Erstmals seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie verläuft der wirtschaftspolitische Steuerungsprozess in der EU – das sogenannte Europäische Semester – wieder einigermaßen regulär. Dabei zeigt sich, dass progressive Entwicklungen fortgesetzt werden: Der diesjährige Ratsbeschluss für die Eurozone betont etwa in den Empfehlungen soziale und grüne Themen und sieht von einer restriktiven Haushaltspolitik weitgehend ab. Ermöglicht wurden diese positiven Entwicklungen durch die Überwindung der doppelten neoliberalen Neigung des Semesters. Situationsadäquate Entscheidungen sind einer regelgebundenen Politik auch weiterhin vorzuziehen.
Das Europäische Semester als Herzstück der EU-Wirtschaftspolitik
Im Laufe der Eurokrise entschieden die SpitzenpolitikerInnen der EU, dass die Wirtschaftspolitik reformiert werden musste. Da das dominierende Narrativ jenes einer Schuldenkrise war, lag der Fokus auf zwei Aspekten: einerseits strikteren Haushaltsregeln und einer strengeren Überwachung derer; andererseits einer verstärkten Koordinierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik, um divergierende Entwicklungen der Volkswirtschaften zu korrigieren bzw. zu vermeiden. Aufgrund institutioneller Trägheit musste man sich primär im bestehenden institutionellen und rechtlichen Rahmen bewegen. Ein neues Instrument war jedoch das Europäische Semester. In dieses wurden bestehende Instrumente der Lissabon-Strategie integriert, wie etwa länderspezifische Empfehlungen, und mit neuen Elementen bereichert, um mehr Zugkraft zu entwickeln.
Das Semester ist ein jährlicher Zyklus, in dem Mitgliedsstaaten ihre Haushaltsentwürfe und Reformpläne mit der EU-Kommission und dem Rat teilen. In die andere Richtung erhalten die Staaten sowohl länderspezifische Empfehlungen als auch eine Bewertung ihrer Haushaltspläne. Wirtschaftspolitische Reformempfehlungen werden auch an die Eurozone als Ganzes ausgesprochen. Dank einiger rechtlicher Änderungen und verstärkter politischer Aufmerksamkeit wurde das Semester mit der Krise zu einem Kernstück der wirtschaftspolitischen Steuerung.
Die besondere Relevanz des Semesters in der EU-Wirtschaftspolitik ergibt sich aus zwei Gründen. Zum einen kann das Semester als eine weitere Institutionalisierung der Austeritätspolitik betrachtet werden. Der Rahmen für die Haushaltsüberwachung wurde strenger, zum Beispiel durch die Vorlage der Haushaltsentwürfe bei der EU-Kommission, noch bevor sie in nationale Parlamente gelangen. Zum anderen umfasst und kombiniert das Semester eine bis dahin nicht gekannte Breite an Themen. Diese beinhaltet mit Bereichen wie Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auch Angelegenheiten, die traditionell nicht in den Kompetenzbereich der EU fallen. Dieser holistische Ansatz zur Wirtschaftspolitik macht das Semester zum zentralen Steuerungsinstrument.
Neoliberalismus – ein Begriff, viele Bedeutungen
Neoliberalismus ist in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem populären Begriff geworden, sowohl in der Wissenschaft als auch im Alltagsgebrauch. So häufig der Begriff auch verwendet wird, so wenig scheint Einigkeit über dessen Bedeutung zu bestehen.
Ein für mich sinnvoller Ansatz ist, den Neoliberalismus begrifflich von der Wirtschaftstheorie zu lösen und ihn stattdessen als politische und Staatstheorie zu verstehen. Abgesehen von den wirtschaftlichen Ideen des Neoliberalismus liegt der Fokus hierbei auf dem institutionellen Rahmen, der Wirtschaft und Politik organisiert. Ziel des Neoliberalismus ist es, die Wirtschaft von demokratischen Entscheidungsprozessen zu isolieren und den Marktmechanismus in alle Lebensbereiche auszuweiten.
