Sozialtaxonomie als Chance zur Stärkung der sozialen Dimension der EU – verläuft das Projekt im Sand?

23. September 2022

Die Europäische Union schuf ein Klassifizierungssystem, das wesentlich zur nachhaltigen Transformation des Finanzsektors beitragen soll, die sogenannte Taxonomie. Angesichts der mangelhaften Einbeziehung sozialer Aspekte droht die soziale Komponente bei nachhaltigen Finanzinvestitionen vernachlässigt zu werden. Als Pendant zur Umwelttaxonomie sollte daher eine Sozialtaxonomie entwickelt werden. Bei ihrer Gestaltung ist darauf zu achten, Chancen für soziale Verbesserungen zu sichern und gleichzeitig nachteilige Effekte zu vermeiden. Der Erfolg hängt von der Glaubwürdigkeit und von der Verhinderung von „Social Washing“ ab. Eine umfassende Einbindung der Vertretung der Arbeitnehmer*innen muss von ihrer Entwicklung bis zu den Kontrollstrukturen gegeben sein.

Das politische Vorhaben, Nachhaltigkeitsziele über den Finanzsektor zu forcieren und Finanzinvestitionen in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten zu lenken, wird durch die steigende Nachfrage nach Finanzprodukten, die sich auf Umwelt, Soziales und Unternehmensführung beziehen (ESG-Kriterien), vorangetrieben. Doch das private Finanzwesen ist kein Zauberstab zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele. Ein kritischer Blick auf die vielfältigen Initiativen ist deshalb umso wichtiger. Die zentrale Rolle spielt die EU-Taxonomie bzw. Umwelttaxonomie, welche ein Klassifizierungssystem für Finanzinvestor*innen und Unternehmen darstellt. In Bezug auf Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel liegen bereits detaillierte Rechtsakte vor. Dabei wirft die Akzeptanz von Gas und Atomenergie als umweltfreundlich – weil CO2-neutral – und damit Taxonomie-konform bereits einen Schatten auf die Umwelttaxonomie.

Sozialer Mindestschutz ≠ soziale Nachhaltigkeit

Darin wird unter anderem festgehalten, dass eine ökologisch nachhaltige Investition auch einem Mindestschutz in den Bereichen Soziales und Unternehmensführung Rechnung tragen muss. Unternehmen sollen ihre Tätigkeiten demnach zum Beispiel mit den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen und den ILO-Kernarbeitsnormen in Einklang bringen. Wie das konkret umzusetzen ist, wird aktuell ausgearbeitet. Es zeichnet sich ab, dass ein enger Zusammenhang mit der kommenden Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (englisch abgekürzt mit CSRD für „Corporate Sustainability Reporting Directive“) sowie der geplanten Richtlinie zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht im Bereich der Nachhaltigkeit hergestellt werden soll. So begrüßenswert ein sozialer Mindestschutz wäre, so kann dieser noch lange nicht mit sozialer Nachhaltigkeit gleichgesetzt werden.

Insgesamt steckt der Bereich der sozialen Nachhaltigkeit noch nicht einmal in den Kinderschuhen. Die Europäische Kommission wurde zwar aufgefordert, bis Ende 2021 einen Bericht zu veröffentlichen. Darin sollen die für die Ausweitung des Anwendungsbereichs der EU-Taxonomie auf „andere Nachhaltigkeitsziele wie soziale Ziele“ erforderlichen Bestimmungen erläutert werden. Der Bericht lässt jedoch bis heute auf sich warten und dürfte weiterhin auf die lange Bank geschoben werden. Dabei liegt mit dem von der Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen verfassten Abschlussbericht zur Sozialtaxonomie seit Februar 2022 ein umfassendes Konzept vor.

