Sozial­bericht 2024: Wege in einen Sozial­staat der Zukunft

10. April 2024

Die multiplen Krisen der letzten Jahre gehen auch an den in Österreich lebenden Menschen nicht vorbei. Pandemie, Teuerung und Klimakrise verstärken bestehende soziale Ungleichheiten und bringen neue Unsicherheiten hervor. Im nun veröffentlichten neuen Sozialbericht des Sozial­ministeriums wird einmal mehr der Blick auf die Lebens­bedingungen der Menschen in Österreich gelegt (Band I Ressortaktivitäten, Band II Sozialpolitische Analyse). Trotz wachsender Ungleichheiten ist jedoch keine Schockstarre für die Politik angezeigt: Wie der Bericht zeigt, sind Wege in einen armuts­festen, ökologisch nachhaltigen und egalitären Sozialstaat der Zukunft möglich.

Soziale Heraus­forderungen in Zeiten von Pandemie und Teuerungs­krise

Die letzten Jahre haben große Heraus­forderungen für das Leben vieler Menschen in Österreich gebracht: So waren schon in der Covid19-Pandemie viele Haushalte von Einkommensverlusten betroffen. Die anhaltende Teuerung und die damit verbundene Steigerung der Lebenserhaltungskosten haben die Lebens­bedingungen v. a. jener Haushalte am unteren Ende der Verteilung weiter verschlechtert. „So geht’s uns heute“– eine von Statistik Austria quartalsweise durchgeführte Befragung mit Fokus auf Einkommens­änderungen und finanzielle Schwierigkeiten – zeigt etwa, dass im 4. Quartal 2023 rund 28 % der Befragten von einer Verringerung ihres Haushalts­einkommens ausgingen. Besonders prekär ist die Lage für jene 16 %, denen es schwerfällt, mit ihrem Haushaltseinkommen auszukommen. Sowohl dieser Anteil als auch die Gruppen jener, die unter den Auswirkungen der Krise besonders zu leiden haben, hält sich leider auch relativ stabil: Vor allem von Arbeitslosigkeit Betroffene, Mehrkindfamilien und Alleinerziehende sowie jene mit einem geringen Haushalts­einkommen stehen besonders unter Druck.

Sozial­bericht­erstattung hat in Österreich Tradition

Der – endlich wieder erschienene – Sozialbericht 2024 greift nun die sozialen Heraus­forderungen der letzten Jahre auf und liefert ein, auf fundierten Daten beruhendes, umfassendes Bild der Lebens­bedingungen in Österreich.

Die Sozial­bericht­erstattung hat in Österreich eine lange Tradition. Schon vor über 55 Jahren, genauer 1967, erschien der erste Sozialbericht. Regelmäßige, am besten zweijährlich erscheinende, Sozialberichte sind nicht nur als reine Bestand­aufnahme wichtig. Durch ihre Vorlage an politische Entscheidungs­träger:innen können sie dazu beitragen, evidenzbasierte Hinweise für zukünftige, sozialpolitische Weichenstellungen zu liefern. Gerade jetzt, in Zeiten von großen wirtschafts- und sozial­politischen Umwälzungen, ließ der neueste Sozialbericht allerdings etwas auf sich warten. Der letzte Sozialbericht erschien 2019, also vor mittlerweile fünf Jahren. Um diese „Lücke“ etwas zu füllen, veröffentlichte die AK Wien 2023 einen Bericht zur „Sozialen Lage und Sozialpolitik in Österreich 2023“. Die große zeitliche Lücke seit dem Erscheinen des letzten Berichtes macht den Sozialbericht 2024 umso wichtiger. 

Armut und soziale Ausgrenzung: Aktuelle Probleme und Handlungs­bedarf der Sozialpolitik

Der Sozialbericht 2024 widmet sich in einigen Kapiteln den Themen Armut und sozialer Ausgrenzung sowie darauf bezogenen (fehlenden) sozialpolitisch wirksamen Handlungs­möglichkeiten. Im Jahr 2022 waren 14,8 % der Bevölkerung armutsgefährdet; knapp ein Fünftel davon war von manifester Armut betroffen, sprich von einer mehrfachen Ausgrenzungs- oder Armuts­gefährdung. Umgerechnet entspricht das knapp 3,2 % der Bevölkerung. Diese Zahlen rufen zu Antworten seitens der Sozialpolitik auf, denn jede:r dieser 281.000 Menschen in manifester Armut, aber auch der 1,3 Mio. in relativer Armut Lebenden, ist eine:r zu viel. 

