Grüne Industriepolitik in der EU – vom Schneckengang auf die Überholspur?

31. März 2023

Die EU steigt nun verstärkt in den Ansiedlungswettbewerb um zukunftsfähige Industrien ein. Too little – too late? Jedenfalls, wenn es darum geht, Industriepolitik im Sinne der Beschäftigten und Bürger:innen zu machen. Soziale Fragestellungen des industriell-ökologischen Umbaus sind bei der Strategie nachrangig.

Comeback-Versuch(e) der Industriepolitik

Mit der Ankündigung des European Green Deals versuchte die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen im Jahr 2019 die EU als grüne Vorreiterin in Sachen zukunftsgerichteter, nachhaltiger Wirtschaftspolitik global zu positionieren. Mit der Mobilisierung von erheblichen öffentlichen Geldern soll der Übergang zu klimaneutraler Produktion und Wertschöpfung unterstützt und die internationale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Standorte und Unternehmen erhöht werden.

So sind dem Europäischen Grünen Deal ein Drittel der Investitionen aus dem Aufbauplan NextGenerationEU und dem aktuellen langfristigen EU-Haushalt 2021–2027 mit einer Gesamtsumme von 1,8 Bio. Euro gewidmet. Eine ganze Reihe von sogenannten Projects of Common European Interest (IPCEIs) wurden damit bereits zur Förderung der angewandten Forschung und zum Auf- und Ausbau von strategischen – das heißt, für die digitale und grüne Transformation relevanten – Schlüsseltechnologien auf den Weg gebracht.

Trotz dieser großen Ankündigungen, der bereitgestellten Geldmittel und auch ambitionierter Klimaziele in der EU – mindestens 55 Prozent weniger Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 gegenüber 1990 – ist es bislang nicht gelungen, hier entscheidende Fortschritte zu machen. Das heißt konkret: Es konnte keine mengenmäßig nennenswerte Emissionsreduktion in Richtung der „Netto-Null“-Ziele erreicht werden. Gleiches gilt auch für das Ziel, die starke Abhängigkeit von strategischen und kritischen Rohstoffen zu verringern, welches die EU schon länger am Radar hat. Und sie hat auch schon zweimal in der aktuellen Kommissionsperiode die EU-Industriestrategie einem Update unterworfen – ohne entscheidenden Durchbruch.

Zum entschiedeneren Handeln ist sie nun von außen gezwungen worden. Vier wichtige Faktoren, die die Kommission massiv unter Handlungsdruck brachten, waren dabei:

  • die Energiekrise, ausgelöst von der Abhängigkeit vieler EU-Staaten von russischem Erdgas,
  • anhaltende Probleme in den Lieferketten,
  • Chinas Streben nach und Anspruch auf Technologieführerschaft in wichtigen Zukunftssektoren wie Solarenergie, Batteriezellen oder Elektromobilität und
  • ein ambitionierter Inflation Reduction Act in den USA.

Der Industriestandort Europa scheint in vielerlei Hinsicht infrage gestellt zu werden – und damit auch der längerfristige Bestand hochwertiger Industriearbeitsplätze. Vor allem die Ankündigung der USA, großzügige Förderungen (rund 370 Mrd. US-Dollar) an heimische US-Produktion zu knüpfen, löste heftige Debatten zwischen den Vertreter:innen beider Wirtschaftsräume aus. Dieser neue US-amerikanische Protektionismus steht in einem Spannungsverhältnis zur EU-Strategie einer offenen strategischen Autonomie.

Ein grüner Industrieplan für das klimaneutrale Zeitalter

Ein Befreiungsschlag soll nun der grüne Industrieplan (Green Deal Industrial Plan) sein, der Mitte März 2023 angekündigt wurde. Der Plan soll die schon bestehenden Bemühungen zur Umgestaltung der Industrie im Rahmen des European Green Deals und der EU-Industriestrategie, insbesondere auch des Aktionsplans für eine Kreislaufwirtschaft, ergänzen. Der Plan besteht aus vier Säulen:

1. Ein günstiges Regelungsumfeld für die Netto-Null-Industrie, damit die EU federführend bei Cleantech-Innovationen wird,

2. ein schnellerer Zugang zu Finanzmitteln,

3. Kompetenzen für Arbeits- und Fachkräfte und

4. ein offener Handel für widerstandsfähige Lieferketten.

