Die Industriepolitik erlebt ein Comeback, doch aktuelle EU-Initiativen drohen Klimaschutz und soziale Errungenschaften zu untergraben. Eine progressive Agenda für die doppelte Transformation ist nötig, um wirtschaftliche, soziale und politische Herausforderungen zu meistern. Dies erfordert mehr Beteiligung der Menschen, eine gerechte Lastenverteilung, stärkere öffentliche Investitionen und eine nachhaltige EU-Governance. Die EU muss mutig handeln, um demokratisch gestaltet und legitimiert eine wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Zukunft Europas zu sichern.
Das halbherzige Comeback der Industriepolitik
Nach Jahrzehnten der Marginalisierung steht die Industriepolitik wieder auf der politischen Tagesordnung. Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Es sollte aber sorgfältig darüber nachgedacht werden, welche Ziele mit Industriepolitik erreicht werden sollen, wie der Strukturwandel fair gemanagt werden kann und welche Rolle Staat und Privatsektor jeweils spielen sollten. Genau diese Fragen waren der Anlass für ein Forschungsprojekt, das die ÖFSE in Zusammenarbeit mit der Arbeiterkammer Wien durchgeführt hat.
Während die Hauptmotivationen für Industriepolitik in der Europäischen Union, d. h. die Klimakrise und die digitale Transformation, eindeutig zu sein scheinen, bleiben viele damit verbundene Fragen ungelöst und müssen in den kommenden Jahren angegangen werden. Die Europäische Kommission hat mit dem Wettbewerbskompass und dem Clean Industrial Deal jüngst industriepolitische Initiativen vorgestellt, welche die EU zukunftsfit machen sollen. Trotz einzelner sinnvoller Vorschläge drohen diese Initiativen mit ihrem Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit und Deregulierung die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte des Europäischen Green Deal, insbesondere beim Klima- und Umweltschutz und bei den Unternehmenspflichten zur Einhaltung von Menschenrechten, wieder zurückzunehmen. Bei vielen der vorgeschlagenen Politiken bleibt zudem unklar, wie sie finanziert werden sollen. Stattdessen sollen Bürokratieabbau und Kapitalmarktliberalisierung dafür sorgen, den Investitionsappetit von Unternehmen und Investoren wieder anzufachen. Außerdem soll wesentlich mehr in die militärische Aufrüstung Europas investiert werden, wobei auch hier unklar bleibt, woher das Geld dafür kommen soll, wenn nicht aus Einsparungen im Bereich öffentlicher Dienstleistungen und wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Angesichts der zunehmenden Sparpolitik in der EU und der unverhohlenen Drohungen der Trump-Regierung ist nicht zu erwarten, dass von diesen Maßnahmen ein nennenswerter Konjunkturimpuls für die europäische Wirtschaft ausgehen wird. Es drohen nicht nur fünf verlorene Jahre für die grüne Transformation, sondern auch sozialstaatlicher Rückbau und ein weiterer Legitimationsverlust demokratischer Politik. Die national-populistische Rechte in der EU wird sich darüber freuen.
Eine progressive EU-Agenda für die doppelte Transformation
Eine zentrale Schlussfolgerung aus unserer Analyse ist, dass die Umsetzung der doppelten Transformation in erster Linie ein politischer Prozess ist. Während in vielen Bereichen, z. B. Photovoltaik, Windkraftanlagen, Batterien, Wärmepumpen, Elektrofahrzeuge, bereits ausgereifte technologische Lösungen existieren, liegen die größten Gefahren für die grüne und digitale Transformation in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Risiken. Während einige dieser Risiken, z. B. diejenigen, die von zunehmenden geopolitischen Konflikten oder globalen Pandemien ausgehen, außerhalb des direkten Einflussbereichs der EU liegen, können andere, wie z. B. ökonomischer und sozialer Widerstand oder fehlende Finanzmittel, durch entschlossenes politisches Handeln innerhalb der EU überwunden werden.
Angesichts der tiefgreifenden Veränderungen und seiner Langfristigkeit hängt der Erfolg der Transformation davon ab, dass seine Legitimität über die nächsten 25 Jahre gefördert wird. Dies ist offensichtlich leichter gesagt als getan. Vor dem aktuellen Hintergrund zahlreicher Krisen, welche gesellschaftliche Ängste verschärfen, besteht die Herausforderung der kommenden fünf Jahre darin, nicht nur den Unternehmen, sondern vor allem den Bürger:innen und den Arbeitnehmer:innen wieder das Vertrauen zu vermitteln, dass die mit dem Europäischen Green Deal eingeleitete strategische Agenda nicht nur fortgeführt, sondern beschleunigt wird.