Der Neoliberalismus minimiert dabei nicht den Staat, sondern reformiert Institutionen und Abläufe. Im europäischen Neoliberalismus finden wir drei zusammenhängende Entwicklungen. Erstens wird die politische Macht exekutiver und technokratischer Organe gestärkt. Dies geht meist auf Kosten von Parlamenten und anderen Prozessen oder Institutionen, die direkt gewählt sind oder demokratisch zur Verantwortung gezogen werden können. Zweitens werden politische Entscheidungen von der Bevölkerung entfernt, indem sie auf eine supranationale Regierungsebene gehoben werden. Die Prozesse werden komplexer, für NormalbürgerInnen schwerer verständlich und der Bewegungsspielraum nationaler Politik wird limitiert. Drittens werden hierdurch politische Entscheidungen entpolitisiert. Besonders wirtschaftspolitische Entscheidungen werden als faktenbasiert und ideologieneutral dargestellt und daher an ExpertInnen und TechnokratInnen delegiert. Zu guter Letzt wird dabei der Marktmechanismus zulasten der Politik gestärkt.
Die doppelte neoliberale Neigung des Europäischen Semesters
Im Lichte dieses Verständnisses von Neoliberalismus weist das Europäische Semester eine doppelte neoliberale Neigung in seiner Grundstruktur auf. Erstens werden Entscheidungskompetenzen in Richtung exekutiver und bürokratischer Organe verschoben. Der jährliche Prozess findet primär im Austausch zwischen den Verwaltungsapparaten der Kommission und nationaler Regierungen statt. Zudem behandelt das Semester inzwischen weitreichende politische Themen, es spricht zum Beispiel Maßnahmen der Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Sozial-, Steuer- oder Umweltpolitik an. Somit werden zutiefst politische Themen von BürokratInnen geleitet, und die Grundsatzempfehlungen für politische Reformen werden im Austausch dieser Verwaltungsorgane festgelegt.
Zwar kann das EU-Parlament seine Meinung abgeben, nationale Parlamente müssen nationale Politik absegnen, und der Rat (mit nationalen PolitikerInnen) besitzt finale Entscheidungsgewalt. Aber es muss bedacht werden: Das EU-Parlament hat im Semester kaum Kompetenzen; nationale Parlamente sind im Semester nicht aktiv involviert und müssen dann innerhalb der vorgegebenen Regeln und Empfehlungen arbeiten; die zugrunde liegende Arbeit im Rat wird von BürokratInnen durchgeführt, zudem ist er als Institution nicht demokratisch abwählbar oder rechenschaftspflichtig. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass die Kommission nun Haushaltsentwürfe von nationalen Parlamenten begutachtet – ein klarer Einschnitt in die Budgethoheit der Parlamente.
Die zweite Neigung liegt inhaltlich vor. Einerseits sind die rechtliche Grundlage auf EU-Ebene die Haushaltsregeln. Diese können zwar weniger streng angewandt werden, sie bleiben aber das gesetzliche Fundament. Andererseits zeigt das Semester inhaltlich eine grundlegende neoliberale Wettbewerbslogik anstelle von Kooperation, die auf alle Lebens- und Politikbereiche angewandt wird.
Das Europäische Semester in Österreich
Diese doppelte neoliberale Neigung des Semesters ließ sich auch in Österreich beobachten. Ebenso jedoch auch die Grenzen des Einflusses und die progressiven Fortschritte des Semesters.
In den ersten Jahren des Semesters waren die Empfehlungen für Österreich von strenger Austeritätspolitik geprägt. Die SPÖ-ÖVP-Regierung setzte diese mit Sparpaketen und der Institutionalisierung des österreichischen Stabilitätspakts auch um. Die Kommission agierte zu dieser Zeit vorwiegend hierarchisch, mit sehr geringer Einbeziehung der Sozialpartner. Es blieb wenig Raum für demokratische Opposition zur Austerität, und soziale Themen waren der Sparpolitik klar untergeordnet. Es zeigte sich aber auch, dass der Einfluss durch das Semester nur dann wirklich Gewicht bekam, wenn ein Land in ein Defizitverfahren fiel oder drohte in ein solches zu fallen.
Die Struktur des Semesters, gemeinsam mit der institutionalisierten Austeritätspolitik, stärkte die Position der Exekutive in Österreich, also das Kanzleramt und das Finanzministerium. Das Kanzleramt koordiniert den Semesterprozess in Österreich, während das Finanzministerium aufgrund seiner Rolle in der Haushaltspolitik stark an Macht gewann. Geschwächt worden sind in diesem Prozess das Parlament und die Parteien, da der Regel- und Leitrahmen ihrer Politik noch enger geworden ist, sie an deren Entwicklung aber kaum mitwirkten. Gleiches gilt auch für die Sozialpartner, jedoch mit einer Einschränkung: Die Sozialpartner wurden von der Kommission zunehmend in den Prozess involviert, auch wenn diese Einbeziehung qualitativ wohl nicht immer wirksam ist.
