Sozialpartnerschaft – ein zeit­gemäßes Instrument der Konflikt­lösung?

12. Februar 2025

Die Lösungskompetenz der Sozialpartnerschaft nahm in den letzten Jahrzehnten sichtbar ab. Doch die Kritik am Korporatismus, die heute primär von rechts kommt, spiegelt vor allem ein mangelndes Verständnis für kollektive Lösungen, die dem Gemeinwohl dienen. Will die Sozialpartnerschaft wieder wirkungsmächtig werden, so muss sie herzeigbare Kompromisse bei den drängenden Themen der Zeit finden: etwa in Bezug auf die Industriepolitik, die notwendige sozial-ökologische Transformation, die Ungleichheit in den Lebensbedingungen oder das schwächelnde Produktivitätswachstum.

Wie steht es um die Sozialpartnerschaft?

Das Fehlen frühzeitiger und koordinierter Maßnahmen gegen die Klimakrise und die damit einhergehende Verschlechterung der Lebensbedingungen oder gegen die zunehmende Ungleichheit und die damit verbundenen Gefahren für die Demokratie; zwar erfolgreiche Einigungen zwischen den Verbänden, die finanziell aber zulasten des Staatshaushalts gehen; das Scheitern der Regierungsverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS: Drei Beobachtungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen, die auf eine abnehmende Lösungskompetenz der Sozialpartnerschaft hindeuten. Diese scheint die beste Zeit hinter sich zu haben.

Diese Diagnose steht in bemerkenswertem Gegensatz zum hohen Vertrauen und den hohen Zustimmungsraten, die sowohl die Sozialpartnerschaft als auch ihre Institutionen regelmäßig in Umfragen genießen. Sie steht auch im Gegensatz zur wirtschaftlichen und sozialen Erfolgsgeschichte Österreichs seit den 1950ern, an der die Sozialpartnerschaft elementaren Anteil hatte. Österreich wurde vom Armenhaus Europas zu einem der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder der Welt mit einem gut ausgebauten Sozialstaat, hohem Wohlstand und einer stabilen Demokratie. Der Erfolg der Sozialpartnerschaft beruhte auf vielen Pfeilern.

Erfolgspfeiler der österreichischen Sozialpartnerschaft

Das war zunächst die Überzeugung, dass eine Politik, die auf Kompromiss statt auf Konflikt beruht, zu mehr Stabilität und wirtschaftlichem Erfolg für alle führt. Sozialpartnerschaft fußte dabei nicht auf der Annahme der Absenz von Gräben, sondern auf dem Bemühen, Brücken zu errichten. Unterschiedliche Interessen von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen werden nicht vertuscht, sondern benannt und dennoch wird nach gemeinsamen Lösungen gesucht, die das Ganze im Auge haben. Der Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen steht damit im Mittelpunkt der Sozialpartnerschaft. Dieser Ausgleich beinhaltet auch den Anspruch, die gefundenen Kompromisse nach innen und nach außen zu vertreten. Und er beinhaltet den Grundsatz, die Kosten gemeinsam erzielter Kompromisse nicht auf Dritte abzuwälzen. Die Internalisierung dieser Kosten ist ein Wesensmerkmal funktionierender Sozialpartnerschaft und eine wichtige Erfolgsdeterminante. Sie ist Teil des Interessenausgleichs, dessen Verlust die Handlungsgrundlagen der korporatistischen Beziehungen gefährden würde.

Korporatismus ging in Österreich aber stets weit über den Interessenausgleich hinaus. Sozialpartnerschaft versteht sich auch als Bereitstellerin öffentlicher Güter; etwa in Fragen der Politik und der Institutionen des Arbeitsmarktes (AMS), der sozialen Sicherheit, der Gesundheitsversorgung (Selbstverwaltung), des Qualifizierungssystems (duale Ausbildung und Weiterbildung), aber auch der gemeinsamen Grundfinanzierung der Wirtschaftsforschung und der Mitarbeit in wirtschafts- und sozialpolitischen Gremien der Republik. Dies sichert das Fachwissen in den entsprechenden Institutionen, erhöht das gemeinsame Verständnis von Fakten und Zusammenhängen und erleichtert Interessenausgleich und Kompromissfindung. Und es stärkt die partizipative Demokratie, die in korporatistischen Systemen die repräsentative Demokratie ergänzt.

