Arbeitskräfteknappheit senkt die Lohnungleichheit – wenn sie genutzt wird!

16. Februar 2024

In Österreich kam es ab zirka 2015 zu einer Trendwende bei der Lohnungleichheit: Nach knapp 20 Jahren steilem Anstieg geht sie seitdem zurück. Gleichzeitig hat sich der Arbeitsmarkt gedreht: Er ist zunehmend von Arbeitskräfteknappheit geprägt, was die Verhandlungsmacht der Arbeitenden stärkt. In Österreich ist es gelungen, auch die kollektivvertragliche Verhandlungsmacht für Lohngewinne für breite Schichten zu nutzen. Das senkt die Ungleichheit und sollte Leitlinie der Arbeitsmarktpolitik sein: Arbeitende und Arbeitslose in ihrer Verhandlungsmacht stärken und Übergänge in gut bezahlte, sinnstiftende Jobs unterstützen.

Ungleichheit

Vermögen, Einkommen und auch Löhne sind ungleich verteilt. Seit den 1980er-Jahren diskutieren Sozialwissenschafter:innen über die Gründe, warum auch die Schere zwischen Besser- und Geringverdienenden immer weiter auseinandergeht. Worüber sie sich aber über Jahrzehnte einig waren: Die Ungleichheit ist in allen diesen Dimensionen gestiegen.

Von mindestens 1995 bis 2011 war das auch in Österreich so, hat sich dann aber im Bereich der Löhne verändert: Die Ungleichheit verharrte auf hohem Niveau, ehe sie ab 2017 klar zurückging. Das zeigen die Daten aus dem Einkommensbericht des Dachverbands der Sozialversicherungsträger, in dem jährlich die Dezile der Lohnverteilung veröffentlicht werden – also der höchste Lohn im unteren Zehntel, der unteren 20 Prozent, der unteren 30 Prozent und so weiter. Er zeigt einen realen Rückgang der durchschnittlichen Löhne im unteren Einkommensbereich, der vor allem auf die starke Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung zurückzuführen ist. Aber auch in der Mitte der Verteilung, die weit stärker von Vollzeitbeschäftigten geprägt ist, stiegen die Löhne nur verhalten.

© A&W Blog


Eine wichtige Kennzahl für Lohnungleichheit ist das 90-10-Verhältnis, also das Wievielfache jemand im obersten Zehntel von einem Lohn im unteren Zehntel verdient. 1995 waren die Löhne im obersten Zehntel mindestens 3,7-mal so hoch wie bei den unteren zehn Prozent, zwanzig Jahre später schon um das 4,4-Fache höher. Seit 2015 geht der Wert aber kontinuierlich zurück, ein Viertel der seit 1995 hinzugekommenen Ungleichheit wurde wieder aufgeholt.

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Diese Daten beschreiben die Jahresbruttoeinkommen. Das ist spannend, weil hier Ungleichheit aufgrund von Teilzeit- und Saisonbeschäftigung mitgerechnet wird. Die Trendwende bei der Lohnungleichheit ist auch bemerkenswert, weil andere Dimensionen sozialer Ungleichheit in Österreich zuletzt nicht gesunken sind. Die Ungleichheit bei den Netto-Haushaltseinkommen (wo auch Kapitaleinkommen miteinberechnet werden) ist seit mehr als einem Jahrzehnt quasi unverändert. Außerdem ist die Vermögenskonzentration in Österreich eine der höchsten Europas.

Arbeitskräfteknappheit

In derselben Zeit hat sich auch der österreichische Arbeitsmarkt verändert. Seit 2015 sinkt die Zahl der Arbeitslosen pro offener Stelle – ein Indikator für die Verhandlungsmacht von Berufseinsteiger:innen, da es einen Unterschied macht, ob durchschnittlich 11 (2014) andere Bewerber:innen oder nur eine:r (2022) im Rennen sind.