Inhaltlich wurde die Austerität in der Folge gelockert, die Grundtendenz marktfördernder Empfehlungen aber beibehalten. So wurde etwa Pensionspolitik primär durch die Augen neoliberaler Kosteneffizienz betrachtet oder Bildungspolitik durch den Blickwinkel der Ausbildung von Humankapital. Innerhalb dieser zugrunde liegenden neoliberalen Logik müssen dann natürlich auch die VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen agieren, wenn sie beteiligt werden.
„Politisierung“ des Semesters und Fortschritte
Das Semester hat jedoch in den letzten Jahren eine gewisse Wandlung vollzogen, die vorwiegend auf eine Abkehr regelgebundener Politik zugunsten diskretionärer Entscheidungen zu beruhen scheint, also eine „Politisierung“ des Europäischen Semesters. Thematisch konnte man beobachten, dass die Haushaltsregeln zunehmend weniger im Fokus standen. Dieses Jahr erhielt Österreich sogar die Empfehlung, temporär auf expansive Haushaltspolitik zu setzen. Zudem gewannen soziale und ganz besonders grüne Themen an Prominenz innerhalb des Semesters. Waren Umweltfragen in den ersten Jahren noch völlig abwesend, sind sie nun eines der Kernthemen.
Strukturell gestaltet sich das Semester inzwischen wesentlich offener und koordinativer als noch zuvor. Die Kommission begann besonders unter Präsident Juncker eine stärkere Einbeziehung der Sozialpartner und auch zivilgesellschaftlicher Organisationen. Auch wenn diese Einbindung von den Beteiligten nicht immer als qualitativ einflussreich wahrgenommen wird, findet hier doch eine klare Politisierung des Prozesses statt.
Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein und die internen Abläufe der Kommission schwierig zu analysieren. Die am Semester beteiligten Personen in Österreich – inklusive VertreterInnen der Kommission – sprechen aber von einem Lernprozess der Kommission, der auch durch politischen Druck angestoßen wurde. Hier darf die Arbeit der Sozialpartner und Zivilgesellschaft nicht unterschätzt werden, die sich des Semesters aktiv angenommen und für eine Politisierung des Prozesses gekämpft haben.
Verbleibende Probleme der Legitimation und Notwendigkeit weiterer Politisierung
Das Europäische Semester hat im Jahrzehnt seines Bestehens sein Angesicht gewandelt und ist von einem rein bürokratischen Instrument neoliberaler Austeritätspolitik zu einem offeneren Koordinationsinstrument geworden. Diese positive Entwicklung muss gewürdigt, aber auch kritisch hinterfragt werden. Zum einen ist die rechtliche Grundlage des Semesters nach wie vor die Haushaltspolitik, und auch in den aktuellen Empfehlungen findet sich bereits die Vorschau auf eine mögliche Rückkehr zur restriktiven Haushaltspolitik spätestens ab 2024. Zum anderen hat das Semester seine grundlegend neoliberale Logik nicht abgelegt und wendet diese auch auf Themen wie Nachhaltigkeit an. Zu guter Letzt ist der Prozess trotz der Öffnung noch immer exekutiv dominiert und leidet darunter, dass jene Politikbereiche, in denen etwa Sozialpartner stärker involviert werden, kaum Legitimation auf EU-Ebene haben. Den Mitgliedsstaaten sind die Kompetenzen der EU bewusst, und Empfehlungen, die keine strenge Regelgrundlage auf EU-Ebene haben, fallen häufig unter den Teppich.
Somit leidet das Semester an einem demokratiepolitischen Problem. Verlässt es den Bereich der Fiskalregeln und fokussiert sich stärker auf Sozial- und Umweltpolitik, fehlen die direkte Kompetenzgrundlage und die demokratischen Legitimationsmechanismen. Daher muss es ein wichtiges Anliegen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner bleiben, auf einen breiten demokratischen Diskurs und diskretionäre Entscheidungen zu pochen. Denn die direkten demokratischen Legitimationsmechanismen mögen auf europäischer Ebene fehlen, aber breite gesellschaftliche Beteiligung würde die Verhandlungsposition und Legitimation des EU-Parlaments und nationaler Parlamente weiter stärken.
Dieser Blog-Beitrag basiert auf der Dissertation „Authoritarian Neoliberalism in the European Semester – The case of Austria under the grand coalition“, die in Kürze online verfügbar sein wird.