Dies wird hohe Anforderungen an die EU-Institutionen und die nationalen Regierungen stellen. Beide werden die Erfordernisse der langfristigen strategischen Agenda mit denen der Bewältigung aktueller Krisensituationen in Einklang bringen müssen. Dafür werden die Regierungen erweiterte Kapazitäten und Fähigkeiten benötigen. Doch selbst die fähigste Regierung wird nicht in der Lage sein, all dies allein zu tun. Die Zusammenarbeit der gesellschaftlichen Akteure, welche die doppelte Transformation unterstützen, wird von zentraler Bedeutung sein. Da Legitimität die Grundlage für die soziale Bindung zwischen den Regierungen und den Mitgliedern der Gesellschaft bildet, ist eine Wiederbelebung der Transformationsagenda nur auf Basis (i) von mehr politischer Beteiligung, (ii) von mehr Fairness bei der Aufteilung der Transformationslasten und (iii) von mehr Effektivität in der Umsetzung möglich. Zu diesem Zweck muss eine politische Agenda für die doppelte Transformation auf der Vision einer solidarischen Transformationsgesellschaft beruhen (siehe Grafik). Eine solche Vision muss allen Bürgerinnen und Bürgern garantieren, dass das soziale Sicherheitsnetz während des Transformationszeitraums bis 2050 intakt bleibt und durch eine paneuropäische Agenda für öffentliche Dienstleistungen sogar erweitert wird. Auf dieser Grundlage umfassen sechs Säulen die entscheidenden Politikbereiche einer fortschrittlichen Agenda.
Säule 1 konzentriert sich auf die Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten. Die deliberative Demokratie jenseits der institutionalisierten Politik muss gestärkt werden, um den Bürger:innen die Möglichkeit zu geben, die Transformation mitzugestalten. Zu diesem Zweck sollten Europäische Bürger:innenräte genutzt werden, um Vorschläge für bestimmte Problembereiche zu erarbeiten. Solche Beiträge sollten von neu eingerichteten Räten für die doppelte Transformation (Twin Transformation Councils, TTCs) aufgegriffen werden, sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf der Ebene der EU. Die TTCs setzen sich aus Mitgliedern der EU-Institutionen, der nationalen Regierungen und der Zivilgesellschaft einschließlich des Unternehmenssektors, der Gewerkschaften, der NGOs und der Wissenschaft zusammen. Sie sollen (i) die horizontale und vertikale Koordinierung verstärken, (ii) Strategieanpassungen vornehmen und Themen mit hoher Priorität für die Umsetzung identifizieren und (iii) Fortschritte bewerten sowie Probleme identifizieren und beheben.
Strukturelle Transformationsprozesse, die so tiefgreifend sind wie die doppelte Transformation, werden unweigerlich zu einer beträchtlichen Anzahl von Gewinner:innen und Verlierer:innen führen, darunter Arbeitnehmer:innen, Unternehmen und Regionen. Die Gewährleistung einer gerechten Lastenverteilung bildet daher Säule 2. Der bestehende EU-Just Transition Mechanism (JTM) wird nicht ausreichen, um negative regionale Auswirkungen zu beheben. Bisher wurde das Programm nur langsam umgesetzt. Der geplante Ausstieg bis Ende 2026 stellt nicht nur ein Risiko für die nachhaltige Wirkung dar, sondern könnte die bereits weit verbreitete Frustration der ländlichen Bevölkerung noch verstärken. Angesichts des langfristigen Charakters der strukturellen Veränderungsprozesse in den Regionen sind daher stärkere und dauerhafte Unterstützungsmechanismen erforderlich. Dies könnte erreicht werden, indem der JTM auf eine dauerhafte Basis gestellt wird und/oder indem die Sozial- und Kohäsionsfonds (inkl. des neuen Social Climate Fund) erweitert werden. In jedem Fall sind auch stärkere öffentliche Umsetzungskapazitäten auf nationaler und regionaler Ebene erforderlich.
Angesichts der Aussicht, viele der Klima- und Umweltziele der EU für 2030 zu verfehlen (einschließlich des Ziels, die Treibhausgasemissionen um 55 Prozent zu senken), muss sich Säule 3 auf die beschleunigte Umsetzung konzentrieren, mit ehrgeizigeren Maßnahmen in sechs vorrangigen Bereichen:
- eine stärkere Konzentration auf die Verringerung des Energie- und Materialverbrauchs durch (i) die Förderung der Energieeffizienz und (ii) die beschleunigte Einführung der Kreislaufwirtschaft;
- ein massiv aufgestocktes EU-Investitionsprogramm für erneuerbare Energien mit Schwerpunkt auf Solar- und Windenergie, Geothermie und grünem Wasserstoff;
- eine EU-Mobilitätsstrategie, die massiven Investitionen in die Eisenbahninfrastruktur Vorrang einräumt, elektrifizierte öffentliche Verkehrsmittel auf allen territorialen Ebenen unterstützt und die Nutzung privater Fahrzeuge durch die Förderung von Carsharing und ähnlichen Maßnahmen reduziert;
- eine strategische EU-Industriestrategie, die festlegt, welche produktiven Tätigkeiten unter (i) dem Aspekt der Versorgungssicherheit, einschließlich der Katastrophenvorsorge, und (ii) der Schließung von Innovationslücken in Hochtechnologiebranchen eine besondere Behandlung verdienen;
- eine EU-Strategie für digitale Souveränität, die (i) die demokratische Kontrolle der digitalen Sphäre durch strenge Regulierung sicherstellt und (ii) Formen öffentlicher digitaler Infrastrukturen fördert;
- eine Transformationsagenda für die europäische Lebensmittelindustrie mit zwei Schwerpunkten: (i) unlautere Wettbewerbspraktiken, auch bei der Preisgestaltung und anderen Vertragsbedingungen, sollten einer strengeren Regulierung unterworfen werden und (ii) die Förderung des ökologischen Landbaus sollte intensiviert werden.