Die Kennzahlen zur relativen Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung in Österreich sind über das letzte Jahrzehnt sowie in jüngsten Prognosen der Armutsgefährdungsquote des WIFO weitgehend stabil. Gleichzeitig wird im öffentlichen Diskurs und wissen­schaftlichen Studien von einer Verschlimmerung der Lebens­bedingungen und der absoluten Armut gesprochen. Dies deutet einerseits darauf hin, dass die offiziellen Statistiken das Ausmaß der Heraus­forderungen nicht vollständig erheben, andererseits, dass die österreichische Armutspolitik nur einen Teil des Problems bekämpft. Eine auf diesen Indikatoren aufbauende Politik hätte jedoch eigentlich auch die Aufgabe, bereits die Entstehung von Armut zu verhindern. Effektive Armutspolitik in Zeiten von Krisen muss daher zusätzliche Bericht­erstattungs­instrumente ernst nehmen und entsprechende präventive Maßnahmen und Unterstützungs­angebote umsetzen. Das betrifft beispielsweise die Überschneidung der Armuts- und Ausgrenzungs­gefährdung mit Themen der Wohnkostenbelastung, mehrfacher Gesundheits­einschränkungen von Personen, Langzeitbeschäftigungslosigkeit oder eingeschränkten Erwerbs­tätigkeit durch Pflegetätigkeiten oder Betreuungs­pflichten. 

Beständiger Reichtum und umfassende Umverteilungs­wünsche

Ein weiteres, umfassendes Kapitel im neuen Sozialbericht widmet sich dem Thema des Privateigentums und dem Zugang zu Ressourcen in Österreich. Dass das in privaten Händen konzentrierte Vermögen in Österreich groß und vor allem beständig ist, zeigen die regelmäßigen Erhebungen der OeNB im Rahmen des Household Finance and Consumption Survey (HFCS). Einer neuesten Studie der OeNB zufolge ist das Ausmaß der Konzentration möglicher­weise sogar höher als bisher angenommen: Wenn man die Spitze der Vermögens­verteilung zu den lückenhaften Befragungs­daten hinzuschätzt, könnte das oberste 1 % sogar bis zu 50 % des gesamten Nettovermögens besitzen. 

Die enorme Konzentration des Vermögens wird von der überwiegenden Mehrheit der in Österreich lebenden Menschen als ungerecht erachtet. Über 80 % der Bevölkerung empfinden die Unterschiede zwischen Arm und Reich mittlerweile als zu groß und das Auseinander­driften zwischen Arm und Reich gilt als eine der größten Sorgen der österreichischen Bevölkerung. Dementsprechend wünschen sich die in Österreich lebenden Menschen auch eine gleichere Verteilung des Vermögens: Die untere Hälfte solle zumindest 30 % des gesamten Vermögens halten, tatsächlich liegt der Anteil derzeit bei unter 5 %. Für die obersten 10 % bedeutet die enorme Vermögens­konzentration nicht nur materielle Vorteile, sie geht auch mit einer Macht­konzentration einher. Über­reichtum wird damit auch zu einer Gefahr für den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie.

Vermögen wird immer mehr zum entscheidenden Marker für die Lebens­verhältnisse der Menschen. Einkommen und Vermögen sollten daher zukünftig stets gemeinsam betrachtet werden. Gerade in Zeiten steigender Lebens­erhaltungskosten macht ein (geerbtes) Vermögen oftmals den Unterschied zwischen prekärer und stabiler Lebenslage. Am schwierigsten hat es das „unsichtbare Drittel“, das über wenig Einkommen und wenig Vermögen verfügt. Aber auch in der Mitte der Gesellschaft beeinflusst das Vermögen zunehmend den Lebensstandard. Besonders deutlich wird dies beim Thema „Wohnen“: Hier stehen Eigen­heim­besitzer:innen mit geringeren Wohnkosten, Mieter:innen am privaten Mietmarkt, deren Wohnkosten in den letzten Jahren drastisch gestiegen, gegenüber. 

Ein Sozialstaat für die Zukunft

Der Sozialbericht 2024 ist ein unverzichtbarer Baustein im Bemühen des Sozialministeriums um fortschrittliche Sozialpolitik. Die aufschlussreiche Befragung „So geht´s uns heute“ und das Drängen auf bessere Vermögensdaten bilden weitere aktuelle Beispiele.

In Österreich ist die institutionelle Ausgangsbasis für gerechte Verteilung nach wie vor besser als in anderen EU-Ländern: Der Sozialstaat wurde erfolgreich gegen neoliberale Kürzungs- und Privatisierungs­forderungen verteidigt, der soziale Wohnbau gemeinnütziger und kommunaler Bauträger wurde nicht privatisiert, 98% der Beschäftigten verfügen über einen Kollektivvertrag. Dies macht es leichter, in die sozial­politische Offensive kommen. Der zielgerichtete Ausbau sozialer Leistungen muss Handlungs­auftrag für die nächste Bundesregierung sein. 

