Vor dem Hintergrund zunehmender globaler wirtschaftlicher und politischer Spannungen treten strategische Unabhängigkeit und Technologieführerschaft immer stärker in den Vordergrund industriepolitischer Debatten. Industrie- und standortpolitische Strategien einzelner Staaten oder Wirtschaftsverbünde sind der Versuch der Antwort auf diese Entwicklungen. Was können wir aus ihnen für die Entwicklung eigener Strategien lernen?
Industriepolitik, wie bitte?
Die Entwicklung von Industrien ist eine komplexe und vielschichtige Angelegenheit. Hinzu kommt noch, dass jenes Politikfeld, welches sich genau dies zur Aufgabe gesetzt hat, nicht klar und eindeutig von anderen Politikfeldern abgrenzbar ist. Unter Industriepolitik kann somit vieles verstanden werden: von der Steuerpolitik über Förderungen und Regelungen bis hin zu Grundlegendem wie Investitionen in die Bildungsinfrastrukturen oder den Bedingungen, zu denen geforscht wird. Demzufolge ist klar, dass Industriepolitik auch immer nur vor dem eigenen rechtlichen, kulturellen und institutionellen Umfeld verstanden werden kann. Industriepolitische Maßnahmen und ebenso Strategien müssen die nationalen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, in denen sie stattfindet, berücksichtigen. Blaupausen, die man versucht aus anderen Ländern zu übertragen, können somit auch kläglich scheitern. Was woanders funktioniert muss nicht zwangsläufig auch hierzulande gut gehen. Trotzdem kann man mit Blick über die Landesgrenzen hinweg vieles über industriepolitische Strategien lernen. Zum Beispiel, was grundsätzliche Hindernisse und Erfolgsfaktoren für industriepolitische Strategien sind.
Die wesentlichen Zielsetzungen industriepolitischer Strategien
Staaten entwickeln und verfolgen industriepolitische Strategien aus den unterschiedlichsten Gründen. Dies ist abhängig vom Entwicklungsgrad der Volkswirtschaft, der geografischen Lage oder der politischen Rahmenbedingungen. Technologieführerschaft in spezifischen Branchen oder Nischen, der Schutz strategischer Industrien, die Reduktion von Abhängigkeiten gegenüber Drittstaaten und noch vieles mehr können Gründe für die Entwicklung industriepolitischer Strategien sein. Besonders in Zeiten zunehmender globaler Unsicherheit, eines rapiden technologischen und gesellschaftlichen Wandels ist es für entwickelte Volkswirtschaften wichtig, die Innovationskraft und dadurch die Produktivität zu steigern. Dies soll neue Geschäftsfelder erschließen und die eigene Position in globalen Wertschöpfungsnetzwerken verbessern.
Zudem spielen industriepolitische Strategien eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen. Zum Beispiel erfordert die Klimakrise den Umbau fossiler Industrien hin zu nachhaltigen Technologien – unter enormem Investitions- und Finanzierungsbedarf. Gleichzeitig haben die geopolitischen Konflikte – Stichwort Verfügbarkeit von Gas – gezeigt, wie wichtig es ist, kritische Infrastrukturen, strategische Technologien und Schlüsselindustrien im eigenen Land zu stärken. Staaten setzen deshalb in ihren industriepolitischen Strategien zunehmend auf gezielte Maßnahmen, um strategische Sektoren wie die Halbleiterproduktion, erneuerbare Energien oder die Rüstungsindustrie zu fördern und damit ihre Unabhängigkeit zu stärken.
Ein weiterer wichtiger Grund für industriepolitische Strategien ist die Schaffung und Sicherung von Beschäftigung. Eine starke Industrie bietet nicht nur direkte Arbeitsplätze in Forschung und Innovation und in Produktionsbetrieben, sondern schafft auch zahlreiche indirekte Jobs in Zulieferbetrieben und im Dienstleistungssektor. Besonders in strukturschwachen Regionen kann gezielte Industriepolitik dazu beitragen, wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln und soziale Ungleichheiten zu verringern. Zudem erfordern neue Technologien und Industriezweige oft eine Umschulung der Arbeitskräfte, wofür staatliche Unterstützung essenziell ist. Durch Investitionen in Bildung, Forschung und Qualifizierungsprogramme können Staaten sicherstellen, dass ihre Bürger:innen über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, um in einer sich wandelnden Wirtschaft nachhaltig wettbewerbsfähig zu bleiben.