Grafik. Arbeitslose pro offener Stelle © A&W Blog
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Zudem wechseln mehr Arbeitende den Job mit entsprechendem Lohngewinn und wird die Ungleichheit bei der Arbeitszeit geringer: Zum einen gehen die Überstunden der Vollzeitbeschäftigten zurück, zum anderen steigt die Zahl der Wochenstunden von Menschen, die Teilzeit arbeiten. So kommt es zu einer schrumpfenden Differenz beim Beschäftigungsausmaß der Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten.

Arbeitskräfteknappheit ist das Gegenteil von Arbeitslosigkeit. Das sollte prinzipiell schon zur Beliebtheit des Begriffs beitragen, ist aber auch der Schlüssel zu einem höheren Lohnniveau, zur Verringerung von Lohnungleichheit und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Arbeitskräfteknappheit stärkt nämlich die Verhandlungsmacht der Arbeitenden genauso wie Arbeitslosigkeit sie unterminiert.

Verhandlungsmacht ist der Schlüssel zu höheren und gleicheren Löhnen

Größere Verhandlungsmacht der Arbeitenden steigert die Bereitschaft der Firmen, bessere Arbeitsbedingungen zu bieten. Dieses Potenzial kann in Hinblick auf die Löhne auf verschiedene Arten kanalisiert werden: steigende Lohnuntergrenzen in den Branchen durch zentralisierte Lohnverhandlungen, individuelle Überzahlung oder lohnsteigernde Jobwechsel durch individuelle Verhandlungen. Möglich sind auch Angleichungen der Arbeitsstunden und dementsprechend der Jahresverdienste zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten.

Im österreichischen System der zentralisierten Kollektivvertragsverhandlungen gelingt es eher, einen größeren Anteil des neu gewonnenen Lohnpotenzials in Erhöhungen für alle zu leiten als in Ländern mit dezentralen Arbeitsbeziehungen. Erhöhungen aller Ist-Löhne oder der Lohnuntergrenzen in den Kollektivvertragsstufen nehmen alle Arbeitenden mit, nicht nur diejenigen, die sich in Einzelverhandlungen mit der Unternehmensführung durchsetzen. Abschlüsse mit höheren Lohnsteigerungen für niedrige Gehälter oder bei Lehrlings- und Einstiegsgehältern reduzieren die Ungleichheit zusätzlich.

Arbeitsmarktübergänge müssen gestaltet werden

Es ist auffällig, dass die Trendwende bei der Ungleichheit mit der Trendwende beim Stellenandrang zeitlich zusammenfällt. Wenn Unternehmen sich im Wettbewerb um Arbeitskräfte bemühen müssen, ist das gut für die Arbeitenden. Es ermutigt Menschen, sich Jobs zu suchen, in denen sie besser bezahlt werden, bessere Arbeitsbedingungen vorfinden und die sie als sinnstiftend empfinden. Ein Arbeitsmarkt, auf dem Arbeitende und Arbeitslose mehr Wahlfreiheit haben, ermöglicht eine Verschiebung zu mehr gesellschaftlich sinnvoller Arbeit in der ökologischen Transformation und der bezahlten Sorgearbeit.

Dieser Prozess muss aber bewusst gestaltet werden. Eine Verschiebung zu besser bezahlten Jobs zum Beispiel senkt zwar die Lohnungleichheit, führt aber zur Abwanderung aus schlecht bezahlten, aber systemrelevanten Bereichen der Sorgearbeit. Hier braucht es politische Interventionen, die Löhne zu heben und Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Selbst gestaltete Verteilungspolitik 

Besonders spannend an Arbeitspolitik ist, dass sie zu großen Teilen von den Beschäftigten und ihren Organisationen selbst gestaltet wird. Betriebliche Organisierung, gewerkschaftliche Strukturen, Warnstreiks und Lohnverhandlungen prägen die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen. Dass die Arbeitskräfteknappheit in Österreich nicht zu neuen Ungleichheiten führte, ist ein größerer Verdienst der zentralisierten KV-Verhandlungen als von Regierungsinitiativen.

