Alltagsbegleitung für ältere Menschen etc. zu befriedigen.

Im Bereich der Qualifizierung sollten mehr Fachkräfte u. a. für die Energiewende ausgebildet werden, z. B. durch den Ausbau und Ausrollung des Öko-Boosters auf ganz Österreich. Damit werden junge Arbeitslose in zwei Jahren zu Elektriker:innen und Installateur:innen ausgebildet und intensiv begleitet. In Klimaschutz-Ausbildungszentren wie in Niederösterreich können sich arbeitslose Erwachsene weiterbilden. Zudem braucht es aktive Arbeitsmarktmaßnahmen und niederschwellige Angebote für arbeitslose als auch erwerbstätige Personen, sich weiter zu qualifizieren. Denn Österreich zeichnet sich als starker Wirtschaftsstandort insbesondere durch die sehr gut ausgebildeten Arbeitskräfte und die damit verbundene hohe Qualität der Produkte aus – und nicht durch möglichst niedrige Lohnkosten.

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