Was behindert und was unterstützt eine strategische Industriepolitik
Wirft man einen Blick in die lange Geschichte industriepolitischer Strategien in Industrieländern, stößt man auf verschiedenste Hindernisse und Faktoren, die eine erfolgreiche Industriepolitik unterstützen. Wirtschaftliche Hürden, wie Ressourcenknappheit und hohe Investitionskosten, haben oft erhebliche Auswirkungen auf die tragfähige Umsetzung von Industriestrategien. Politische und regulatorische Herausforderungen ergeben sich darüber hinaus aus fehlender oder erratischer Unterstützung und politischer Inkonsistenz zwischen Strategien, Regelungen und Maßnahmen, während organisatorische und technische Barrieren durch unzureichendes Fachwissen, Widerstand gegen Veränderungen und Infrastrukturdefizite entstehen.
Meta-Analyse der in der Literatur meistgenannten Barrieren und deren Auswirkung
Barriere | Auswirkungen[1] | Beispiele |
Mangel an zielgerichteten Maßnahmen | hoch | Unzureichende staatliche Regulierung, Mangel an Anreizen, Gießkannenförderung |
Regulatorische Unzulänglichkeiten & uneinheitliche Politik | hoch / moderat | Überholte Vorschriften, Fehlen von Normen, Mangel an koordinierten nationalen Politiken |
Ressourcenknappheit | hoch | Mangelnde Finanzierung, begrenzte Verfügbarkeit von Kapital |
Hohe Kosten | hoch | Investitionskosten, Infrastrukturbauten, Anpassungskosten |
Marktbezogene Barrieren | moderat | Investitions- und Preisrisiken, Pfadunsicherheiten, Konflikte mit finanziellen Gewinnen |
Energiepreise | hoch | Schwankende Energiepreise, Preise mit Auswirkungen auf die Effizienz, Investitionen, Versorgungssicherheit |
Mangel an technischem Wissen | moderat | Unzureichendes Fachwissen, Mangel an Ausbildung |
Widerstand gegen den Wandel | hoch | Organisatorische Trägheit, Angst vor Unterbrechungen |
Unzureichende Infrastruktur | hoch | Mangel an technologischer Infrastruktur (Wasserstoff), Bedarf an Nachrüstung |
Informationsbarrieren & Managementfragen | moderat | Mangel an Informationen, schlechte Kommunikation, mangelndes Engagement, schlechte Planung |
Bürokratische Hürden | moderat | Komplexe Verwaltung, Prozesse |
Mangelnde Nachfrage | hoch | Fehlende Absatzmärkte, beschränkte Absatzerwartungen |
[1] Auf Basis einer Meta-Analyse der einschlägigen Literatur zu Industriestrategie, Cross-Country-Vergleichen und Implementationsbarrieren, z. B. Raj. et al. (2020); Henriques et al. (2021); Kosomol & Otto (2020); Senna et al. (2023) etc.
Aus den Barrieren und Hindernissen ergeben sich auch die Erfolgsfaktoren für die erfolgreiche Umsetzung von Industriestrategien. Erstens, eine klare strategische Planung mit langfristigen, flexiblen politischen Rahmenbedingungen und einer evidenzbasierten Industriepolitik. Zweitens, starke institutionelle Kapazitäten des öffentlichen Sektors und anpassungsfähige Strukturen. Drittens, eine gezielte Ressourcenallokation, die hohe Investitionen in Forschung, Bildung und Qualifizierung sowie moderne Technologieinfrastrukturen umfasst. Übergreifend bleibt eine enge Kooperation zwischen Regierungen und Industrie entscheidend, um die Strategien an die lokalen Gegebenheiten anzupassen und weiterzuentwickeln. Schlussendlich ist die Implementierung entscheidend. Know-how ist durch nichts ersetzbar.