Dieser Bereich wird aktiv beforscht, aber gerade im Zusammenhang mit Ungleichheit sind noch viele Fragen offen. Vieles deutet darauf hin, dass zentralisierte Verhandlungen und branchenübergreifend solidarische Ziele die Ungleichheit senken. Zur Aufwertung von Sorgearbeit tragen zum Beispiel mutige Forderungen der Arbeitenden im Sozialbereich bei. Die Schere zwischen Männer- und Frauengehältern kann auch dadurch geschlossen werden, dass Branchen mit hohem Frauenanteil hohe Gehaltsabschlüsse erzielen und bei Verhandlungen breite Unterstützung bekommen.

Gleichzeitig wird es nötig sein, zentrale und koordinierte Verhandlungen zu schützen. Einwürfe von außen an die Gewerkschaften, die Verhandlungen aufzuteilen oder mehr Ausnahmen für Einzelbetriebe zu erlauben, können maximal Vorschläge sein. In Summe überwiegen die Nachteile für Arbeitende, wenn die individuellen Bedürfnisse der Firmen über die Kollektivität der Kollektivverträge gestellt werden.

Verteilungspolitik von oben

Initiativen seitens der Beschäftigten müssen zumindest abgesichert werden. Kluge Arbeitspolitik ermöglicht und vereinfacht Verteilungspolitik und die Trendwende hin zur Sorgearbeit und ökologischen Jobs.

Verändernde Arbeitsmarktpolitik nimmt Übergänge in den Fokus und hilft Menschen, die in gut bezahlte und sinnstiftende Jobs wechseln wollen. Sie unterstützt auch die Verhandlungsmacht von Arbeitsuchenden, schaut auf die aktivierbaren Arbeitsmarktpotentiale von entmutigten Arbeitenden und denen, die unfreiwillig nur wenige Stunden arbeiten.

  • Arbeitslose finden besser passende Jobs, in denen sie auch länger bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Auch die Bezugslänge der Arbeitslosenleistungen verbessert ihre Situation. Kürzungen oder Umschichtungen des Arbeitslosengeldes schwächen dagegen die Verhandlungsmacht gerade von denen, die schon länger keinen Job finden und besonders den Rücken gestärkt brauchen.
  • Es gibt bis zu 300.000 Menschen in Österreich, die arbeiten wollen, aber durch Betreuungspflichten, Entmutigung und Einstiegshürden vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Sie brauchen gut ausgestattete Unterstützung bei der Arbeitsuche, sodass soziale Infrastruktur in der Betreuung und Arbeitsuche kein Widerspruch sind.
  • Ein Recht auf Umorientierung für alle, also geförderte Weiterbildung und Beratung, auch während Menschen noch nicht beschäftigt sind, bieten die nötige Unterstützung, um in besser bezahlte und oft auch sinnstiftende Arbeit zu wechseln.

Eine fortschrittliche Arbeitspolitik stärkt außerdem die Verhandlungsmacht von Arbeitenden, wenn sie absichert und ermächtigt, durch:

  • eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung, die Möglichkeiten für alle eröffnet, die jetzt am Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden, wenn sich Unternehmen umstellen müssen, um Arbeitende zu finden. Das sind vor allem Menschen mit Gesundheitsproblemen, Arbeitende mit Betreuungspflichten, Migrant:innen und ältere Arbeitsuchende;
  • politische Interventionen, um gruppenspezifische Ungleichheit zu reduzieren, also Stärkung von Frauen oder nach Pass oder Hautfarbe diskriminierte Beschäftigte, für erste Gruppe beispielsweise durch Aufwertung von frauendominierten Sozial- und Pflegeberufen insbesondere bei den Löhnen, ein Ausbau der kostenlosen Kinderbetreuung und eine gerechtere Aufteilung der unbezahlten Arbeit.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und gekürzte Fassung des Editorials der Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“, 2023, Band 49, Nr. 4. In dieser Ausgabe finden sich u. a. interessante Beiträge über die gesellschaftlichen Kosten von frühen Schulabbrüchen sowie über den Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktposition und Staatsbürger:innenschaft.

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