Das Konzept zur Sozialtaxonomie der Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen

Die Plattform schlägt für die Sozialtaxonomie eine ähnliche Struktur wie bei der Umwelttaxonomie vor. Drei Hauptziele richten sich an die wesentlichen Stakeholder eines Unternehmens und werden mit Teilzielen ergänzt:

  • menschenwürdige Arbeit in Bezug auf Beschäftigte im Unternehmen und entlang der Wertschöpfungskette mit Teilzielen, wie z. B. Stärkung des sozialen Dialogs und Förderung von Tarifverhandlungen
  • angemessener Lebensstandard in Bezug auf Verbraucher*innen mit Teilzielen, wie z. B. Produktsicherheit, hochwertige Gesundheitsversorgung und Wohnraum
  • inklusive und nachhaltige Gemeinschaften in Bezug auf betroffene Gruppen mit Teilzielen, wie z. B. Gleichheit, integratives Wachstum und tragfähige Existenzgrundlagen

Auch Ziele im Sinne einer nachhaltigen Unternehmensführung, wie zum Beispiel transparente und nicht aggressive Steuerplanung, sollen in die Sozialtaxonomie einfließen. Wie auch bei der Umwelttaxonomie soll neben einem Mindestschutz der „Do No Significant Harm“ (Grundsatz der Vermeidung eines erheblichen Schadens) gelten, sodass durch eine Unternehmenstätigkeit keines der drei Hauptziele erheblich beeinträchtigt wird. Zu kritisieren ist, dass vor allem auf die Tätigkeit abgestellt wird, nicht jedoch auf das Unternehmen insgesamt. Das kann ein Schlupfloch für „Social Washing“ sein. Darunter versteht man, dass die Unternehmensstrukturen und Arbeitsbedingungen nicht dem positiven Bild entsprechen, mit dem das Unternehmen wirbt.

Ein „substanzieller Beitrag“ zu sozialer Nachhaltigkeit sollte erstens vorliegen, wenn die mit der Tätigkeit verbundenen positiven Effekte verstärkt werden. Hier geht es etwa um die Bereiche Wohnen, Gesundheit, Verkehrswesen oder Telekommunikation, deren Angebot eben Voraussetzung für einen angemessenen Lebensstandard ist. Ein „substanzieller Beitrag“ wäre gegeben, wenn dieses Angebot Kriterien wie Verfügbarkeit, Zugangsmöglichkeit, Annehmbarkeit und Qualität entspricht (AAAQ-Konzept: Availability, Accessibility, Acceptability and Quality), während auch keines der drei Hauptziele verletzt wird. Zweitens läge ein „substanzieller Beitrag“ vor, wenn die mit der Tätigkeit verbundenen negativen Auswirkungen auf die drei angeführten Stakeholdergruppen vermieden werden. Dazu würden zum Beispiel die Förderung von Kollektivvertragsverhandlungen oder die Stärkung des sozialen Dialogs zählen. Schließlich sollen auch Tätigkeiten, die grundsätzlich und unter allen Umständen Nachhaltigkeitszielen entgegenstehen und deren Schädlichkeit sich nicht verringern lässt, ausgeschlossen werden. Als Beispiel werden durch internationale Abkommen geächtete Waffen genannt.

Sozialtaxonomie nicht ohne Risiken

Dass die Sozialtaxonomie aus Sicht der Arbeitnehmer*innen auch Risiken birgt, wurde bereits im letzten Absatz deutlich. Die Einschätzungen über ihre tatsächliche Wirkung reichen von vernachlässigbar, da Investitionsentscheidungen vor allem auf Motiven wie Renditesteigerung oder Risikominimierung beruhen würden, bis hin zu konkreten Befürchtungen, dass Nichtkonformität mit der Taxonomie zu schlechteren Finanzierungsbedingungen führt. Obwohl die Taxonomie auf gemeinsamen internationalen Standards beruhen würde und Basis für freiwillige Investitionsentscheidungen wäre, wird aus EU-Perspektive auf die Kompetenz der Mitgliedstaaten bei sozialen Belangen verwiesen, welche durch die Taxonomie nicht geschädigt werden sollen. Besonders ernst muss das Bedenken genommen werden, dass die Taxonomie in die Autonomie der Sozialpartner eingreifen könnte.

Offensichtlich würden Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge einen „substanziellen Beitrag“ darstellen. Das AAAQ-Konzept kann daher sowohl auf öffentliche als auch auf private Angebote angewendet werden, wobei eine Schwächung der öffentlichen Daseinsvorsorge vermieden werden muss. Darüber hinaus spricht einiges dafür, dass die Sozialtaxonomie über ihren grundsätzlichen Anwendungsbereich hinaus als Referenz bei öffentlichen Hilfsprogrammen, Auftragsvergaben oder einer goldenen Regel dient.