Meta-Analyse der Erfolgsfaktoren und Anforderungen für die Implementierung
Erfolgsfaktoren | Anforderung Implementierung | Evidenz[2] | Beispiele |
Unterstützende Regierung Politik | hoch | stark | Rechtliche Rahmenbedingungen, Anreize |
Langfristige strategische Planung | moderat | mittel | Frühzeitige Planung, standardisiertes Design, Konzepte |
Koordinierte nationale Strategien | hoch | mittel | Angleichung der Politiken zwischen den Sektoren (Ökosystemansatz) |
Anpassungsfähigkeit der Maßnahmen | moderat | mittel | Flexibilität bei der Reaktion auf Veränderungen |
Wirksame Kommunikation | moderat | stark | Zusammenarbeit zwischen Interessengruppen |
Öffentlich-private Partnerschaften | hoch | mittel | Gemeinsame Initiativen, gemeinsame Ressourcen |
Wissenstransfer Mechanismen | moderat | mittel | Ausbildungsprogramme, Industrie-Wissenschaft Zusammenarbeit |
Institutionelle Anpassungsfähigkeit | hoch | mittel | Fähigkeit zur Reaktion auf technologische Veränderungen |
Investitionen in Forschung & Entwicklung | hoch | stark | Finanzierung von Innovationen, Technologieentwicklung |
Offensive für Aus- & Weiterbildung, Qualifizierung | hoch | stark | Erweiterte Ausbildung, Qualifikation Verbesserungsprogramme |
Technische Infrastruktur | hoch | mittel | Aufrüstung bestehender Systeme, Einführung von neuen |
Ressourceneffizienz | moderat | mittel | Optimierung der Ressourcennutzung & Energieeffizienz |
[2] Auf Basis einer Meta-Analyse der einschlägigen Literatur zu Industriestrategie, Cross-Country-Vergleichen und Implementationsbarrieren, z. B. Raj. et al. (2020); Henriques et al. (2021); Kosomol & Otto (2020); Senna et al. (2023) etc.
Was können wir daraus lernen?
Das Erste, was man aus der Literatur und Geschichte industriepolitischer Strategien lernen kann, ist, dass sich die tatsächlichen Herausforderungen oft von den medial vermittelten Themen unterscheiden. So hat für Europa bereits Mario Draghi in seinem Bericht an die EU-Kommission festgestellt, dass die große Herausforderungen für Europas Industrie nicht in den Lohn- bzw. Bürokratiekosten liegen, die oft Gegenstand von Diskussion sind, sondern vielmehr in Fragen der Innovationsfähigkeit, der Skalierung von Schlüsselbereichen, der Energiekosten und der strategischen Abhängigkeiten.
Demzufolge müssen die wirtschafts- und industriepolitischen Strategien in Europa auch auf diese Herausforderungen gezielte Antworten liefern. Es braucht Verbesserungen hinsichtlich der Qualität der Infrastrukturen vor dem Hintergrund neuer Technologien, ausreichend ausgestattete organisatorische und administrative Kapazitäten des öffentlichen Sektors zur Koordinierung und Umsetzung von Maßnahmen, sei es Regulierungen oder Anreize, eine starke Koordinierung zwischen den Institutionen und den Stakeholdern, glaubhafte vorgezeichnete Entwicklungsrichtungen, an denen auch festgehalten wird, um Unsicherheit zu reduzieren, sowie einen Fokus auf die Entwicklung der Fähigkeiten, Kompetenzen und Qualifikationen.
Damit die industrielle Transformation erfolgreich gelingt und wir langfristig Beschäftigung, Wertschöpfung sowie Wohlstand sichern können, müssen gezielte und fundierte Antworten auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Herausforderungen dieser tiefgreifenden Veränderung gefunden werden. Auch wenn Bill Gates in einem aufsehenerregenden Artikel meinte, dass bis auf Programmierer:innen, Biolog:innen und Energieexpert:innen alle Berufe in 10 Jahren durch KI ersetzbar sein werden, so ist doch selbst seine Conclusio, dass der Mensch schlussendlich unersetzlich ist. Know-how in wesentlichen Fragen macht immer noch einen entscheidenden Unterschied. Zeit, diesen Trumpf auszuspielen.