Die temporäre Flexibilisierung des Beihilfenrechts durch einen neuen befristeten Rahmen „zur Stützung der Wirtschaft infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine – Krisenbewältigung und Gestaltung des Wandels“ ist bereits in Kraft und findet auch im grünen Industrieplan unter Säule zwei Deckung. Diese Lockerung des Beihilfenregimes ist aufgrund des herrschenden Subventionswettbewerbs, der zu einer Fragmentierung des Binnenmarktes und zu einer weiteren Verstärkung ökonomischer Disparitäten (geografisch und sozial, auf Unternehmens- und Vermögensebene) innerhalb der EU führen dürfte, kritisch zu sehen. Vielmehr braucht es, wie bei den IPCEIs, strategische Zielvorgaben mit strikten sozial-ökologischen Konditionalitäten. Allerdings noch verbindlicher als bei diesen.

Ein Gesetz für eine klimaneutrale Wirtschaft (Net Zero Industry Act), ein Gesetz über kritische Rohstoffe (Critical Raw Material Act) und die Reform des EU-Strommarktes sind die legistischen Initiativen und gießen die bisher nur als Strategie vorgegebene Neuausrichtung der EU-Industriepolitik in eine rechtliche Form. Teil des Industrieplans ist darüber hinaus die Einrichtung einer EU-Wasserstoffbank, um die Umsetzung der europäischen Wasserstoffstrategie zu forcieren.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Vier Säulen, keine gesamtwirtschaftliche Steuerung

Der Grüne Industrieplan enthält eine Reihe von notwendigen Elementen und könnte Weichen für rasche Schritte in Richtung Klimaneutralität stellen. Er bleibt allerdings in der Logik angebotspolitischer Maßnahmen und eines Wettbewerbs um Ansiedelungen verhaftet – wie etwa der Beschleunigung von Verfahren.

Im Rahmen der ersten Säule soll die industrielle Herstellung im Bereich von Schlüsseltechnologien in der EU unterstützt werden. Dabei zielt der Rechtsvorschlag vor allem auf die Stärkung der Herstellungskapazität von Produkten, die für die Erreichung des Ziels der Klimaneutralität und der europäischen Wettbewerbsfähigkeit von zentraler Bedeutung sind. Es geht dabei um Batterien, Windräder, Wärmepumpen, Solaranlagen, Elektrolyse sowie Technologien zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung. Eine Produktionskapazität von 40 Prozent des EU-Bedarfs an grünen Technologien soll bis 2030 erreicht werden. Eine explizite Verpflichtung zur Produktion in der EU bzw. zum Kauf europäischer Produkte ist nicht abzulesen. Die EU verlangt keine regionale Produktion für die Subventionsvergabe, aber sie gibt dafür einen neuen Rahmen und schafft Anreize. Weitergehende Vorgaben zur Regionalisierung von Produktion, etwa „Buy at home“- oder „Local content“-Klauseln werden aktuell aber wieder diskutiert bzw. in einigen Ländern eingeführt.

In einer neu einzurichtenden „Net Zero Industry Platform“ sollen diese Aktivitäten koordiniert und diskutiert werden. Die Plattform setzt sich aus Kommission, Mitgliedstaaten, Industrievertreter:innen und Expert:innen zusammen. Arbeitnehmer:innen bzw. deren Vertretung sind nicht angeführt, was der Idee des sozialen Dialogs widerspricht und vermuten lässt, dass der Beschäftigungsaspekt im Industrieplan keinen Stellenwert hat.

Zentral sollen durch den Net Zero Industry Act Genehmigungsverfahren beschleunigt und die öffentliche Hand stärker in die Pflicht genommen werden, öffentliche Aufträge klimaneutral zu vergeben. Es ist notwendig, dass ökologische und soziale Standards bei der Vereinfachung des Regulierungs-, Planungs- und Vergaberechts eingehalten werden. Drüberfahren über Verfahrensrechte, Naturschutz- und Nachbarschaftsinteressen kann nicht im Sinne einer gerechten Transformation sein.

Zudem wurde das Beihilfenrecht befristet im Kontext von Krise und ökologischem Wandel gelockert. Umstritten ist dabei, dass und wie die Kommission die Beihilfenregeln für staatliche Zuschüsse flexibilisiert. Befürchtet wird ein Subventionswettlauf innerhalb der EU, von dem die finanzstarken Mitgliedstaaten überproportional profitieren würden. Auch die Kommission ist sich bewusst, dass staatliche Beihilfen nur wenige Mitgliedstaaten in erheblichem Ausmaß bereitstellen können und daher nur eine begrenzte Lösung sein werden.