Kollektivvertragspolitik: Kern der Sozialpartnerschaft

Interessenausgleich und Kompromissfindung fanden über Jahrzehnte ihre Blüte in der Kollektivvertragspolitik. Jedes Jahr werden 450 Kollektivverträge abgeschlossen, insgesamt verfügen 98 Prozent der unselbstständig Beschäftigten über einen Kollektivvertrag oder eine ähnliche Vereinbarung. Dabei geht es um den Ausgleich von Interessen bei ziemlich komplexen Fragen und Herausforderungen. Denn Löhne haben gesamtwirtschaftlich gesehen eine Doppelrolle: Einerseits beeinflussen sie Kosten und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, andererseits stellen sie die wichtigste Einkommensquelle der Haushalte und somit den entscheidenden Faktor für die Kaufkraft dar. Die Kaufkraft ist wiederum die Grundlage für die Einnahmen von Unternehmen und soll stabilisierend auf die Gesamtnachfrage wirken. Diese Aufgaben hat die Kollektivvertragspolitik über Jahrzehnte hervorragend gemeistert. Produktivität und Reallöhne stiegen über die Jahrzehnte stärker als in anderen europäischen Ländern. Sie kann als Kern des Erfolgs des österreichischen Wirtschaftsmodells gelten, gerade auch für die exportorientierte Industrie.

Der Kollektivvertragspolitik ist es bis in die letzten Jahre immer wieder und verlässlich gelungen, pragmatisch und flexibel gegenüber den wirtschaftlichen Herausforderungen der Zeit zu agieren und eine Vielzahl von innovativen Neuerungen zu setzen. Man denke nur an moderne Formen der Arbeitszeitverkürzung wie die Freizeitoption oder an die Förderung von Aus- und Weiterbildung.

Grenzen und Gefährdungen der Handlungsgrundlagen

In der Teuerungskrise seit 2022 zeigten sich allerdings recht abrupt die Grenzen der Kollektivvertragspolitik, wenn diese nicht von einer guten makroökonomischen Politik begleitet wird. Die Bundesregierung war nicht bereit, über die aus dem Budget finanzierte Strompreisbremse hinaus aktiv in Preise etwa für Energie, Wohnen oder Grundnahrungsmittel einzugreifen. Damit schlugen die hohen Energiepreise voll durch und die Inflationsrate lag über mehr als zwei Jahre deutlich über dem Durchschnitt der Euroländer. Gleichzeitig brach die Wirtschaftsleistung ein, Budgetdefizit und Arbeitslosigkeit stiegen kräftig. Dies steht im eklatanten Gegensatz zu Politik und gesamtwirtschaftlicher Entwicklung im Energiepreisschock der 1970er Jahre, als die Preisregulierung der Sozialpartner wesentlich zur sehr erfolgreichen gesamtwirtschaftlichen Politik beitrug.

Die hohe Inflation 2022–24 stellte die Kollektivvertragspolitik vor die nahezu unlösbare Aufgabe, Kaufkraft und preisliche Wettbewerbsfähigkeit in Übereinstimmung zu bringen. Sie versuchte es mit Innovationen wie zweijährigen Abschlüssen (zur Planungssicherheit), nach Einkommen differenzierten Abschlüssen (zur Konsumstärkung) und Öffnungsklauseln für Unternehmen mit hohem Personalkostenanteil (für mehr Flexibilität). Doch die im Konsens erzielten KV-Abschlüsse wurden im Nachhinein von der Spitze der Arbeitgeberseite als zu hoch kritisiert und damit die eigenen Verhandler:innen desavouiert. Zudem wurde eine ausgleichende Senkung der Lohnnebenkosten zulasten des Staatshaushalts verlangt. Die Handlungsgrundlagen sozialpartnerschaftlicher Politik sind gefährdet, wenn diese nicht mehr in der Lage ist, Kompromisse nach innen und außen zu verteidigen und sie der Versuchung unterliegt, Kosten auf Dritte abzuwälzen.

Rechtsregierungen schwächen Sozialpartnerschaft

In den ersten Jahrzehnten der Sozialpartnerschaft kam die Kritik primär von links: zu geringe Lohnerhöhungen und zu wenig Fortschritt in der betrieblichen Mitbestimmung, zu wenig Augenmerk auf die gesellschaftliche Gleichberechtigung von Frauen, zu geringer Stellenwert für Umwelt- und Klimaschutz. In den letzten Jahren wurde Kritik hingegen primär von rechts geübt: Die Sozialpartnerschaft wird als Bremse für dringend notwendige wirtschaftliche Reformen und die Entfaltung der Marktkräfte gesehen. Hinter der Kritik von rechter und neoliberaler Seite verbergen sich meist Partikularinteressen und mangelndes Verständnis für kollektive Lösungen, die den Anspruch haben, dem Gemeinwohl zu dienen und verbindliche Mindeststandards von Löhnen über Arbeitsbedingungen bis zu sozialer Absicherung zu setzen.

