Abstand halten, Social Distancing, Homeoffice und Ausgangsbeschränkungen sind die Schlagworte dieser Krise geworden. Aber was bedeutet das für Menschen, die kein Zuhause haben? Wie Abstand halten, wenn man in einem Mehrbettzimmer schlafen muss? Wie erlebt man Social Distancing, wenn man schon davor an den Rand der Gesellschaft gedrängt war? Die Corona-Krise offenbart strukturelle Probleme im Bereich Wohnen und Armutsbetroffenheit.
Gesundheitliche und soziale Risiken für obdach- und wohnungslose Menschen
Die Begriffe „obdachlos“ und „wohnungslos“ werden in der Alltagssprache oft synonym verwendet. Es ist aber wichtig zu unterscheiden, denn je genauer wir wissen, worüber wir sprechen, desto besser können wir Angebote und strukturelle Lösungen für die unterschiedlichen Gruppen entwickeln und umsetzen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) – der Dachverband der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in Österreich – verwendet die vom Europäischen Dachverband der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe (FEANTSA) entwickelte sogenannte ETHOS-Definition. Der Begriff steht für die englische Abkürzung der Europäischen Typologie für Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und prekäre Wohnversorgung. Während Obdachlosigkeit das Leben auf der Straße oder die Nutzung von Notquartieren und Tageszentren bezeichnet, verweist der Begriff Wohnungslosigkeit auf betreute Wohnformen in einer Gemeinschaftseinrichtung oder auch in Einzelwohnungen. Gemeinsam ist den Betroffenen ein häufig schlechter Gesundheitszustand durch Vorerkrankungen und/oder die prekären Lebensumstände.
Niedrigere Lebenserwartung
Das Leben auf der Straße führt auch ohne Corona dazu, dass Betroffene im Schnitt in deutlich jüngerem Alter als andere sterben. Statistisch nachgewiesen ist, dass Männer, wenn sie als wohnungslos registriert sind, im Durchschnitt 20 Jahre früher sterben. Die Aufforderung „Stay at home!“, die während des Lockdowns als Schutzmaßnahme ausgerufen wurde, konnte von obdachlosen Menschen de facto kaum umgesetzt werden. Viele von ihnen waren im öffentlichen Raum mit unterschiedlichsten Diskriminierungen konfrontiert. Gleichzeitig waren in dieser Phase auch Angebote der Existenzsicherung wie z. B. Essensausgaben nur eingeschränkt verfügbar, und in Tageszentren war das Abstandhalten aufgrund der Räumlichkeiten oftmals schwierig umzusetzen.
Abstand auf engem Raum?
In Notunterkünften haben die Menschen zwar ein Dach über dem Kopf, die Sache mit dem Abstand ist aber naturgemäß schwierig zu handhaben. Außerdem sind Notunterkünfte im Normalfall nur nachts geöffnet und räumlich und personell kaum für einen Ganztagesbetrieb ausgestattet. Umso erfreulicher war es, dass eine große Zahl von Notunterkünften in Österreich in den ersten Monaten der Pandemie durch den Einsatz von MitarbeiterInnen, BetreiberInnen und FördergeberInnen trotzdem einen Ganztagesbetrieb anbieten konnte.
Zwar ist das Abstandhalten in vielen stationären Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe einfacher, weil es private Rückzugsräume gibt, trotzdem sind die BewohnerInnen in ihrem täglichen Leben stark eingeschränkt. So wurden Besuche von außen beispielsweise massiv eingeschränkt. Derartige Maßnahmen können natürlich bei der Verhinderung von Neuinfektionen hilfreich gewesen sein. Gleichzeitig gilt es, im Hinblick auf den Schutz von Grund- und Freiheitsrechten besonders sensibel zu sein und überschießende Einschränkungen sowie Diskriminierungen zu verhindern.
Corona macht sichtbar, was beim Wohnen schon vorher problematisch war
Wenn uns diese Krise etwas gelehrt hat, dann war es die Erkenntnis, was in unserer Gesellschaft alles schiefläuft. Das betraf Bereiche der Schulbildung genauso wie der Kindererziehung, das Gesundheitssystem, die Abhängigkeit von Importen aus aller Welt, die niedrigen Löhne, die dann zu noch niedrigeren Versicherungsleistungen führen, und eben auch das Problem mit dem Wohnen.
Und dieses Problem geht über Obdach- oder Wohnungslosigkeit weit hinaus. Denn Obdach- und Wohnungslosigkeit ist „nur“ die Spitze des Eisbergs.
Beim Wohnen wird vorgeführt, was passieren kann, wenn ungezügelte Marktkräfte walten und Wohnen eine Ware wie jede andere wird – mit Konsequenzen für breite Schichten der Bevölkerung.
Der massive Anstieg der Wohnkosten (besonders in den Städten) war schon vor Corona ein großes Problem, insbesondere wenn er im Verhältnis zu den – vor allem im untersten Einkommensbereich – stagnierenden Lohneinkommen gesehen wird.