Vor allem von Unternehmensseite werden Bedenken geäußert, dass die Sozialtaxonomie zusätzliche komplexe Informationsanforderungen und kostspielige Prüfverfahren zur Folge hätte. Dem ließe sich jedoch begegnen, indem die Überschneidungen mit anderen Berichtspflichten genutzt werden.

Sozialtaxonomie eröffnet Chancen

Die Einigung auf eine gemeinsame Umwelttaxonomie erwies sich bereits als schwierig. Ähnliche Kontroversen sind bei der Sozialtaxonomie zu erwarten. Doch gerade aufgrund unterschiedlicher Zugänge sollte die Frage der sozialen Nachhaltigkeit von Wirtschaftstätigkeiten Gegenstand einer breiten Debatte und demokratischen Entscheidungsfindung sein. Die Sozialtaxonomie könnte einen Schritt auf dem Weg zur Stärkung der sozialen Dimension der EU darstellen. Bei entsprechender Gestaltung hat sie das Potenzial, die sozialen Effekte von Finanzinvestitionen transparent zu machen, Ressourcen auf sozial verantwortliche Aktivitäten und Unternehmen zu lenken, zu einem fairen grünen Übergang beizutragen und gute Arbeitsplätze zu fördern. Der einseitige Fokus im Rahmen des nachhaltigen Finanzwesens auf Umwelt birgt zudem die Gefahr, dass soziale Nachhaltigkeitsaspekte bei Finanzinvestitionen vernachlässigt bleiben.

Bei den ESG-Kriterien herrscht große Unübersichtlichkeit, und insbesondere bei den Kategorien Menschenrechte und Produktsicherheit sind die gemessenen Abweichungen besonders ausgeprägt. Dies öffnet Tür und Tor für Social und GreenWashing, sodass negative Auswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeiten verschleiert und beschönigt werden. Ein wesentlicher Grund und zugleich Ziel für eine Sozialtaxonomie ist daher die Bekämpfung von Social Washing.

Auf die Gestaltung kommt es an!

In diesem Sinne lesen sich die Empfehlungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), die auf die Ausschöpfung des positiven Potenzials der Taxonomie abzielen. So soll mit einfachen und klaren Kriterien und Verfahren begonnen werden. Eine umfassende Einbindung der Sozialpartner, des Verbraucherschutzes und zivilgesellschaftlicher Organisationen an ihrer Ausarbeitung ist zwingend notwendig. Die Zieldefinitionen müssen einer allgemein akzeptierten Definition von Nachhaltigkeit entsprechen, um das Projekt nicht zu gefährden. Zur Vermeidung von Social Washing sollten Beschwerdemechanismen etwa für Gewerkschaften und Betriebsrät*innen vorgesehen werden. Die Sozialtaxonomie sollte einen Goldstandard darstellen, der über die bestehenden Rechtsvorschriften hinausgeht, wobei die Achtung der Menschen- und Arbeitnehmer*innenrechte eine Voraussetzung ist. Die Einhaltung von Kollektivverträgen und Mitbestimmungsverfahren (sowohl auf Unternehmens- als auch auf Konzernebene) sollen dabei einen Eckpfeiler bilden. Die CSRD, die auch soziale Themen und Unternehmensführung berücksichtigt, wäre ein wichtiges Pendant zur Sozialtaxonomie, indem sie für die Verfügbarkeit wesentlicher Daten sorgt, während die Taxonomie eine Bewertung und Einordnung dieser Daten entlang des Kriteriums der sozialen Nachhaltigkeit anbietet.

Insgesamt wäre aus Sicht des EWSA das Gelingen einer gut konzipierten sozialen Taxonomie in vielerlei Hinsicht vorteilhaft: Die steigende Nachfrage nach sozial orientierten Investitionen würde durch die Bereitstellung einer zuverlässigen Taxonomie unterstützt, indem sie ein kohärentes Konzept zur Messung der sozialen Nachhaltigkeit bietet. Weiters ist Transparenz entscheidend für die Effizienz des Kapitalmarktes. Somit könnte die soziale Taxonomie auch zum sozialen Binnenmarkt gemäß Artikel 3 AEUV beitragen. Sie würde faire Wettbewerbsbedingungen fördern und Unternehmen und Organisationen, die einen Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit leisten, sichtbarer machen. Im Zuge einer Initiativstellungnahme fordert der EWSA die Europäische Kommission daher dazu auf, den Bericht zur Sozialtaxonomie endlich vorzulegen.

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