Deshalb erlebt die Sozialpartnerschaft auch ihre schwierigsten Stunden während rechter Regierungen. Etwa durch die Angriffe auf den Sozialstaat unter Schwarz-Blau ab 2000 (Pensionsreformpläne), Türkis-Blau ab 2017 (Sozialversicherung) und die derzeit drohende Koalition Blau-Schwarz, die die einseitige Durchsetzung von Kapitalinteressen zum wirtschaftspolitischen Programm erklärt.

Für die Sozialpartnerschaft bieten sich unterschiedliche Wege: Oft wird eine Konzentration auf die reine Vertretung der Interessen der Mitglieder (Lohnfindung und Arbeitsbeziehungen) vorgeschlagen, was die Sozialpartner in anderen sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen zu Lobbying-Organisationen wie andere auch werden ließe. Dem stehen die schlechten Erfahrungen in der Teuerungskrise ebenso entgegen wie die damit verbundene Stärkung der Stimmen jener, die über größere materielle Ressourcen verfügen. Also der Industriellenvereinigung und der internationalen Konzerne gegenüber den Klein- und Mittelbetrieben, die das Rückgrat der heimischen Wirtschaft bilden. Zudem wird eine Schwächung der partizipativen Elemente der Sozialpartnerschaft den durch schwachen Parlamentarismus, rudimentäre Unabhängigkeit der Medien, prekäre Lage des öffentlichen Diskurses und fehlendes Wahlrecht für einen erheblichen Teil der Bevölkerung ohnehin bedenklichen Zustand der Demokratie weiter beeinträchtigen.

Perspektiven

Soll das Gemeinwohl weiter im Fokus der Sozialpartner bleiben, so bedarf es – gerade nach dem Scheitern der Regierungsverhandlungen von ÖVP, SPÖ und NEOS – neuer Initiativen und Anstrengungen. Die Basis bilden die gesetzliche Mitgliedschaft in den Kammern, das Bekenntnis zum Ausgleich der Interessen und eine Orientierung am Gemeinwohl statt an Partikularinteressen. Notwendig sind aber vor allem das Aufgreifen der drängenden Themen der Zeit und Überlegungen, wie dabei die organisierte Zivilgesellschaft in einem offenen Dialog einbezogen werden kann.

Viele wirtschaftliche und soziale Herausforderungen warten auf gemeinsame Lösungen:

  • Die österreichische Industrie ist im internationalen Vergleich noch immer sehr stark und erfolgreich, hat aber bereits zwei Jahre Rezession hinter sich und erhebliche strukturelle Herausforderungen vor sich.
  • Eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation erfordert rasch Umstellungen des Mobilitäts- ebenso wie des Energiesystems, einen beschleunigten Strukturwandel der Industrie und eine Erneuerung des Aus- und Weiterbildungssystems.
  • Die Überwindung der Schwäche des Produktivitätswachstums verlangt nach raschen Reformen, z. B. im Bildungssystem und in der Digitalisierung, aber auch in der Arbeitsmarktpolitik und der Konjunkturpolitik.

Diese und viele andere Themen brauchen mutige Antworten auf gesamtwirtschaftlicher Ebene. Sie sind aber ohne kooperative Lösungen in den Betrieben nicht machbar. Gerade auf eine starke innerbetriebliche Sozialpartnerschaft wurde vielleicht in den letzten Jahren zu wenig Wert gelegt.

Die Sozialpartner müssen als Wissensorganisationen auf Fachwissen der Expert:innen und Erfahrungswissen der Mitglieder setzen und grundlagen- und faktenbasiert populistischen und wissenschaftsfeindlichen Tendenzen entgegentreten. Voraussetzung hierfür wären gemeinsame Werte und eine gemeinsame Vertrauensbasis jenseits (partei-)politischer Einstellungen, ein gemeinsames Verständnis makroökonomischer Kreislaufzusammenhänge, gemeinsame übergeordnete, längerfristige Orientierung und Ziele und ein Anspruch der aktiven Zukunftsgestaltung.

Angesichts der fundamentalen Zunahme der Unsicherheit in Wirtschaft und Gesellschaft sowie der immer drängenderen Krisen unseres Wirtschaftssystems wächst der Bedarf an kompetenten und verlässlichen Institutionen, die Stabilität geben und Reformen tragen. Ob die Sozialpartnerschaft in der Lage ist, an ihre große Tradition anzuschließen?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und gekürzte Fassung des Editorials der Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“, Band 50, Nr. 4. In dieser Ausgabe finden sich u. a. auch interessante Beiträge über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die ökonomische Lage der Medienbranche in Österreich sowie zum Zusammenhang von Green Finance und Treibhausgasemissionen in der EU.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung