Gegenwärtig erleben wir eine sogenannte „neue globale Unordnung“, das erfordert die Entwicklung von neuen politischen Strategien. Geo-ökonomische Strategien gewinnen immer mehr an Bedeutung, das zeigt sich am Vorgehen der USA und Chinas besonders deutlich. Wenn die Europäische Union ihre strategische Unabhängigkeit und Technologiesouveränität bewahren möchte, muss sie darauf Antworten finden und die verteilungspolitischen Konsequenzen mitberücksichtigen.
Die neue globale Unordnung als politisch-ökonomische Herausforderung
Neben der ökologischen Krise erleben wir gegenwärtig eine Krise der politisch-ökonomischen Weltordnung: Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ist die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte, amerikanische Hegemonie ins Wanken geraten. Die Euro-Krise (2010), der Aufstieg Chinas als politisch-ökonomische Macht durch protektionistische Politiken, die sogenannte „Flüchtlingskrise“ (2015) in Europa und die Wahl von Donald Trump als amerikanischem Präsidenten (2016) sowie seine populistische und protektionistische, teils erratische Politik trugen dazu bei, dass die amerikanische Hegemonie sich in Auflösung befindet. Zugleich gewinnen populistische Regierungen (zuletzt etwa Milei in Argentinien) mit marktradikalen und/oder interventionistisch-protektionistischen Politiken weltweit an Macht. Ferner verstärken die vielen global aufkochenden Konfliktherde, etwa der Ukraine-Russland-Krieg, die Situation im Nahen Osten oder Westafrika, aber auch Ressourcenkonflikte (um Energie oder seltene Rohstoffe) und die wachsende globale Ungleichheit das Gefühl einer „neuen globalen Unordnung“. Diese bricht mit der marktliberalen Weltordnung: Doch eine neue Ordnung hat sich noch nicht vollständig herausgebildet. Um mit der neuen Situation umzugehen, müssen sich politische Akteur:innen neue Strategien überlegen.
Geo-Ökonomie – eine Antwort auf die neuen Herausforderungen?
Diese neue krisenhafte, dynamische und instabile Weltordnung hat eine neuartige politisch-ökonomische Strategie, die sogenannte „geo-ökonomische Strategie“, hervorgebracht: Das Spezifische an der geo-ökonomischen Strategie ist ein Zusammenrücken von nationalen Sicherheitsbestrebungen bzw. Autonomie und der Wirtschaftspolitik. Dabei werden strategische Abhängigkeiten anerkannt, während der politische Fokus auf dem „Balancieren von Abhängigkeiten“ liegt. Zentrale Fragen sind dabei: „Welche Abhängigkeiten sind eine strategische Bedrohung?“ oder „Wie können diese Abhängigkeiten reduziert werden?“ Ziel von geo-ökonomischen Strategien ist es also, politische Macht auf andere Länder oder Regionen auszuüben, um eigene ökonomische Interessen zu realisieren und die Machtposition auf dem Weltmarkt zu sichern. In diesem Sinne ist die „geo-ökonomische Rationalität“ eine Meta-Strategie, die die Ausrichtung der unterschiedlichsten Politikfelder prägt.
Geo-ökonomische Strategie in der EU-Industriepolitik
Während die Europäische Union seit den 1980ern stark auf Weltmarktliberalisierung und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet war, finden seit 2010 geo-ökonomische Strategien Eingang in unterschiedliche Politikfelder. Wirft man einen analytischen Blick auf die EU-Industriepolitik, wird deutlich, dass aufstrebende Wirtschaftsmächte (besonders China) als Konkurrenz in der Verteilung von Profiten, gleichzeitig aber auch als Handelspartner wahrgenommen werden. Um angesichts der verstärkten Konkurrenz und der neuen protektionistischen Strategien der anderen Wirtschaftsmächte auf dem Weltmarkt zu bestehen, wird die EU-Industriepolitik schrittweise nach der geo-ökonomischen Rationalität ausgerichtet. Die fünf wesentlichen Faktoren, die diese Entwicklung getrieben haben, sind die aufstrebenden Wirtschaftsmächte China und Indien, eine schwache Resilienz gegenüber Angebotsschocks entlang von internationalen Lieferketten durch strategische Abhängigkeiten, eine hohe Exportabhängigkeit, eine wachsende Bedeutung der EU-Ebene in politischen Prozessen sowie ein privilegierter Zugang des produktiven Kapitals zu industriepolitischen Institutionen.