Die EU steigt nun verstärkt in den Ansiedlungswettbewerb um zukunftsfähige Industrien ein. Too little – too late? Jedenfalls, wenn es darum geht, Industriepolitik im Sinne der Beschäftigten und Bürger:innen zu machen. Soziale Fragestellungen des industriell-ökologischen Umbaus sind bei der Strategie nachrangig.
Comeback-Versuch(e) der Industriepolitik
Mit der Ankündigung des European Green Deals versuchte die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen im Jahr 2019 die EU als grüne Vorreiterin in Sachen zukunftsgerichteter, nachhaltiger Wirtschaftspolitik global zu positionieren. Mit der Mobilisierung von erheblichen öffentlichen Geldern soll der Übergang zu klimaneutraler Produktion und Wertschöpfung unterstützt und die internationale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Standorte und Unternehmen erhöht werden.
So sind dem Europäischen Grünen Deal ein Drittel der Investitionen aus dem Aufbauplan NextGenerationEU und dem aktuellen langfristigen EU-Haushalt 2021–2027 mit einer Gesamtsumme von 1,8 Bio. Euro gewidmet. Eine ganze Reihe von sogenannten Projects of Common European Interest (IPCEIs) wurden damit bereits zur Förderung der angewandten Forschung und zum Auf- und Ausbau von strategischen – das heißt, für die digitale und grüne Transformation relevanten – Schlüsseltechnologien auf den Weg gebracht.
Trotz dieser großen Ankündigungen, der bereitgestellten Geldmittel und auch ambitionierter Klimaziele in der EU – mindestens 55 Prozent weniger Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 gegenüber 1990 – ist es bislang nicht gelungen, hier entscheidende Fortschritte zu machen. Das heißt konkret: Es konnte keine mengenmäßig nennenswerte Emissionsreduktion in Richtung der „Netto-Null“-Ziele erreicht werden. Gleiches gilt auch für das Ziel, die starke Abhängigkeit von strategischen und kritischen Rohstoffen zu verringern, welches die EU schon länger am Radar hat. Und sie hat auch schon zweimal in der aktuellen Kommissionsperiode die EU-Industriestrategie einem Update unterworfen – ohne entscheidenden Durchbruch.
Zum entschiedeneren Handeln ist sie nun von außen gezwungen worden. Vier wichtige Faktoren, die die Kommission massiv unter Handlungsdruck brachten, waren dabei:
- die Energiekrise, ausgelöst von der Abhängigkeit vieler EU-Staaten von russischem Erdgas,
- anhaltende Probleme in den Lieferketten,
- Chinas Streben nach und Anspruch auf Technologieführerschaft in wichtigen Zukunftssektoren wie Solarenergie, Batteriezellen oder Elektromobilität und
- ein ambitionierter Inflation Reduction Act in den USA.
Der Industriestandort Europa scheint in vielerlei Hinsicht infrage gestellt zu werden – und damit auch der längerfristige Bestand hochwertiger Industriearbeitsplätze. Vor allem die Ankündigung der USA, großzügige Förderungen (rund 370 Mrd. US-Dollar) an heimische US-Produktion zu knüpfen, löste heftige Debatten zwischen den Vertreter:innen beider Wirtschaftsräume aus. Dieser neue US-amerikanische Protektionismus steht in einem Spannungsverhältnis zur EU-Strategie einer offenen strategischen Autonomie.
Ein grüner Industrieplan für das klimaneutrale Zeitalter
Ein Befreiungsschlag soll nun der grüne Industrieplan (Green Deal Industrial Plan) sein, der Mitte März 2023 angekündigt wurde. Der Plan soll die schon bestehenden Bemühungen zur Umgestaltung der Industrie im Rahmen des European Green Deals und der EU-Industriestrategie, insbesondere auch des Aktionsplans für eine Kreislaufwirtschaft, ergänzen. Der Plan besteht aus vier Säulen:
1. Ein günstiges Regelungsumfeld für die Netto-Null-Industrie, damit die EU federführend bei Cleantech-Innovationen wird,
2. ein schnellerer Zugang zu Finanzmitteln,
3. Kompetenzen für Arbeits- und Fachkräfte und
4. ein offener Handel für widerstandsfähige Lieferketten.
Die temporäre Flexibilisierung des Beihilfenrechts durch einen neuen befristeten Rahmen „zur Stützung der Wirtschaft infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine – Krisenbewältigung und Gestaltung des Wandels“ ist bereits in Kraft und findet auch im grünen Industrieplan unter Säule zwei Deckung. Diese Lockerung des Beihilfenregimes ist aufgrund des herrschenden Subventionswettbewerbs, der zu einer Fragmentierung des Binnenmarktes und zu einer weiteren Verstärkung ökonomischer Disparitäten (geografisch und sozial, auf Unternehmens- und Vermögensebene) innerhalb der EU führen dürfte, kritisch zu sehen. Vielmehr braucht es, wie bei den IPCEIs, strategische Zielvorgaben mit strikten sozial-ökologischen Konditionalitäten. Allerdings noch verbindlicher als bei diesen.
Ein Gesetz für eine klimaneutrale Wirtschaft (Net Zero Industry Act), ein Gesetz über kritische Rohstoffe (Critical Raw Material Act) und die Reform des EU-Strommarktes sind die legistischen Initiativen und gießen die bisher nur als Strategie vorgegebene Neuausrichtung der EU-Industriepolitik in eine rechtliche Form. Teil des Industrieplans ist darüber hinaus die Einrichtung einer EU-Wasserstoffbank, um die Umsetzung der europäischen Wasserstoffstrategie zu forcieren.