Was sind die wichtigsten Handlungs­felder?

  • Trotz der anhaltend guten Umverteilungswirkung des Staates ist der Sozialstaat stark an die Erwerbstätigkeit und daraus abgeleiteten Geldleistungen geknüpft. Gute soziale Dienste für die breite Masse der Erwerbs­tätigen und ihrer Angehörigen sind elementar für ein gutes Leben. Sie müssen um zielgerichtete Maßnahmen zugunsten von besonders Armutsgefährdeten ergänzt werden. Hier hat sich jüngst gezeigt, wie wichtig Maßnahmen wie der „Wohnschirm“, Einmal­zahlungen oder Sozialmärkte sind. Doch dies sind nur abfedernde Maßnahmen, ein armutsfester Sozialstaat muss vielmehr auch die strukturellen Ursachen von Armut angehen und dabei Dienst- und Geldleistungen kontinuierlich anpassen. 
  • Eines muss klar sein: In einem der reichsten Länder der Welt darf es keine manifeste Armut geben, schon gar nicht unter Kindern. Die Maßnahmen liegen auf der Hand: Langzeit­arbeitslose gezielt in gute und gegebenenfalls gemeinnützige Beschäftigung bringen sowie das Arbeitslosen­geld auf armutsfestes Niveau heben. Die Sozialhilfe wieder zur bedarfsorientierten Mindestsicherung erweitern, mit leichterem Zugang und integrativer Ausgestaltung. Unterhalts­vorschuss erhöhen und die besonders armutsgefährdete Gruppe der Ein-Eltern-Haushalte absichern.  
  • Armut ist ein multidimensionales Problem. Ihre erfolgreiche Bekämpfung setzt einen allgemeinen Wohlfahrtsstaat hoher Qualität für die gesamte Bevölkerung voraus: Ein gutes öffentliches Schulsystem, Ganztags­kindergärten und Ganztags­volksschulen nicht nur in den Städten, sondern vor allem auch am Land, mit einem täglichen warmen und gesunden Mittagessen für alle Kinder. 
  • Gute Gesundheits- und Pflege­leistungen ohne Zwei-Klassen-Medizin und bessere Gesundheitsvorsorge etwa durch den Ausbau der community nurses. 
  • Leistbares Wohnen durch eine Offensive im gemeinnützigen Wohnbau, auch im Dorfzentrum als Alternative zu dem ökologisch und finanziell nicht mehr leistbaren Einfamilien­haus am Acker sowie eine Housing-First-Politik gegen Obdachlosigkeit. 
  • Gute Arbeit bleibt ein Kernelement fortschrittlicher Sozialpolitik. Die demografisch bedingte Arbeitskräfte­knappheit ermöglicht höhere Löhne und bessere Arbeits­bedingungen auch für jene, die es am Arbeitsmarkt nicht so leicht haben: Berufseinstieg ohne Erwerbsunterbrechungen und null Jugend­arbeitslosigkeit, Aufstockung der Teilzeitbeschäftigung vor allem von Frauen, Ende der Niedriglohn­beschäftigung. Dafür brauchen wir eine neue Arbeitsmarktpolitik, die Arbeitslose und prekär Beschäftigte in gute Jobs bringt und den Struktur­wandel zu produktiven Arbeitsplätzen mit hohen Einkommen fördert. 
  • Hohe Beschäftigung und gute Einkommen garantieren eine nachhaltige Finanzierung des Sozialstaates: Deutlich höhere Beschäftigungs­quoten für die 60- bis 65-Jährigen und höhere Wochenstunden für Teilzeit­beschäftigte sind notwendig. 
  • Doch die Finanzierung des Sozialstaates kann nicht mehr allein auf den Schultern der arbeitenden Bevölkerung liegen. Das private Vermögen ist 6- bis 8-mal so hoch wie die Arbeits­einkommen und bis zur Hälfte liegt beim reichsten Prozent. Progressive Steuern auf Vermögensbestand, Erbschaft und Kapitaleinkünfte in Kombination mit der Bekämpfung von Steuervermeidung und einer gesellschaftlichen Debatte um Grenzen für Überreichtum sind nötig. Das ermöglicht nicht nur die nachhaltige Finanzierung des Sozialstaates, es ist auch ein Beitrag zu Klima­gerechtigkeit und für die repräsentative Demokratie. Nicht zuletzt deshalb muss auch der nächste Sozial­bericht der kommenden Regierung ein Bericht über Reichtum und Überreichtum sein.   

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