Daher soll in der zweiten Säule mittelfristig ein „Europäischer Souveränitätsfonds“ zum Ausgleich von regionalen Ungleichheiten geschaffen werden. Aus Sicht von Arbeitnehmer:innen wäre zentral, sicherzustellen, dass nationale Steueranreize bzw. -vergünstigungen, die auf Basis geänderter Beihilfevorschriften gewährt werden, EU-weit nach einheitlichen Kriterien erfolgen und auch Arbeitnehmer:innen-Interessen berücksichtigen.

Die dritte Säule zielt auf die Verbesserung der Kompetenzen. Die Transformation in Richtung Klimaneutralität hat große Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Gleichzeitig gibt es gerade in den klimarelevanten Sektoren einen steigenden Arbeitskräftebedarf. Positiv ist zu bewerten, dass als höchste Priorität festgehalten wird, Beschäftigungswechsel sicherzustellen und hochwertige Arbeitsplätze durch Aus- und Weiterbildung zu sichern. Es bleibt aber offen, mit welchen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen dies konkret umgesetzt werden soll und wie Mitgliedstaaten dazu zur Verantwortung gezogen werden. Aus Arbeitnehmer:innenperspektive notwendig ist zudem ein Recht auf Weiterbildung und die Errichtung von Weiterbildungsfonds, in die auch Unternehmen einzahlen müssen. Auch muss eine Offensive für Aus- und Weiterbildung mit rechtlichen Ansprüchen einhergehen.

Die vierte Säule des Industrieplans beinhaltet die Ausgestaltung der Handelspolitik im Interesse des Übergangs zu einer sauberen Wirtschaft. Ungeachtet der vielfach geäußerten Kritik an EU-Handelsabkommen, dass diese in der gegenwärtigen Form zulasten des Klimas, der Beschäftigten und der Umwelt gehen, hält die EU-Kommission nach wie vor an ihnen als zentralem Bestandteil ihrer außenwirtschaftlichen Aktivitäten fest. Dabei wären aus Sicht der Arbeitnehmer:innen soziale und klimapolitische Zielsetzungen in den Mittelpunkt zu stellen und konkrete Pläne zu erstellen, wie die Dekarbonisierung des Handels und der sozial-ökologische Umbau der gesamten Wirtschaft vorangetrieben werden können.

Not too much, not too little, but certainly no just transition

Ist der Green Deal Industrial Plan nun ein großer Wurf oder nur ein weiteres angekündigtes Vorhaben der EU, wie es schon viele vorher gab? – Nun ja, wahrscheinlich etwas von beidem.

Gemessen an früheren Politiken, wo die EU sich als Hort der freien Marktwirtschaft gerierte, ist ein grüner Industrieplan, der aktive Industriepolitik in Rechtsakte gießt, geradezu als ideologischer Tabubruch zu sehen. Freilich zeigt sich in der Umsetzung ein gemischtes Bild.

Die Kommission versucht, neuartige, grüne Technologien und Produktionsweisen zu unterstützen, und entwickelt dazu ein sehr breites Spektrum an wirtschaftsfördernden Maßnahmen. Angesichts der bestehenden Herausforderungen und der sich stetig beschleunigenden Klimakrise ist eine Beschleunigung der Transformation auch über Förderungen wohl vonnöten, unerlässlich und jedenfalls begrüßenswert. Gezielte Standortförderung wäre vor ein paar Jahren noch nicht denkbar gewesen. Es zeigt sich aber auch, dass die Interessen von Arbeitnehmer:innen im Rahmen der Fördermaßnahmen nicht im gleichen Ausmaß abgesichert werden. Denn soziale Konditionalitäten fehlen im Plan.

Eine Just Transition bedeutet und erfordert mehr als nur Investitionen in grüne Technologien und Industrien. Öffentliche Gelder und wirtschaftspolitische Maßnahmen dürfen nur unter der Bedingung zur Verfügung gestellt werden, dass sie Beschäftigungssicherheit und hohe Beschäftigungsqualität sowie nachhaltigen Wohlstand schaffen. Dafür notwendig wäre ein klares Bekenntnis zur Einhaltung von Kollektivverträgen in den neuen Industrieregulierungen sowie zur gewerkschaftlichen Beteiligung bei Fusions- und Investitionsentscheidungen auf Unternehmensebene. Notwendig wären aber auch Standort- und Beschäftigungsgarantien von begünstigten Unternehmen für mehr Planungssicherheit, und zwar auch für Arbeitnehmer:innen. Was es also braucht, wäre nicht nur ein grüner, sondern auch ein sozialer und gerechter Plan für ein klimaneutrales Zeitalter.

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