Säule 4 unterstreicht die Notwendigkeit, einen EU-Governance-Rahmen zu fördern, der auf starke Kapazitäten und die Förderung von organisatorischem Lernen abzielt. Öffentlichen Einrichtungen fehlen derzeit die Kapazitäten und (dynamischen) Fähigkeiten, um die doppelte Transformation wirksam zu steuern und zu verwalten. Darüber hinaus ist das System an Innovationsagenturen in der EU gekennzeichnet durch (i) administrative Überlastung, (ii) Risikoscheu und einen Mangel an agiler Stabilität, um radikale Innovationen zu fördern, und (iii) durch ein enges Verständnis von Innovation, das technologischen Innovationen Vorrang vor sozialen Innovationen einräumt. Die Innovations-Governance muss daher verbessert werden, indem z. B. (i) eine vielfältigere Vertretung der Interessengruppen in den Entscheidungsgremien (z. B. Vorständen, beratenden Ausschüssen) ermöglicht wird und (ii) das Ökosystem der Innovationsagenturen EU-weit stärker koordiniert und ein höheres Risiko des Scheiterns zugunsten radikaler Innovation in Kauf genommen wird.
Säule 5 konzentriert sich auf die Notwendigkeit, die EU-Investitionslücke für die doppelte Transformation zu schließen. Bei den öffentlichen Investitionen würde sich dies EU-weit auf einen jährlichen Betrag von 180 bis 400 Mrd. Euro belaufen. Anstatt – wie von der Kommission vorgeschlagen – den vorherrschenden, aber enttäuschenden De-Risking-Ansatz auszubauen und auf eine vollständige europäische Kapitalmarktunion zu drängen, besteht die effizientere Strategie darin, eine dreistufige öffentliche Finanzierungsstruktur einzurichten, einschließlich (i) eines EU-Transformationsfonds mit einer Kapitalausstattung von 1 Prozent des EU-BIP über einen Zeitraum von zehn Jahren, basierend auf gemeinsamer EU-Verschuldung, (ii) eine Aufstockung des EU-Haushalts für den nächsten MFR-Zeitraum ab 2028 (z. B. durch eine Mischung aus mehr EHS-Mitteln und neuen EU-Steuern) und (iii) eine verstärkte monetäre Finanzierung grüner Investitionen durch die EZB (z. B. durch den Ankauf von grünen Anleihen).
Nicht zuletzt wird die EU im Lichte ihrer starken externen Abhängigkeiten einen neuen Ansatz für die Zusammenarbeit mit Partnerländern, insbesondere im globalen Süden, benötigen (Säule 6). Angesichts einer geschwächten europäischen Position auf der Weltbühne muss die EU ihre Außenbeziehungen auf gleichberechtigte Partnerschaften und gegenseitigen Vorteilsausgleich gründen. Dazu gehören insbesondere (i) die strikte Einhaltung und umfassende Anwendung der höchsten ESG-Standards für Bergbau- und Produktionstätigkeiten europäischer Unternehmen im Ausland, (ii) die Unterstützung der EU für den Technologietransfer und den Aufbau einer industriellen Wertschöpfungskette in den Erzeugerländern, unter anderem durch die Qualifizierung der einheimischen Arbeitskräfte und wissenschaftlich-technologische Kooperationsprogramme und (iii) eine faire Verteilung der Gewinne aus Bergbau-/Explorationsverträgen und eine faire Preisgestaltung. Auf der Grundlage einer realistischen Analyse der Bedeutung chinesischer grüner Technologie für die rasche Umsetzung der grünen Transformation wird vor allem die Aufrechterhaltung kooperativer bilateraler Beziehungen mit China von zentraler Bedeutung sein.
Fazit: Es braucht den Mut zur Veränderung
Die EU befindet sich zurzeit an einem Wendepunkt. Von innen ist sie durch den Vormarsch des autoritären Rechtspopulismus, von außen ist sie durch die konfrontative Politik der Trump-Regierung existenziell bedroht. Beim Aufbau von mehr wirtschaftlicher Souveränität und Selbstbestimmung unter Einhaltung der planetaren ökologischen Grenzen kann Industriepolitik eine zentrale Rolle spielen. Deren Einsatz setzt allerdings die Einsicht voraus, dass nicht etwa fehlendes Geld oder niedrige Wettbewerbsfähigkeit die wichtigsten Probleme der EU sind. An beidem mangelt es Europa in Wahrheit nicht. Was fehlt, ist der politische Mut, mit einem demokratisch kontrollierten, aber aufgewerteten und steuernden Staat die doppelte Transformation endlich entschlossen in Angriff zu nehmen. Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und auch die Wissenschaft sollten das lautstark einfordern.